«Die Kamera hält Thomas auf der Welt» - demenzjournal.com

Film «Dear Memories»

«Die Kamera hält Thomas auf der Welt»

Thomas Hoepker fotografiert die Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexico. PD

Thomas Hoepker (86) hat durch Alzheimer viele Erinnerungen und Worte verloren. Dies hindert ihn nicht daran, weiterhin täglich hunderte von Fotos zu machen. Nahuel Lopez begleitete den weltberühmten Fotografen mit der Filmkamera auf seiner letzten grossen Reise durch die USA.

In den frühen 1960er-Jahren begann Thomas Hoepker seine Karriere als Reportagefotograf. 1963 reiste er im Auftrag des deutschen Magazins Kristall erstmals durch die USA. Später arbeitete er unter anderem für den Stern und Geo. 1976 zog Hoepker nach New York, 1989 wurde er Mitglied der Agentur Magnum, von 2003 bis 2007 war er ihr Präsident. 

Hoepker erhielt zahlreiche Auszeichnungen, seine Fotos von Muhammad Ali, Andy Warhol, vom 9/11 und aus der amerikanischen Provinz gingen um die Welt. 2017 erhielt Hoepker die Diagnose «Alzheimer». 2020 erfüllte ihm seine Frau Christine Kruchen den Wunsch, nochmals auf eine längere Reise durch die USA zu gehen. 

Zusammen mit dem kleinen Filmteam um den Regisseur Nahuel Lopez reisten Hoepker und Kruchen mit dem Wohnmobil von New York nach San Francisco. Der daraus entstandene Film «Dear Memories» läuft ab dem 30. Juni 2022 in den Kinos. alzheimer.ch traf Nahuel Lopez anlässlich der Vorpremiere in Zürich zum Interview.

alzheimer.ch: Du hast den Film «Dear Memories» im Herbst 2020 gedreht. Wie geht es Thomas Hoepker heute? 

Nahuel Lopez: Er ist relativ stabil. Als ich ihn kennenlernte, war er recht gut drauf. Während unserer Reise hatte er einen Einbruch, und seine Frau Christine Kruchen sagte: «Es wird nun doch nichts mit dem Film». Dann fing er sich, und sein Zustand hat sich seit da nicht wesentlich verschlechtert.

Er fotografiert also noch…

Ja. Er hat gute und schlechte Tage. Man weiss nie, in welchem Zustand er aufwacht. Ich finde aber, er hält sich gut. Er hat eine naturgegebene innere Stabilität, die ihm hilft, die Erkrankung zu tragen.

Oft fallen Menschen mit Demenz in eine Depression und trauen sich nichts mehr zu. Thomas und Christine hingegen gehen raus und unternehmen etwas. Am Anfang des Films hört man Christine sagen: «Er ist sehr vergesslich geworden, manchmal ist er sehr abwesend. Aber das ist nicht von Belang.»

Es ist schon von Belang für sie. Christine wusste nicht so recht, ob wir diesen Film machen können. Es war ja auch nicht bekannt, dass Thomas Alzheimer hat. Nur die besten Freunde und Kollegen wussten es. Ich wusste es anfangs auch nicht.

Thomas Hoepker und seine Frau Christine Kruchen reisten mit dem Wohnmobil von der Ostküste an die Westküste.PD

Wirklich?

Ich wollte einen Film machen über seine Arbeit, und nicht über Alzheimer. Nach einer ersten Absage lud mich Christine ein zu einem Frühstück in Berlin. Da sass Thomas an diesem Tisch, fotografierte ständig und machte seine Spässchen. Man spürte schon etwas, aber er hätte auch ein ganz ruhiger Zeitgenosse sein können, der lieber fotografiert und seine Frau sprechen lässt.

Viele Fotografen sind nicht so gesprächig.

Genau. Ich unterhielt mich mit Christine darüber, welche Ansätze ich als Filmemacher habe. Wir fanden viele Gemeinsamkeiten, und am Ende sagte sie: «Wir können uns vorstellen, den Film mit dir zu machen. Du musst aber eines wissen: Thomas hat Alzheimer.». 

Vielseitiger Nahuel Lopez

Nahuel Lopez (44, Hamburg) lernte Werbekaufmann und studierte Politikwissenschaften. Er schrieb unter anderem für den Springer Verlag und die FAZ. Er war Redakteur der ARD-Sendung «Beckmann» und Redaktionsleiter bei «Markus Lanz». Danach realisierte er mehrere Dokumentarfilme als Regisseur und Drehbuchautor. 

Da warst du wohl sehr überrascht…

Ich dachte: Mist, ich will keinen Alzheimer-Film machen. Mein Opa hatte Alzheimer, ich kenne diese Erkrankung. Es gibt tolle Filme und Bücher über Alzheimer. In der nächsten Sekunde kam mir der Gedanke:

Der Mann, der mit seiner Kamera kulturelles Gedächtnis geschaffen hat, verliert jetzt sein eigenes Gedächtnis.

Das Thema «Erinnerung» als Kitt zwischen Krankheit und seinem Dasein als Fotografen: So bekam das Projekt für mich eine Metaebene. Ich wollte zeigen, was die Fotografie mit seiner Erinnerung macht und wie die Fotografie ihn durch diese Krankheit trägt.

Nahuel Lopezgranvistamedia

Reisen mit einem Menschen mit Demenz ist nicht immer einfach. Welche Auswirkungen hatte dies?

Am ersten Drehtag waren wir in Göttingen beim Verleger Gerhard Steidl, der ein Buch mit Thomas machen wollte. Nach dem Dreh ging Thomas in der Druckerei herum und besah die Geräte.

Plötzlich war er weg. Wir fanden ihn nicht, die Suche wurde immer grösser, und wir gingen auf die Strasse, auch dort war er nicht. Ich dachte: Das fängt ja gut an!

Nicht auszudenken, was in einer US-Grossstadt passieren könnte…

Mir wurde da erst bewusst, was es heisst, mit ihm zu Reisen. Schliesslich stand er einfach im Hof des Verlagsgebäudes und wunderte sich über unsere Aufregung. Die Rollenverteilung war von da an klar: Jeder passt auf ihn auf. Thomas konnte während der Reise zwar hingehen, wo er wollte. Aber es war immer jemand dabei.

Christine war erleichtert, dass wir sie unterstützten. So konnte sie auch mal einen Tag allein etwas unternehmen. Ich ging oft mit Thomas fotografieren und fand das ein grosses Privileg. Ich bewundere Christine sehr dafür, wie sie das alles schafft. Es ist eine grosse Herausforderung.

Quelle YouTube

Dein Film zeigt viele starke Bilder – manchmal sind sie atemberaubend schön, manchmal skurril, manchmal deprimierend. Wer hat entschieden, wohin ihr geht und wo ihr mehr oder weniger Zeit verbringt? Da ist zum Beispiel dieses Haus, das mit der US-Flagge bemalt ist und vor dem zwei ausgeleierte Fauteuils stehen…

In diesem Fall kam Christine darauf. Ich war da gar nicht dabei, weil ich vom anderen Wohnmobil aus mit einer Drohne filmte. Christine weiss, was gute Motive sind. Thomas und ich erkennen sie auch. Wobei Thomas ganz Ehemann war: Wenn ihm Christine ein Motiv vorschlug, fand er es meist nicht gut. Sie musste ihn immer wieder überzeugen.

Der eine oder andere Demenz-Experte könnte bemängeln, dass Christine ihn zu sehr bevormundet. Sie stellt ihm auch immer wieder Fragen, die er nicht beantworten kann.

Jeder braucht eine andere Führung und Betreuung. Jeder findet seinen Weg, es gibt keine Patentrezepte. Ich glaube, dass die Beziehung der beiden schon vor Thomas’ Erkrankung so war. Sie war schon immer die Resolutere, während er eher als Hanns Guck-in-die-Luft durch die Welt ging.

Von hier aus schoss Hoepker 2001 sein berühmtes Foto von den brennenden Twin Towers.PD

Was hast du auf der Reise von Thomas gelernt?

Am meisten beeindruckt hat mich, wie offen und unvoreingenommen Thomas auf die Menschen zugeht. Er hat dieses Glück, dass er noch immer klischeefrei in ein Land, in einen Moment und in eine Begegnung hineingehen kann. Wenn du diese Gabe nicht hast, kommst du nicht an die Seele der Menschen.

Ein anderer berühmter Magnum-Fotograf, Henri Cartier-Bresson, ging komplett anders vor. Er tarnte sich und seine Kamera gerne. Viele Menschen sind ja nicht mehr sich selber, sobald sie eine Kamera sehen…

Thomas kann das einfach mit seiner Art und seinem Humor – bis heute. Die Kamera hat jetzt für ihn eine weitere Bedeutung erhalten: Sie hält ihn auf der Welt. Sie ist für ihn ein ganz wichtiges Vehikel, um dabei zu bleiben, um jemand zu sein.

Auch hier geht es mit dem Wohnmobil auf eine letzte Reise:

Filmtipp

Ein lustvoller Abschied

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Er hält sich an der Kamera fest…

Ja, er nimmt sie sogar mit auf die Toilette. Er sagt: «Sie ist mein Gerät». Er hat seine Sprache verloren, er hat seine Erinnerung verloren. Dank der Kamera bleibt er in Kontakt mit den Menschen. Dazu habe ich eine Anekdote: Ich war einmal auf dem Jahrestreffen der Magnum-Fotografen.

Abends gab es eine Party mit Freunden und Familien. Jeder Fotograf trug da ein bis zwei Kameras auf sich. Weil sie nicht besonders gut sind im Smalltalk, haben sie sich gegenseitig fotografiert. Diese weltberühmten Fotografen nahmen gar nicht teil an dieser Party, sie fotografierten nur. Insofern ist das Verhalten von Thomas nicht ungewöhnlich.

3 x 2 Kino-Eintritte zu Gewinnen

alzheimer.ch vergibt 3 x 2 Kinoeintritte zum Film «Dear Memories» (nur unter der Woche in der Schweiz gültig). Wettbewerbsfrage: Womit reisen Thomas Hoepker und seine Frau Christine Kruchen im Film «Dear Memories» quer durch die USA? Schreiben Sie die Lösung mit ihrer Postadresse in einer E-Mail bis am 2. Juli 2022 an: info@alzheimer.ch. Unter den Einsendern mit der richtigen Antwort verlosen wir die drei Gewinner.

Als Thomas noch gesund war, sagte er, er sei ein Bilderfabrikant, kein Künstler. Er erreiche die Qualität seiner Arbeit, indem er nur ein Bild von hunderten verwende. Wie trifft er heute seine Auswahl?

Man kann ihm zusehen, wie er die Bilder am Laptop löscht. Damit löscht er auch seine Erinnerungen. Es ist für ihn zu einem Hobby geworden. Er fotografiert den ganzen Tag und setzt sich dann an den Laptop. Er kommt in einen meditativen Zustand, wenn er seine Bilder löscht, er kultiviert das.

Er zeigt damit, dass er noch immer weiss, was ein gutes Bild ist. Das Problem dabei ist: Er löscht alle Bilder, auch die guten. Christine weiss das, und sie macht deshalb einen extra Ordner. 

Thomas Hoepker dokumentierte mit Auge und Kamera die Weltgeschichte.PD

Wie sind seine Bilder von der Reise geworden? Man sieht sie im Film kaum…

Wir haben versucht, sie im Film zu zeigen. Es wirkte aber komisch, wenn man das gleiche Motiv auf einem Foto sieht, das man vorher im Film gesehen hat. Wir haben daher nur im Abspann ein paar seiner Bilder drin. Und es gibt ja das Buch «The Way It Was» von Gerhard Steidl, in dem die Fotos seiner ersten und letzten Reise durch die USA zu sehen sind.

Die USA sind ein zerrissenes Land. Diese Risse und Gegensätze interessierten ja Thomas schon in den 1960er-Jahren. Wie erlebtest du das Land und seine Menschen?

Ich war vorher in den Metropolen der USA gewesen. Ich war sehr überrascht, wie kaputt, arm, verzweifelt und abgekoppelt das Land zwischen den Metropolen ist. Ich kann verstehen, dass sich die Menschen dort nicht mehr repräsentiert fühlen von einer gewissen Gruppe von Politikern, und dass sie jemanden wie Trump wählen.

Cover des neuen Fotobuches.PD

Man sieht, wie schwierig es sein muss, dieses Land zusammenzuhalten und wie gross die Herausforderungen sind. Corona wirkte wie ein Destillat, weil die Touristen ausgeblieben waren. In Memphis sahen wir fast nur Obdachlose und Junkies, viele sahen aus wie Zombies. Da willst du eigentlich nur noch weg. In Las Vegas war es auch so. 

Einen Film über einen Menschen mit Demenz zu machen ist eine Gratwanderung. Ich finde, ihr seid subtil und empathisch vorgegangen. Wir sehen Poesie satt Effekthascherei, Empathie statt Blossstellung – ohne Kitsch und Oberflächlichkeit.

Wir haben eine andere Perspektive, weil Thomas in diesem Film nicht nur der Alzheimerkranke ist. Im Film ist das schwieriger zu erreichen als in der Literatur. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist – ein Film ist ja immer nur ein Versuch.

Wie hat Thomas auf den Film reagiert?

Am Ende der Reise, in San Francisco, organisierte ich mit dem Team und mit Christine und Thomas ein kleines Abschlussessen. Christine sagte, sie freue sich wahnsinnig auf den Film.

Da schaute Thomas sie an und fragte: «Welchen Film?». Er hatte die zehn Wochen reisen und drehen schon wieder vergessen.

Später lud ich Thomas und Christine ein zu einer Vorführung auf Grossleinwand. Während der Vorführung sah ich Thomas’ Gesicht nicht. Aber danach war er völlig durcheinander. Er fragte, was das für eine Reise gewesen sei und warum er da so gross auf der Leinwand zu sehen sei.

Christine bat dann um einen Link, damit sie den Film mit Thomas nochmals anschauen und er ihn besser einordnen konnte. Sie haben dann den Film sechs oder sieben Mal geschaut, und das hat ihn etwas beruhigt.

> Hier geht’s zum Buch «The way it was» mit Fotos von Thomas Hoepkers ersten und letzten Reise durch die USA