«Betroffene verlieren ihr Selbstbewusstsein» - demenzjournal.com

Ethik

«Betroffene verlieren ihr Selbstbewusstsein»

«Manche Betroffene haben grosse Angst, nach einem positiven Test stigmatisiert zu werden», sagt Silke Schicktanz. Bild Vincent Leifer

Die Biologin und Ethikerin Silke Schicktanz steht dem Einsatz des neuen Alzheimer-Bluttests kritisch gegenüber. Sie findet, das Recht auf Nicht-Wissen müsse geschützt bleiben.

alzheimer.ch: Welche Probleme sehen Sie in den Bluttests?

Silke Schicktanz: Den klinischen Nutzen sehe ich kritisch, weil wir noch keine Therapie haben. Bevor man solche Tests frei verfügbar macht, muss man sich genau überlegen, was das Ergebnis bei der Person auslösen kann – wenn sie es überhaupt versteht. Nur wenige Ärzte können leider klar und verständlich erklären, was ein «erhöhtes Risiko» im konkreten Fall bedeutet.

Wenn die Person es versteht, kann sie das psychisch enorm belasten.

Aus unseren Interview-Studien mit Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung wissen wir, dass sie unterschiedliche Meinungen haben, ob sie so einen Test machen lassen würden oder nicht. Manche haben grosse Angst, stigmatisiert zu werden.

Der Partner traut dem Betroffenen nichts mehr zu – sei es sich um finanzielle Themen zu kümmern oder ein Familienfest zu organisieren – denn «er könne sich ja eh nichts mehr merken.» Der Partner denkt «Das mache ich lieber selbst» – so verliert der Betroffene sein Selbstbewusstsein. Manche könnten auch depressiv werden. Das wäre eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Was meinen Sie damit?

Wenn der Betroffene erfährt, er bekomme mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Demenz, meint er bei bestimmten Zeichen, er habe schon eindeutige Vorzeichen von Demenz. Es ist jedoch zum Beispiel normal, dass einem manchmal etwas nicht einfällt, etwa der Name der Nachbarin oder was man einkaufen wollte.

Die Betroffenen meinen dann aber, das seien schon Zeichen ihrer Demenz. Manche werden unsicher und lassen etwas fallen und denken «Ach, das ist meine Demenz, die hat jetzt schon angefangen.»

Sehen Sie nichts Positives an den Bluttests?

Die Mitteilung, dass man mit hohem Risiko an Alzheimer erkranken wird, kann einen dazu motivieren, seinen Lebensstil zu ändern. Denn das ist die einzige Massnahme, von der wir wissen, dass es möglicherweise das Risiko etwas senken kann.

Es kann auch ein Motivationsschub sein, eine Patientenverfügung zu schreiben.

Natürlich weiss jeder, dass er irgendwann im Alter krank werden könnte. Aber nur rund jeder fünfte kümmert sich darum, was er in kritischen Situationen möchte. Kennt man sein erhöhtes Risiko für Alzheimer, könnte man einiges konkreter festlegen in der Patientenverfügung, zum Beispiel wer die Vollmacht für einen übernehmen soll, wenn die kognitive Funktion nachlässt.

Wie kommuniziert man als Arzt das Risiko?

Die erste Botschaft ist: Das Ergebnis gibt eine Wahrscheinlichkeit an, es besteht immer noch die Möglichkeit, dass man die Krankheit nicht bekommt. Zweitens müsste man versuchen, mit konkreten Zahlen zu arbeiten. Also etwa «von 1000 Leuten mit positivem Test bekommen später 99 Alzheimer» – das ist natürlich nur ein Beispiel.

Man müsste dem Patienten auch erklären, wie hoch der falsch-positive und der falsch-negative Wert sind beziehungsweise was das überhaupt bedeutet. Der Patient sollte auch wissen, dass eine Demenz unterschiedlich verlaufen kann, bei manchen sehr langsam, bei manchen schneller, und man sollte ihm erklären, was für Möglichkeiten von Pflege und Versorgung es gibt. Man sollte versuchen, den Patienten zu beruhigen und Zuversicht vermitteln.

Wie finden Sie es, solche Tests den Patienten anzubieten?

Für klinische Studien halte ich es für eine gute Idee, denn der Test – wenn er denn eine hohe Aussagekraft hat – ist allemal verträglicher als PET oder Liquor-Untersuchung. Auch für die Differentialdiagnose kann sich der Test eignen.

Aber als generelles Screening-Instrument finde ich so einen Test fahrlässig – wir haben ja noch keine Therapie.

Das Recht auf Nicht-Wissen muss auf jeden Fall geschützt bleiben. Wenn man den Test dennoch auf freiwilliger Basis anbietet, muss eine gute Beratung gewährleistet sein, und zwar völlig unabhängig von den Entwicklern der Tests – sei es weil jemand damit etwas verdienen oder weil er mit seiner Forschung vorankommen möchte.

Ob aber solche Bluttests jetzt schon auf den Markt sollen, halte ich für voreilig entschieden, da die Testgüte nicht gesichert ist und die Rahmenbedingungen guter Beratung derzeit fehlen.

Müssten die Politiker solche Bluttests besser kontrollieren?

Ja, auf jeden Fall. Das, was für Gentests gilt, muss auch für solche prädiktiven Tests gelten. Die Frage, ob ich wissen will, was für Krankheiten ich in den nächsten Jahren bekommen werde, ist eine höchst persönliche Entscheidung, die viele Konsequenzen hat und das Ergebnis darf nicht in die falschen Hände geraten – etwa von Versicherungen. Mit unserem Projekt Prädiadem versuchen wir, die Politiker darauf aufmerksam zu machen.


Prof. Dr. rer. nat. Silke Schicktanz ist Professorin für Kultur und Ethik der Biomedizin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen.

→ Hier geht es zum Artikel über den neuen Bluttest