Lerne das Leben geniessen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (72)

Lerne das Leben geniessen

«Meine Wanderungen auf dem Jakobsweg haben ein neues Denken in mir wachgerufen. Auch ein neues Danken. Es kommt nicht auf die Distanz an, die ich zurücklege. Es ist vielmehr jeder einzelne Schritt, der wichtig ist.» Bild U. Kehrli

Frau Kehrli staunt über sich selbst. Trotz ihres Alters scheint sie noch lernfähig zu sein. Indem Sie besser auf die eigenen Bedürfnisse achtet, kann sie dem Alltag mit mehr Gelassenheit begegnen.

24. Februar 2013 – Ich will mich selbst sein

Erstaunlich. Ohne dass sich viel an meiner alltäglichen Situation geändert hat, beginne ich mein Leben zu geniessen. Obwohl der Schmerz um die Trennung von Paul nicht wesentlich abgenommen hat, kann ich besser damit umgehen.

Nun hänge ich an freien Tagen nicht einfach herum, sondern plane Wanderungen oder treffe mich mit Freundinnen. Gerade durch all diesen Schmerz, diese Verzweiflung angesichts der schweren Krankheit von Paul, dem täglichen Umgang mit Betroffenen und ihren Angehörigen, bin ich erstarkt.

Ich bin belastbar geworden, tragfähig, ich lerne aushalten, durchhalten, Schmerzen ertragen. Auch ohne Psychopharmaka.

Doch, die hatte ich anfangs zu Hilfe genommen. Sie waren aber bloss Gehhilfen, Krücken, die ich nach kurzer Zeit wegliess. Ich wollte mich nicht fremd bestimmen lassen, meine Psyche manipulieren lassen. Ich wollte mich selbst sein. Es gelang mir ohne Probleme, ich wurde wieder ich selbst.

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich fühlte den Schmerz intensiv und ertrug auch schlaflose Stunden. Anfangs war meine erste Handlung der Gang zum Fernseher, er lief, ich schaute kaum hin. Dann schenkte ich mir etwa einen kleinen Whisky ein, verdünnt mit Mineralwasser, setzte mich hin und versuchte zur Ruhe zu kommen.

Es war ein ständiger Kampf, den Alltag zu bewältigen. Kochen für mich allein? Wollte ich überleben, musste ich meinem Körper das Nötige zuführen. Wollte ich nicht untergehen, musste ich diszipliniert meinen Alltag auch als Alleinstehende gestalten lernen.

Nach dem Kochen, dann Essen, war Abwaschen und Aufräumen dran. Wie nahe lag da die Versuchung, alles liegen zu lassen, dies später zu erledigen, die Müdigkeit und Unlust waren zu gross.

Dennoch, auch hier, Disziplin war wohl die Leiter, die mich langsam aus der Depression steigen liess. Und das Danken. Jedes Mal wenn ich mich überwinden konnte, dankte ich meinem Herrn, der mich immer neu tröstete und mich stärkte.

Heute brauche ich den Fernseher weniger. Kaum mal das Radio. Ich trinke kaum noch ein Glas Wein zum Essen, den Gang an die Apéro-Bar brauche ich nicht mehr. Ich lerne den Augenblick geniessen. Das Jetzt. Lerne, in der Gegenwart zu leben. ich lebe, atme, sehe, höre, gehe.

Wenn ich esse, geniesse ich es, indem ich bewusst kaue. Wenn ich gehe, achte ich auf meine Schritte und nehme den Boden unter mir wahr. Oft atme ich bewusst ein und aus, danke Gott, dass ich lebe.

Danke, dass Jesus Christus mich aus der ganzen Unrast, dem Treiber dieser Welt entrissen hat, mir all meine Sünden meines Lebens getilgt hat. Sein Friede erfüllt mich immer mehr, je öfter ich Zeit in der Stille verbringe. Ich suche die Stille zu Hause, auf Wanderungen. Lob der kleinen Schritte.

Meine Wanderungen auf dem Jakobsweg haben ein neues Denken in mir wachgerufen. Auch ein neues Danken. Es kommt nicht auf die Distanz an, die ich zurücklege. Es ist vielmehr jeder einzelne Schritt, der wichtig ist.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Manchmal ist es die Überwindung, oder die Begeisterung über eine besondere Landschaft, das Staunen über Pflanzen, Bäume, Tiere. Auch die Besonnenheit meiner Schritte beim Begehen eines gefährlichen Weges kann sich tief in meine Seele einprägen.

Jetzt, wo Wandern wegen Schnee und Eis nicht immer möglich ist, tauchen Bilder meiner zurückgelegten Wege auf. Bilder, die in mir den Wunsch wecken, mich erneut aufzumachen. Eine unerklärliche Sehnsucht erfasst mich, ein Drang zu gehen, eine Neugierde nach Gegenden, die ich noch nicht kenne.

Es ist nicht eigentlich das Ziel, die Kathedrale von Santiago de Compostela zu erreichen, das mich anzieht. Es ist nicht die Umarmung der Statue des Jakobs, die mich reizt. Es ist das unterwegs sein, meine Grenzen erweitern, mich fordern ohne zu überfordern, mich freuen da, wo ich gerade bin.

Ultreia! (immer vorwärts), in Bewegung sein, Neues entdecken, Unbekanntes erwandern. Da kann ich die Gedanken ordnen, bekomme Übersicht, gewinne Abstand von Problemen und die Ängste für Zukünftiges schwinden.

21. März 2013 – Glück gehabt

Tief durchatmen. Habe bei der Autobahn Ausfahrt wegen meiner «zügigen» Fahrweise beinahe ein Auto gerammt! Schnelle Reaktion sei Dank und Danke meinem Schutzengel. Hatte den Kopf nicht bei der Sache und Glück gehabt!

Ach, Paul, wenn Du wüsstest! Wenn Du erfassen könntest, was es bedeutet dich zu besuchen, wie sich da Schmerz anhäuft. Wenn ich all die Kranken sehe, wie sich ihr Zustand ständig verschlimmert. Wie sie auf Sofas, Lehnstühlen liegen oder herumirren, bleich, mit ausdrucklosem Blick nach irgendwohin starren.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Da wird mir erneut vor Augen geführt, wie der Verlauf dieser scheusslichen Krankheit ist. Was du noch vor dir hast! Da steckst du mitten drin. Die Tasse Kaffee vor dir, mit Orangenschnitzen drin, du gibst noch den Fruchtsalat dazu, zerstückelst die Schokolade mit dem Messer…

Und da darf man sich nicht anmerken lassen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Der Kranke hat immer Recht. Zwei Stunden neben dir, es gibt keine Möglichkeit Gespräche zu führen, Gedanken auszutauschen. Du schaust zum Fenster hinaus, siehst die Pferde, Züge, Spaziergänger und versuchst es zu kommentieren.

Ich gehe in die Bibliothek im Dorf. Die paar Schritte tun mir gut. Die Sonne kämpft sich durch die Bewölkung, es wird doch frühlingshaft nach erneutem Schneefall. Vor dem alten Schulhaus empfängt mich Lärm. Motorsägen. Die alten Kastanienbäume, die ich noch vor ein paar Tagen bewunderte, wurden gefällt und werden nun zerkleinert.

Umbau des Schulhauses. Auch der Vorplatz muss geräumt werden. Die beiden Bäume, uralt, erzählten mir von meinem Vater, der hier zur Schule ging. Diese Bäume kennen ihn – kannten ihn. Nun sehe ich bloss noch Holz, die Schnitzel, die eben auf den Lastwagen geschaufelt werden. Noch mehr Schmerz. Vertrautes wird vernichtet, Altes aus dem Weg geräumt. Spuren unserer Ahnen ausgelöscht. Ich bin traurig, die Einsamkeit lastet heute doppelt.

24. März 2013 – Frieden wie ein Strom

Bei Paul im Heim. Er grüsst mich kaum. Auf dem Bett türmen sich all seine Kleider, die er fein ordentlich in verschiedene Stapel zusammengelegt hat. Er spricht sehr verwaschen, versucht mir etwas zu erklären, ärgert sich, weil ich ihn nicht verstehe. Ich stelle die Rosen in die Vase, setze mich mal hin.

Er fragt nach dem Auto, ob ich es da unten hätte. Nein, heute ist es nicht in der Nähe. So beginnt er Stapel um Stapel die Kleider in den Schrank einzuräumen. Schliesslich nimmt er einen Stuhl und will hoch steigen. Als ich ihn daran zu hindern versuche, wird er richtig wütend und aggressiv.

Was machen? Ich muss ihn gewähren lassen, halte ihm wenigstens den Stuhl. Wenn er etwas vorhat, kann ihn niemand davon abhalten. Pfleger David bringt Kaffee und Kuchen, Kaffee auch für mich. Wie wohltuend seine Freundlichkeit ist!

Paul nervt mich heute. Sein Hin und Her und die Missverständnisse und Aggressionen erinnern mich an die Zeit, als er noch zu Hause war.

Nun stelle ich das Eile mit Weile auf den Tisch, heute ist Sonntag, wir spielen. Wie damals, als er zuhause mit seinen Geschwistern sonntags oft spielte. Eindrücklich, wie er alle Spielregeln beherrscht und die Punkte vom Würfel auf dem Feld richtig vorrücken kann.

Es entgeht ihm keine Figur, die er überholt. Ab nach Hause, er nimmt meine Figur und lacht. Schliesslich gewinnt er freudestrahlend, ich gratuliere ihm. Es ist fast halb fünf, ich mache mich auf den Nachhauseweg. Heute verabschiedet er sich liebevoll, sagt auf Wiedersehen, ich gehe erleichtert weg.

Rebellion, Wut, Groll, Bitterkeit sind Friederäuber. Wenn man einmal den Frieden Gottes geschmeckt hat, möchte man ihn bewahren. Sich entrüsten, aufbegehren raubt den Frieden. Ich hüte mich möglichst davor. Es gelingt nicht immer. Lehne mich noch oft gegen das Schicksal auf.

25. März 2013 – Du schaffst das schon

In einer Woche ist Ostern, die Gräber meiner Eltern möchte ich schmücken, die Blumen dafür habe ich schon vor zwei Wochen gekauft. Doch der Boden ist immer noch gefroren… und heute schneit es wieder. Bäume, Reben und Rosen sollten geschnitten werden.

Am Mittwoch ist der Termin beim Steueramt, sie fordern noch Belege an. Anstatt zu fotokopieren, gehe ich mit allen Unterlagen hin. Wie mir Buchhaltung, Bürokram, überhaupt Zahlen zuwider sind! Habe keine Wahl, muss es anpacken.

Ich spreche mir in letzter Zeit oft Mut zu, klopfe mir selbst auf die Schulter. Das schaffst du schon! Stellvertretend für andere sozusagen, denn wer ermutigt mich schon? Sich selbst Gutes zusprechen hilft mehr als Verzagtheit. Ich lebe sozusagen mit und im 23. Psalm. Ich koste ihn aus, fast Wort für Wort. Nun übe ich mich im nichts wird mir mangeln. Der Herr füllt auf, wo ich Mangel habe. (Fortsetzung folgt …)