Sterbefasten und Demenz - demenzjournal.com

Lebensende

Sterbefasten und Demenz

Wer sich fürs Sterbefasten entscheidet, muss vor allem eines sein: willensstark. Daniel Kellenberger

Manche Menschen mit Demenz überlegen sich, ihr Leben durch Sterbefasten vorzeitig zu beenden. Was bedeutet das? Ist Sterbefasten auch mit fortgeschrittener Demenz möglich, wenn dieser Wunsch in der Patientenverfügung steht?

Sterbefasten gilt als selbstbestimmter und natürlicher Weg, den eigenen Tod vorzeitig herbeizuführen. Auch Demenzbetroffene denken mitunter über diese Methode nach, die kontrovers diskutiert wird.

Wir haben drei Gäste zum Gespräch geladen. Die diskutierten Fragen zeigen, dass Sterbefasten – und assistierte Sterbehilfe – nicht nur eine individuelle Dimension haben, sondern auch eine gesellschaftliche.

Dr. Christian Walther, Neurobiologe i.R., verfasste als Co-Autor zwei Bücher über das Sterbefasten – eines davon mit Peter Kaufmann, Stiftungsratspräsident von Palliacura. Palliacura ist eine Stiftung von Exit, die Ausbildung, Projekte und Publikationen im Bereich Palliative Care unterstützt. Michael Schmieder hat sich als Gründer des Demenzzentrums Sonnweid in Wetzikon einen Namen gemacht. Sein Betreuungskonzept findet international Beachtung.

Sterbefasten – ein sanfter Weg?

Sterbefasten ist für mich eine Möglichkeit, selbstbestimmt und in Würde vorzeitig zu sterben, ohne einen klassischen Suizid zu begehen. Deswegen sehe ich es als kompatibel mit der Hospiz-Idee an.
Dr. Christian Walther

Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) – umgangssprachlich Sterbefasten – gilt als selbstbestimmtes Sterben. Der Fastende kann über eine längere Zeit von seinen Angehörigen Abschied nehmen und seine Angelegenheiten in Ruhe regeln. Sollte er sich umentscheiden, kann er das Fasten in den ersten Tagen noch abbrechen.

Wie beim Heilfasten weicht das Hungergefühl beim FVNF nach etwa 48 Stunden meist einer euphorischen Stimmung. Grund dafür ist die Ausschüttung von Endorphinen. Je nach gesundheitlichem Zustand und wie konsequent verzichtet wird, dauert der Prozess etwa eine bis drei Wochen. Nach Kaufmann eine oft «freudvolle und heitere Zeit», wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Die Angehörigen unterstützen die Sterbende und helfen ihr durch moralische «Tiefs».
  • Das Durstgefühl wird durch gute Mundpflege kontrolliert.
  • Symptome wie Liegeschmerz oder Unruhe werden behandelt.
  • Die Sterbende und ihre Angehörigen sind darüber informiert, dass schwierige Situationen auftreten können.

Obwohl Sterbefasten gern als sanfter Weg bezeichnet wird: Er ist nicht leicht und wer ihn geht, muss willensstark sein.

«Es besteht – wie bei Sterbenden generell – das Risiko, dass ein Delir auftritt», sagt Walther. Dann kann es zu Herausforderungen kommen – zum Beispiel wenn der Sterbende im Delir etwas zu trinken verlangt, die Pflegenden diesem Wunsch entsprechen und sich der Sterbewillige betrogen fühlt, sobald er aus dem Delir erwacht. Für die Betreuenden können gerade längere Prozesse auch aus diesem Grund «sehr zehrend» sein.

→ Auf sterbefasten.org finden Sie eine Sammlung an Fallbeispielen und FAQs

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Menschen, die eine Demenzdiagnose erhalten haben, denken zum Teil über Sterbefasten nach. Das Sterbefasten ist jedoch «kein Königsweg: Wie auch der assistierte Suizid muss es im Falle einer Demenzerkrankung zu einem frühen Zeitpunkt erfolgen. Andernfalls, so Walther, besteht die Gefahr, dass der Fastende nach einigen Tagen vergisst, warum er fastet, und dann von Angehörigen und Pflegepersonal daran erinnert werden muss.

Was kann eine Patientenverfügung leisten?

Mithilfe einer Patientenverfügung (PV) kann der Betreffende Wünsche für das eigene Lebensende festhalten. Dort definiert er unter anderem, wann die PV zur Anwendung kommt und ob lebensrettende Massnahmen erwünscht sind oder nicht.

Ein zusätzlicher Vorsorgeauftrag respektive eine Vorsorgevollmacht legt fest, wer für den Betreffenden entscheidet, sollte dieser urteilsunfähig geworden sein. Diese Person hätte dann die Aufgabe, die Durchsetzung der PV erwirken. Sowohl PV als auch Vorsorgeauftrag sind nur gültig, wenn der Unterzeichnende beim Signieren noch urteilsfähig war.

Allerdings regelt eine PV nur medizinische Fragen. Pflegerische Aspekte – dazu gehört das Verabreichen von Nahrung und Flüssigkeit – sind nicht rechtsverbindlich.

«Trotzdem macht es Sinn, in einer PV festzuschreiben, wie man später gepflegt werden will», sagt Walther. Das macht es Angehörigen und medizinischem Personal leichter, den mutmasslichen Willen des Betreffenden nachzuvollziehen und entsprechend zu handeln.

Auch über das Medizinische lässt sich vieles regeln. Christian Walther möchte nicht, dass ihm Antibiotika verabreicht werden, sollte er in einer Demenz eine Lungenentzündung entwickeln – in der Hoffnung, so schneller aus dem Leben zu scheiden.

Soll eine Patientenverfügung auch in der Spätphase gelten?

Wer mit einer Demenz durch assistierte Sterbehilfe oder FVNF sterben möchte, muss dies tun, wenn er oder sie noch urteilsfähig ist. Das Problem: Oft ist das eine Phase mit hoher Lebensqualität, die niemand verkürzen möchte. Die Angst, den «richtigen» Zeitpunkt zu verpassen, ist gross.

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In den USA wird nun die Möglichkeit diskutiert, mittels Patientenverfügung das Leben bei fortgeschrittener Demenz vorzeitig durch FVNF zu beenden. Das «Stopping Eating and Drinking by Advance Directive» («SED by AD») hätte zur Folge, dass Pflegende einen inzwischen entscheidungsunfähigen Menschen nicht mehr mit Nahrung und Flüssigkeit versorgen, wenn bestimmte Kriterien der PV erfüllt sind.

Ein Vorschlag, der ethische Fragen aufwirft.

«Ist ein früherer Wille mehr wert als ein jetzt gezeigter?» Für Michael Schmieder regelt die PV zu viele Details und lässt keinen Spielraum für die Veränderung von Perspektive und Wünschen. Er geht daher einen anderen Weg: Im Falle seiner Urteilsunfähigkeit beraten drei Vertrauenspersonen über Massnahmen. Entscheidungen müssen einstimmig getroffen werden, bis dahin gilt der Status quo. «Wir müssen weg von der Fixierung auf das Juristische und wieder hin zum Vertrauen.»

Pflegende kennen ihre Schützlinge und können abschätzen, ob jemand noch etwas zu sich nehmen möchte oder nicht.Daniel Kellenberger

Als Pfleger und später Leiter der Sonnweid hat er stets auf die Beobachtungsgabe der Pflegenden gesetzt: «Wer bei der Essenseingabe den Mund zukneift, bekundet einen klaren Willen: Ich will nicht essen. Das haben wir respektiert.» Fatal wäre es hingegen, Pflegenden mit Verweis auf die Patientenverfügung die Nahrungsgabe zu untersagen, obwohl der Patient offenkundig essen und trinken möchte:

«Tun Sie das, haben wir noch weniger Pflegepersonal. Denn dann fühlen sich die Pflegenden als Mörder.»

Auch Walther und Kaufmann halten es für ethisch nicht vertretbar, einem urteilsunfähig gewordenen Menschen aufgrund einer PV Nahrung und Flüssigkeit zu verwehren, wenn er noch gerne isst und trinkt. Fehlt die Einsichtsfähigkeit, kann man ihrer Meinung nach nicht mehr von Sterbefasten sprechen. Juristisch könnte eine spätere Durchsetzung der PV auf eine Tötung auf Verlangen hinauslaufen.

Problematisch findet Kaufmann aber auch, wenn sich Ärzt:innen über in der PV ausdrücklich festgehaltene Massnahmen hinwegsetzen:

Die eigene Weltanschauung wird dann wichtiger als der Patientenwunsch. Doch die PV ist für genau diesen Fall da: wenn der Patient nicht mehr ansprechbar ist. Wenn er also festgelegt hat, dass er in bestimmten Situationen keine Nahrung und Flüssigkeit mehr erhalten möchte, sollte das respektiert werden ­– auch wenn es ein pflegerischer Aspekt ist und kein medizinischer.
Peter Kaufmann

Entsprechend raten Kaufmann und Walther in ihrem Artikel zu FVNF bei Demenz, eine Vertrauensperson mit einer Vorsorgevollmacht auszustatten, damit diese die PV durchsetzt.

Ein vorausgefügter Patientenwunsch kann auch in kleineren Schritten erfüllt werden. Pflegende verzichten probeweise auf die Eingabe von Nahrung und Flüssigkeit und beobachten, ob die Belastung für den Fastenden tragbar ist.

Können oder wollen Pflegende den Patientenwunsch auch so nicht erfüllen, können sie auf das «Comfort Feeding Only» (CFO; Komfortversorgung) zurückzugreifen: Hat der Patient keinen Appetit, wird gerade so viel Nahrung gegeben, dass er sich wohlfühlt. Auch das CFO führt zum Tod, allerdings erst nach mehreren Monaten.

→ Christian Walther und Dieter Birnbacher über «Comfortversorgung und Pflegezieländerung bei Demenzkranken am Lebensende»

Auf die Bedingungen kommt es an

Die Debatte um assistierten Suizid und FVNF bei Demenz hat aber noch eine andere Komponente:

Das grosse Drama ist die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Pflegeinstitutionen müssen gewinnbringend sein. Deshalb wird auf der untersten Stufe gespart: Pflege und Betreuung.
Michael Schmieder

Ob ein Leben mit Demenz als gutes Leben erachtet wird, hängt für Michael Schmieder mit den Bedingungen zusammen: «Oft entscheiden die Umstände, ob es jemandem mit schwerer Demenz gut geht oder nicht. Als Leiter eines spezialisierten Heims hatte ich selten einen Fall, bei dem ich mir dachte: Es wäre gut, wenn dieser Mensch jetzt gehen dürfte.»

Auch Thomas Klie, Jurist und Autor des Buches «Recht auf Demenz», plädiert dafür, dass wir unser Augenmerk auf die Verbesserung der Lebensumstände und einen anderen Umgang mit Demenz richten:

Die Würde ist dem Menschen zuteil und wird ihm aktiv zuteil durch unser Handeln. Deshalb halte ich die Debatte um den assistierten Suizid für gefährlich. Es gibt keine Pflicht zu einem Leben mit Demenz. Aber wir dürfen keine Bedingungen schaffen, unter denen ein Leben mit Demenz als nicht mehr menschenwürdig gesehen wird.»
Prof. Thomas Klie

Die kommerzialisierte Pflege, die gesellschaftliche Stigmatisierung und das Primat der Kognition – all das sind schwierige Voraussetzungen.

Doch es wäre zu einfach, die Entscheidung zum Suizid nur darauf zurückzuführen. «Dass man für sich selbst eine Zukunft mit einer Demenzerkrankung nach reiflicher Überlegung ablehnt, das hört man nicht so gern», sagt Walther. «Doch ich finde, man muss bilanzieren und sich fragen: Was bedeutet Demenz für mich und meine Angehörigen?»

Es braucht eine Normalisierung des Umgangs mit Demenz. Aber es braucht auch einen selbstverständlichen Umgang mit assistierter Sterbehilfe, der darin nicht etwa eine Unterwanderung der Suizidprävention sieht. «Das wird kommen», meint Schmieder.


Literaturtipps

Boudewijn Chabot, Christian Walther: Ausweg am Lebensende. Sterbefasten – selbstbestimmtes Sterben durch Verzicht auf Essen und Trinken. München 2021. 6., überarbeitete Auflage.

Michael Schmieder, Uschi Entenmann: Dement, aber nicht bescheuert. München 2021. 5. Auflage.

Peter Kaufmann, Manuel Trachsel, Christian Walther: Sterbefasten. Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Stuttgart 2020.