Mit 21 ins Altersheim: «Ich lerne jeden Tag von Mitbewohnern»

Mit 21 ins Altersheim

«Ich lerne jeden Tag von meinen Mitbewohnern»

Teun Toebes wohnt im Pflegeheim, pflegt Menschen mit Demenz und hat ein Buch geschrieben.

«Ich mache mir Sorgen um die Zukunft von Menschen mit Demenz», sagt Teun Toebes. Vor allem die zunehmende Fremdbestimmung gibt ihm zu denken. Bild Merlijn Doomernik

Teun Toebes ist in ein Pflegeheim gezogen, wo er mit Menschen mit Demenz zusammenlebt. Warum ihn diese Erfahrung bereichert und was er ändern würde, erzählt der 23-Jährige im Interview.

alzheimer.ch: Sie leben seit zweieinhalb Jahren als Bewohner einer geschlossenen Abteilung im Pflegeheim. Wie ist es dazu gekommen?

Teun Toebes: Ich habe während meiner Ausbildung zum Pfleger ein Praktikum in einem Heim gemacht, da war ich 17. Vorher hatte ich noch keinen Kontakt zu Menschen mit Demenz gehabt. Ich habe viel Theorie gelernt, praktische Fertigkeiten, zum Beispiel wie man einen Patienten wäscht. Ich wollte aber gern den Menschen näher kommen, es bedrückte mich, dass viele in der geschlossenen Abteilung vor sich hin dämmerten, es fehlte die Lebendigkeit.

Ich hätte mir gewünscht, eine ganze Woche mit ihnen im gemeinsamen Wohnraum zu sitzen, ihnen zuzuhören, genauer mitzubekommen, wie ihnen zumute ist. Das habe ich dann später im Pflegeheim nachgeholt. Ich möchte Menschen mit Demenz besser verstehen, mache mir Sorgen um ihre Zukunft.

Haben Sie auch positive Erfahrungen während Ihrer Ausbildung gemacht?

Auf jeden Fall. Ich habe im Pflegeheim ganz besondere Menschen mit Demenz kennen gelernt, zum Beispiel John, einen ehemaliger Bauleiter. Wir haben uns schnell angefreundet und sind jeden Freitag zusammen ausgegangen, etwa zum Eis essen. Er ist immer mit einem breiten Lächeln zurückgekommen, das hat mich gefreut.

Gibt es in Ihrer Familie Menschen, die an Demenz erkrankt sind?

Meine Großmutter mütterlicherseits hat vor kurzem eine Demenzdiagnose erhalten. Sie ist 92 und kommt gut damit zurecht, auch weil sie von ihrer Familie gut gepflegt wird. Meine Mutter ist ausgebildete Pflegerin und kümmert sich um sie, ihr Sohn kocht jeden Tag für sie, ich besuche sie regelmäßig.

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Auch die jüngere Schwester meiner Großmutter hatte Demenz. Sie war kein einfacher Mensch, alleinstehend, immer tadellos gekleidet. Durch ihre Krankheit hat sie sich isoliert und kam schließlich in ein Pflegeheim. Zufällig war es genau das Heim, in dem ich mein Praktikum als Pfleger gemacht habe. Meine Großtante und ich sind uns dort viel näher gekommen.

Sie bereiten gerade Ihren Master im Bereich Pflegeethik und Pflegepolitik vor. Wie stellt man sich Ihren Alltag als Student im Pflegeheim vor?

Natürlich kümmere ich mich um mein Studium und ziehe mich dann in mein Zimmer zurück. Nebenher versuche ich, Zeit mit den anderen Bewohner:innen zu verbringen. Ich kann jeden Tag viel von ihnen lernen, zum Beispiel geduldig zu sein, genau zuzuhören.

Man kann mit jedem Kontakt haben, selbst wenn jemand nicht mehr sprechen kann.

Ich kann ihn anlächeln, streicheln, es gibt so viele Möglichkeiten. Ich weiß, dass es etwas Besonderes ist, als junger Mensch über längere Zeit in einem Pflegeheim zu wohnen. Aber ich hoffe, dass das in der Zukunft mehr junge Leute machen, es ist eine große Bereicherung für mich.

Neuerscheinung: Buch von Teun Toebes

Teun Toebes wurde 1999 in Brabant geboren. Er ließ sich zum Altenpfleger ausbilden, heute studiert er Pflegeethik und Pflegepolitik und lebt in einem Pflegeheim in Amstelveen bei Amsterdam. Toebes ist beliebter Speaker auf internationalen Konferenzen. Sein Buch «Der 21-Jährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet» wurde in den Niederlanden zum Bestseller (Knaur Verlag, 216 Seiten).

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Können Sie von jemandem erzählen, zu dem Sie eine besondere Beziehung haben?

Da gibt es viele. Ich muss aber gerade an Elly denken, sie ist leider vor kurzem gestorben. Es war ihr immer wichtig, gut angezogen zu sein, und sie gab mir modische Tipps. Sie war sehr verständnisvoll, als ich ins Heim gezogen bin, fragte mich oft, wie es mir geht. Das hat mich sehr gerührt.

Als sie irgendwann nicht mehr sprechen konnte, haben wir durch Umarmungen und Blicke kommuniziert. Sie war nicht gern allein, deshalb bin ich ab und zu mit meinen Studienunterlagen zu ihr ins Zimmer gekommen und habe dort gearbeitet. Keiner hat sich daran gestört.

Sie haben ein Buch über Ihre Erfahrungen im Pflegeheim geschrieben. Darin heißt es provokativ, das Leben dort sei vergleichbar mit einem totalitären Regime. Wie meinen Sie das?

Ich will nicht die Pflegekräfte bloßstellen, die meist sehr gute Arbeit machen. Ich meine das System, in dem es vor allem um Kontrolle und Sicherheit geht. Natürlich ist die Sicherheit der Heimbewohner:innen wichtig, aber es muss ein Gleichgewicht geben zwischen Lebensqualität und Sicherheit. Die Lebensqualität kommt in unserem System oft zu kurz.

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Ein Beispiel?

Wir dürfen im Heim keine weich gekochten Eier essen, obwohl viele von uns sie gern mögen. Die Heimleitung hat Angst, dass wir an Salmonellen erkranken könnten, deshalb müssen die Eier hartgekocht sein. Ein anderes Beispiel: Ich bin der einzige Bewohner, der echte Zimmerpflanzen hat. Den anderen ist es verboten, man hat Angst, die Patient:innen könnten die Blätter aufessen. Natürlich kann so etwas vorkommen, aber warum muss man deshalb Pflanzen für alle verbieten?

Für teures Geld wurden künstliche Pflanzen angeschafft, dabei haben die Bewohner:innen die echten lieber. Das mögen kleine Dinge sein, aber sie können das Lebensgefühl stark beeinflussen. Menschen mit Demenz haben hier zu oft keine Stimme.

Wie weit kann das Pflegepersonal etwas ändern?

Natürlich sind die Pflegekräfte Teil des Systems, sie haben feste Aufgaben und Abläufe, müssen mit Zeitdruck klar kommen. Ich würde mir aber wünschen, dass sie noch häufiger menschliche Gesten zeigen, einen Bewohner auch mal umarmen, ihm sagen, dass es schön ist, ihn zu sehen, ihn nach Details aus seiner Biografie fragen. Das kostet auch nicht wesentlich mehr Zeit. Mitunter passiert das, aber es könnte mehr sein.  Menschen mit Demenz bleiben Menschen, sie sehnen sich nach Liebe und Geborgenheit wie wir alle.

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Haben Sie im Pflegeheim die Möglichkeit, Routinen zu durchbrechen, etwas zu verändern?

Das kommt vor. Einmal habe ich im Garten ein Sommerfest organisiert, meine Freunde von draußen und die Bewohner:innen des Heims waren alle zusammen. Ich mag es, beide Gruppen zusammenzuführen. Wir haben zusammen gegessen, gefeiert, das war für alle sehr schön. Es war nicht einmal schwer, eine Erlaubnis vom Heim zu bekommen, dafür bin ich sehr dankbar.

Gibt es Momente, in denen Sie am liebsten fliehen möchten?

Täglich. Ich lebe in einem System, das ich gern verändern möchte, aber stoße immer wieder an Grenzen. Ich bin hier aber nicht der Change Manager, sondern ein Mitbewohner ohne Demenz. Gelegentlich bin ich vermutlich für die Pflegekräfte ein bisschen nervig, wenn ich Dinge anspreche, die ich anders machen würde. Ich muss versuchen, mich da mehr zurückzuhalten.

Wie weit können Sie außerhalb des Heims einem Sozialleben nachgehen, Freunde treffen?

Natürlich gibt es für mich noch eine andere Welt, ich sehe meine Freunde draußen, feiere am Wochenende gern mal eine Party. Ich habe das große Privileg, dass ich raus darf, den Code für die Tür nach draußen kenne. Die Heimbewohner:innen, die hier in einer geschlossenen Abteilung leben, kennen ihn nicht, das finde ich traurig. Auch sie sollten ab und zu die Möglichkeit haben, rauszukommen.

Sie sind täglich mit Menschen mit Demenz zusammen. Haben Sie selbst Angst, später diese Krankheit zu bekommen?

Nein. Ich habe nur Angst vor einem System, in dem es einen falschen Fokus auf die Krankheit gibt. Natürlich muss es Patientenakten geben, es kann wichtig sein zu wissen, wie der Stuhlgang eines Bewohners ist oder ob er unter Inkontinenz leidet. Aber wenn das im Vordergrund steht, sind die Bewohner:innen lediglich Patient:innen, keine Individuen mehr. Ich hoffe, dass sich die Perspektive verändert, mehr auf die Bedürfnisse der Menschen eingegangen wird. Anders sehen ist anders handeln.

Leseproben aus dem Buch Von Teun Toebes

«Hallooo, hallooo?»

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, schaue mich verwirrt um, angle meine Brille unter dem Kopfkissen hervor, springe aus dem Bett, und ehe ich mich versehe, stehe ich in Unterhose mitten auf dem Flur des Pflegeheims. Mist, ich habe vergessen, dass ich in meinem neuen Zuhause bin! Und dann höre ich wieder die Stimme von jemandem, der in Not ist. »Hallo?!« Sie kommt aus dem Zimmer gegenüber. Das kann niemand anderes als Tineke sein, denke ich und gehe hinein. Zitternd vor Angst steht sie wackelig auf ihren Beinen, wobei sie sich am Waschbecken festhält. Ein Blick in ihre Augen verrät mir, dass sie völlig durcheinander ist.

«Tineke, ich bin’s, Teun … der Nachbar von gegenüber», sage ich leise.

«Ahhh …», klingt es schon etwas ruhiger.

Ich nehme ihre Hand und streichle sie sanft. «Es ist alles in Ordnung, Tineke. Ich bin hier, ich bin für dich da.»

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Leny ist die stille Esserin in unserer Mitte. Ab und zu sieht sie mich an und zwinkert mir sogar einmal zu. Auch heute ist sie als Erste fertig, und ich bitte sie, mir das Brot zu reichen. (…) Als ich sie Anfang dieser Woche fragte, was für sie der Sinn des Lebens sei, antwortete sie treffend: «Für andere von Bedeutung zu sein.» Jedes Mal, wenn sie das Gefühl hat, anderen etwas zu bedeuten, sieht man, wie wieder Leben in ihre Gesichtszüge und ihre Augen kommt. Für einen Moment ist sie dann nicht die Frau, die sich zurückgezogen hat, die nur kurz und freundlich aufblickt, wenn jemand vorbeigeht, und dann wieder hinter einem leeren Blick abtaucht, sondern die Frau, die um die halbe Welt gereist ist, der keine Idee zu verrückt ist und die die schönsten Geschichten erzählen kann. Und das alles nur, weil man sie »einfach« anspricht, darauf, was sie wichtig findet und wonach die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang suchen … Von Bedeutung zu sein.

Teun Toebes mit Frau
Bild Stan Heerkens