Zuhause mit Demenz: Wie man Konflikte meistert und die Lebensqualität verbessert - demenzjournal.com

Buchtipp

Zuhause mit Demenz: Wie man Konflikte meistert und die Lebensqualität verbessert

Kleine Ausflüge statt überfordernde Reisen: Im Alltag mit Demenz ist es wichtig, nicht zu viel zu wollen und auf die Ressourcen des Betroffenen achtzugeben. Weniger ist hier oft mehr. Véronique Hoegger

Nach seinem Bestseller «Dement, aber nicht bescheuert» legt Demenzpionier Michael Schmieder ein Nachfolgewerk vor: «Dement, aber nicht vergessen» erklärt, was Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen helfen kann.

Als Michael Schmieder 1985 zum ersten Mal das Heim in Wetzikon besucht, stehen die Bewohnerinnen stumm und reglos hinter dem mannshohen Zaun. Damals ist das Gebäude noch eine triste Anstalt für psychisch kranke Frauen. Doch dann übernimmt Schmieder als Heimleiter das Ruder und macht die Sonnweid zu einem international führenden Demenzzentrum. Seine Erfahrungen teilt er in seinem vielbeachteten Buch «Dement, aber nicht bescheuert».

Nun ist das Nachfolgewerk erschienen: In «Dement, aber nicht vergessen» gibt Michael Schmieder acht Empfehlungen, was Menschen mit Demenz guttut und wie Betreuende mit der Erkrankung umgehen können. Wir haben den Autor auf einen Kaffee getroffen.

In deinem ersten Buch «Dement, aber nicht bescheuert» erzählst du aus deinem Erleben als Heimleiter. Worum geht es diesmal?

Michael Schmieder: 80 Prozent aller Menschen mit Demenz leben nicht im Heim, sondern zuhause. In «Dement, aber nicht vergessen» nehme ich diesen Bereich in den Blick: vom Symptombeginn über Aspekte im Leben mit Demenz bis hin zu Themen wie Tod und Sterbehilfe. Dabei gehe ich auch auf die Frage ein, was sich in Spitälern, Pflegeheimen und Quartieren ändern muss, damit Betroffene wie Angehörige eine gute Lebensqualität haben.

Demenz treibt Betroffene und Angehörige oft an die Grenzen der Belastbarkeit. Da wünscht man sich womöglich jemanden, der einem sagt, was man tun soll. Machst du das mit deinem Buch?

Natürlich möchte ich sagen: Hol dir rechtzeitig Hilfe! Aber damit ist es nicht getan. Die Frage ist: Was steckt dahinter? Warum eskaliert eine Situation? Was hindert Angehörige daran, Hilfe in Anspruch zu nehmen? Oft hat das gar nicht mit der Demenz zu tun, sondern mit Beziehung.

Wir sind in unseren Mustern gefangen. Gerade in Ehesituationen ist es schwierig, über lange Zeit geprägtes Verhalten zu überdenken und zu ändern.

Aber es geht. Die realen – natürlich anonymisierten – Beispiele im Buch zeigen, was bestimmten Reaktionen zugrunde liegt, wie man sich Hilfe holen oder eine schwierige Situation auflösen kann. «Dement, aber nicht vergessen» ist kein Rezeptbuch, aber ein Leitfaden.

«Dement, aber nicht vergessen» ist am 1. September 2022 bei Ullstein erschienen.

Du schreibst du nicht nur als Heimleiter, sondern auch als Angehöriger. Deine Schwiegermutter Rosmarie hatte Lewy Body Demenz. Hattet ihr, deine Frau Monika und du, einen Profi-Vorteil?

Auch in diesem Rollenkonflikt ist man primär Angehöriger. Ich als Schwiegersohn hatte mehr Distanz als meine Frau. Aber wir haben mit denselben Fragen gerungen wie andere. Zum Beispiel mit der Frage, wann es Zeit für den Heimeintritt war.

Ein Teil von uns wollte Rosmarie zuhause behalten. Beruflich aber haben wir die Erfahrung gemacht, dass niemand zu früh ins Heim kommt. Wer ein erkranktes Familienmitglied daheim betreuen möchte, muss sich fragen, unter welchen Umständen das möglich ist und warum man das möchte.

Du zeigst mit Anekdoten oder Rollenspielen, wie man mit Alltagssituationen umgehen kann. Oft sind es Kleinigkeiten, an denen sich Konflikte entzünden.

Zum Beispiel, wenn der demenzkranke Ehemann spontan zu einem Spaziergang aufbrechen will, obwohl es Winter ist und er keinen Mantel trägt – und er lässt sich partout nicht umstimmen. Wenn die Ehefrau ihn jetzt zurückhält, kann das aus dem Ruder laufen.

Was könnte sie stattdessen tun?

Mitgehen. Und wenn er trotz Kälte keinen Mantel anziehen will, muss sie abwägen, wie viel Gefahr dadurch tatsächlich droht. Anstatt zu sagen «Warte!», könnte sie reagieren mit «Warum gehst du?» und «Ich komme mit!».

Daran erkennt man auch die Qualität von Pflegeheimen. Es ist wichtig, etwas über das Krankheitsbild zu wissen. Als Betreuender muss man verstehen, warum jemand eine andere Sicht hat als ich, warum jemand so handelt. Wenn ich nachts aufstehe und mich auf den Weg zur Arbeit mache, weil ich mich für 40 halte, bringt es nichts, wenn mich ein Mann im weißen Kittel aufhält und sagt: «Sie müssen nicht arbeiten gehen, Sie sind ja schon 80!»

Michael Schmieder: «Auf die Beziehung kommt es an.» Daniel Hager

Ich habe immer wieder erlebt, dass in Heimen orientiert und beschwichtigt wird: «Sie sind doch jetzt bei uns, Herr S!», «Seien Sie doch ein bisschen lieb!». Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, kann ich mich nicht orientieren – und das macht Angst. Diese Binsenwahrheit hat mit Demenz nichts zu tun. Und darum geht es mir:

Wir müssen den Menschen in seinem Erleben verstehen, und nicht die Krankheit.

Eine einfache Sache.

Für viele zu einfach. Das Einfache, Normale wird oft nicht verstanden. Besonders wenn es zur Folge hat, dass man sein Handeln überdenken muss. Deshalb waren Validationskurse am Campus Sonnweid so schwer zu belegen: Bei Validation muss man sich auf eine andere Sicht einlassen.

Michael Schmieder über den Kosmos seiner Schwiegermutter

Letzte Momente

Rosmarie in der Oase mit Mango-Eis

Rosmarie ist 85 und meine Schwiegermutter. Sie hat eine Lewy-Body-Demenz und lebt in der Pflegeoase des Demenzzentrums Sonnweid. Einblicke in einen besonderen Kosmos. weiterlesen

A propos schwierig: Welches Thema hat dich beim Schreiben besonders gefordert?

Besonders nahe gegangen ist mir der Leidensweg eines zehnjährigen Mädchens, das acht Jahre lang die Ausbrüche seiner Mutter ertragen musste. Die Mutter hatte eine unerkannte Demenz. Sie fühlte sich minderwertig, weil sie Fehler machte, und reagierte aggressiv gegenüber ihrem Mann und den vier Kindern. Die Zehnjährige bekam das am stärksten zu spüren.

Trotzdem behielt der Vater die Mutter zuhause. Erst als sie Pflege brauchte, liess er sich überzeugen, dass sie in einem Heim besser aufgehoben war. Für die Tochter kam dieser Schritt fast zu spät. Sie hatte Schule und Lehre abgebrochen und hatte begonnen, sich zu ritzen.

Aus deiner Sicht als ehemaliger Heimleiter: Ab wann ist es nicht mehr möglich, eine erkrankte Angehörige zuhause zu pflegen?

Das kommt auf die Diagnose an. Menschen mit Frontotemporaler Demenz übersiedeln schneller in ein Heim, weil dieses Krankheitsbild für pflegende Angehörige besonders herausfordernd ist.

Alleinstehende Personen treten zwei Jahre früher in ein Heim ein, da kein Partner ihre Defizite kompensiert.

Doch es gibt viele Menschen mit Demenz, die bis zum Tod zuhause leben. Entscheidend ist das Zusammenspiel von Demenzform, wie sie sich individuell äussert und wer die Betreuung zuhause in welcher Form mittragen kann.

demenzwiki

Demenzformen

Demenz ist ein Überbegriff für chronische Gehirnerkrankungen. Sie beeinträchtigen vor allem das Gedächtnis und führen zum Verlust der Selbständigkeit. weiterlesen

Der Philosoph Walter Jens, der an Alzheimer erkrankte, ist ein Beispiel für ein gutes Zusammenspiel.

Margrit Hespeler, Bäuerin von der Schwäbischen Alb, war ursprünglich nur die Haushaltshilfe des Ehepaars Jens. Sie wurde dann immer mehr zur Betreuerin von Walter Jens, der sich auf ihrem Hof sehr wohlfühlte. Irgendwann hat sie ihn mitgenommen und er wurde Teil ihrer Grossfamilie.

Man darf bei Demenz nie verallgemeinern. Nicht alle Menschen mit Demenz sind aggressiv, haben einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus und Bewegungsdrang. Ausserdem ist nur ein Teil der sogenannten Störungen krankheitsbedingt. Der andere Teil hat mit der Umgebung zu tun.

Passt die Umgebung nicht zum Menschen und seinem individuellen Verlauf, führt das oft zu Konflikten.

Wenn man in ein Heim übersiedelt, bricht da nicht einiges an Orientierung und Daheimgefühl weg?

Die Frage ist, ob das Daheimgefühl auch in den eigenen vier Wänden noch da ist. Arno Geiger beschreibt das in seinem Buch «Der alte König in seinem Exil» sehr schön: Daheim ist der Ort, wo ich gefühlsmässig angekommen bin. Das hat mit dem realen Ort nichts zu tun.

Deshalb ist die Anfangszeit im Heim essenziell: Der Mensch und seine Seele müssen ankommen in diesem neuen System. Und dann ist das Leben im Heim womöglich entlastender als zuhause, wo man Erwartungen nicht mehr erfüllen kann und der Partner überfordert ist.

Es gibt dieses Sprichwort: «Einen alten Baum verpflanzt man nicht» …

Wenn der Baum im Trockenen steht und verdorrt, musst du ihn verpflanzen, damit er wieder blühen kann. Monika und ich haben in den meisten Fällen erlebt, dass diese Verpflanzung dem Menschen sehr gutgetan hat. Das bedingt natürlich, dass die Angehörigen loslassen und ihr Familienmitglied vertrauensvoll in die Hände der jeweiligen Institution geben können.

In deinem Buch gehst du immer wieder auf das Thema Lebensqualität ein. Kann man auch mit Demenz glücklich sein?

Ob du Glück empfinden kannst, hat viel mit dir selbst zu tun. Mein Anspruch war immer, Unglück zu vermeiden und Zufriedenheit zu fördern – dieses Gefühl: Das ist schön, das ist gut, es ist mir wohl.

Unglück verhindern und Zufriedenheit schaffen, das ist das Ziel.Véronique Hoegger

Was braucht es, damit man dieses Gefühl zuhause erzeugen kann?

Wenn Angehörige unglücklich sind, können sie kein Glück erzeugen. Sie müssen sich in ihrer Rolle wohlfühlen und Hilfe in Anspruch nehmen, wenn es zu viel wird. Für beide glückliche Momente schaffen können sie, indem sie fördern, was beiden Spass macht: Konzerte besuchen, die Natur geniessen, Freunde treffen. Man muss aber aufpassen, dass es nicht zu viel wird. Dann macht man statt der grossen Reise vielleicht besser einen Tagesausflug. Hier ist weniger oft mehr.

Unterforderung ist also besser als Überforderung?

Reizüberflutung ist das Schlimmste. Man muss die Ressourcen des Betreffenden im Blick haben und überlegen, welches Bedürfnis er oder sie wirklich hat. In der Sonnweid trafen wir uns jede Woche zum «Singen unter dem Engel». Alle – Bewohner:innen, Angehörige, Pfleger:innen – haben gemeinsam gesungen. Es ging um das Gefühl von Gemeinschaft, von «Ich bin dabei», und nicht darum, ob du wirklich mitsingst. In diesen Momenten haben sich die Bewohner:innen gespürt, die Krankheit spielte keine Rolle.

In deinem Buch geht es darum, verschiedene Perspektiven zu verstehen und dadurch besser mit Demenz umzugehen. Doch Demenz wird tabuisiert, Spitäler, Heime, Städte gehen nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ein. Brauchen wir mehr Demenzfreundlichkeit?

Wir brauchen Menschenfreundlichkeit. Was Menschen mit Demenz guttut, tut jedem gut: übersichtliche Verkehrsführung, intuitive Fahrkartenschalter, ein lebendiges Quartierleben mit niederschwelligen Angeboten. Niemand geht gern in die «Demenzberatung». Aber im Quartiercafé, in Sing- oder Gesprächskreisen oder im Seniorenturnen bauen sich Beziehungen zu Menschen auf, die bemerken, wenn ich plötzlich fernbleibe. So versinke ich nicht in Rückzug und Einsamkeit.

Also sorgende Gemeinschaften statt demenzfreundlicher Kommunen?

Ja. Dazu gehören auch Demenzlotsen analog zu den First Respondern bei Notfällen: Kümmerer, die rund um die Uhr einspringen, wenn eine Situation zuhause überfordert. Das sind engagierte, geschulte Freiwillige aus der Nachbarschaft, die man im Notfall rufen kann. Oft hilft es schon, so die Dynamik einer verfahrenen Situation zu durchbrechen, indem jemand übernimmt. Der Verein wohlBEDACHT in München bietet etwas Ähnliches für einen Monatsbeitrag von 20 Euro an.

Das letzte Kapitel beginnt mit dem Satz: «Die Zukunft ist dement.»

Die Zahl der Erkrankten wird sich bis 2050 verdreifachen.

Noch gibt es keine Pille gegen Demenz, also müssen wir uns mit der Krankheit arrangieren.

Wir brauchen Caring Communities, Kleinräumigkeit, Orte der Begegnung – damit Menschen mit Demenz gut zuhause leben können und Angehörige entlastet sind. Wir brauchen Spitäler und spezialisierte Pflegeheime, in denen demenziell veränderte Menschen nicht als Störfaktor gesehen werden und die die Ressourcen in den Blick nehmen.

Dafür bräuchte es entsprechend mehr Personal.

Eine Möglichkeit, wie man dem Pflegemangel begegnen und gleichzeitig die Kommunikation zwischen Jung und Alt fördern kann, wäre ein obligatorisches soziales Jahr für alle. Das würde den Wert der sozialen Berufe steigern, Potenziale wecken und die Sicht auf das Alter verändern. Ich bin überzeugt, wir hätten mehr Berufsanfänger und eine geringere Akademisierung. Hätte ich als Zivildienstleistender nicht im Pflegebereich geschnuppert, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass das meine Berufung ist.

Deine Botschaft an die Leser:innen deines neuen Buchs?

Das Einfache ist oft wahnsinnig schwierig. Aber wenn man die banalen Zusammenhänge versteht, kann man auch schwierige Situationen besser bewältigen. Und die zweite Botschaft ist: Ein zufriedenes Leben mit Demenz ist möglich.