Altersdemenz und lokale Fürsorge - demenzjournal.com

Beispiel Japan

Altersdemenz und lokale Fürsorge

In Japan gibt es laut offiziellen Angaben etwa 12,5 Millionen Freiwillige «Demenz-Unterstützer». Durch die Farbe orange identifizierbar, sollen sie Ansprechpartner im öffentlichen Raum sein. Adobestock/Tom Wang

Die altersbedingte Zunahme an demenziell erkrankten Menschen wirft viele Fragen nach guter Pflege, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe auf. Das Pflegeheim Yoriai in Fukuoka nimmt sich dieser Themen schon seit Jahren an.

Von Ludgera Lewerich, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Japan ist die älteste Gesellschaft der Welt. Im Jahr 2019 waren 28,4 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt. Und in den Prognosen der Regierung zeichnet sich angesichts hoher Lebenserwartung und anhaltend niedriger Geburtenrate keine Trendwende ab.

Für das Jahr 2065 wird erwartet, dass die über 65-Jährigen rund 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen werden. Über diese Entwicklungen und die damit einhergehenden Herausforderungen wird auch in der deutschen Presse regelmässig berichtet. Von Gangster im Greisenalter (Spiegel), Tokio: Mein Pfleger der Roboter (Die Zeit) oder dem Land der Alten (Süddeutsche Zeitung) ist dort die Rede.

Ludgera Lewerich

Die Autorin dieses Beitrags ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Modernes Japan an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat im Frühjahr 2020 ihre Dissertation abgeschlossen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. kulturelle und soziale Repräsentationen des ländlichen Raumes, ländliche Revitalisierung und Altersforschung.

Die Probleme, denen sich die japanische Gesellschaft gegenübersieht, gleichen den deutschen. Im Verlauf sind sie aber etwas voraus. Es sind Themen wie der Mangel an Pflegekräften, die zunehmende Anwerbung ausländischer Pflegekräfte oder auch Fragen nach der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen im Alter.

Immer mehr ältere Menschen in beiden Gesellschaften sind kinderlos und leben im Alter allein. Diejenigen, die Kinder haben, wohnen in der Regel von diesen getrennt. Kommt hinzu, dass der familienstrukturelle Wandel eine Pflege durch Angehörige kaum ermöglicht.

Noch vor einigen Jahrzehnten galt in Japan die Pflege ganz selbstverständlich als Aufgabe der Familie, besonders der Schwiegertöchter. So war die Pflege in der Familie in ein System eingebettet, das eine starke Trennung von Rollen nach Geschlechtern vorsah.

Heute dagegen sind die meisten Frauen berufstätig, eine Pflege der eigenen Eltern und Schwiegereltern ist neben Arbeit, Kindererziehung und Haushalt kaum zu bewältigen und kann eine grosse Belastung darstellen.

Demenz als besondere Herausforderung

Wie können Menschen auch im Alter möglichst lange im vertrauten Zuhause wohnen bleiben und gut versorgt werden? Wie kann die gesellschaftliche Isolation pflegender Angehöriger und den Bewohnenden stationärer Einrichtungen verhindert werden?

Eine grosse Herausforderung stellt dabei die wachsende Zahl demenziell erkrankter Menschen dar. In Japan leben über 4,6 Millionen Menschen mit einer diagnostizierten demenziellen Erkrankung. Diese geht in vielen Verläufen mit Symptomen einher, welche die Interaktion, Kommunikation und Pflege zur besonderen Herausforderung machen können.

Was in Japan funktioniert, ist nicht so einfach in unseren Kulturkreis übertragbar.

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Dazu gehören etwa Ängste, Unruhe, teilweise auch verbale oder physische Aggressivität. Hinzu kommt oft der körperliche Abbau. Dies erschwert die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen und ihrer Angehörigen, da für den Umgang mit Menschen mit Demenz besonders im öffentlichen Raum oft Wissen und Verständnis fehlen.

In Japan gibt es seit 2015 den sogenannten «New Orange Plan» (shin orenji puran), der unter anderem die Integration demenziell erkrankter Menschen in den Blick nimmt. So sollen lokale Gemeinschaften geschaffen werden, die offen und unterstützend für ältere Menschen mit (und ohne) Demenz sind.

Unter anderem wurden seit der Implementierung des Plans laut offiziellen Angaben etwa 12,5 Millionen Freiwillige zu «Demenz-Unterstützern» ausgebildet. Durch orangefarbene Armbänder oder Sticker identifizierbar, sollen sie Ansprechpartner im öffentlichen Raum sein. Sie lernen den richtigen Umgang mit desorientierten, demenzkranken Menschen und kümmern sich um sie, falls sie etwa im Laden beim Einkaufen oder in einer Bank auffallen.

Spezial-Altenheim Yoriai – ein Best-Practice Beispiel

Yoriai liegt in der Stadt Fukuoka, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur im Westen Japans. 1991 aus der Initiative einiger Pflegenden entstanden, verteilt es sich heute über drei Häuser. Wer Yoriai 2 besucht steht gleich im Wohn- und Aufenthaltsbereich des Hauses, der eine offene Küche einschliesst. Mehrere Sofas stehen um zwei Tische platziert, die Einrichtung wirkt wie die eines normalen japanischen Wohnhauses.

Auch die anderen Häuser sind bewusst möglichst alltäglich eingerichtet, damit sich die älteren Menschen wohlfühlen. Fast den ganzen Tag verbringen die sie gemeinsam mit dem Pflegepersonal im Wohnzimmerbereich.

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Der Tagesablauf verläuft ruhig, fast unbemerkt finden Betreuung und Pflege statt. Diskret werden immer mal wieder Bewohnende in den hinteren Teil des Hauses mitgenommen. Das Mittagessen, typisch japanische Hausmannskost (katei ryōri), kocht das Pflegepersonal und mehrmals im Monat auch eine Unterstützungsgruppe, die Yoriai no kazokukai, also die «Yoriai Familiengruppe».

Das alles entspricht dem Motto der Einrichtung. Die älteren Menschen sollen einen ruhigen Lebensabend nach dem eigenen Tempo und den eigenen Bedürfnissen verbringen können. Gewohntes Essen, eine möglichst gewohnte Umgebung, keine umfangreichen Rehabilitationsmassnahmen, wenig Medikamente. 

Demenz, so sehen es die Gründerin und der aktuelle Leiter des Heims, soll nicht als Krankheit, sondern als natürliche Entwicklung im Alter gesehen werden.

Das deuten auch die Titel einiger Publikationen an. Es ist okay, senil zu werden, heisst etwa ein von der Gründerin Emiko Shimomura verfasstes Buch, das bewusst nicht den wissenschaftlichen Begriff für Demenz verwendet (ninchishō), sondern das alltagssprachliche «senil werden» (bokeru). Dadurch erhofft sie sich eine De-Stigmatisierung der Krankheit Demenz.

Yoriai zeichnet sich unter anderem auch durch eine enge Verbindung mit der lokalen Gemeinschaft aus. An zwei Donnerstagen im Monat öffnet auf dem Gelände der Einrichtung Yoriai no Mori, dem dritten Haus, das Café Kissa Yorīne, das allen offensteht – Betroffenen, ihren Angehörigen und den Menschen aus der Umgebung.

Wenn es in Yoriai Bewohnende mit starker Weglauf-Tendenz gibt, wird die Unterstützung in der Nachbarschaft gesucht.

So auch im Fall von Frau Hayashi, die noch vor wenigen Jahren in unbemerkten Momenten regelmässig aus Yoriai verschwand.

In Absprache mit der Familie wurde die Nachbarschaft – private Anwohner, aber auch Einzelhändler oder eine Grundschule – mit Flyern informiert und gebeten, bei Sichtung der Frau die Einrichtung oder die Tochter Michiko zu informieren.

Michiko berichtete im Interview, wie erleichtert sie war, als sie erfuhr, dass nun auch die Menschen in der Umgebung auf ihre Mutter achtgaben und sie nicht mehr alleine die Verantwortung tragen musste.

Aus diesen anfangs informellen Treffen ist ein engmaschiges, lokales Netzwerk entstanden zwischen der Einrichtung, den Familien und der lokalen Gemeinschaft, das bis heute existiert


Dieser Beitrag erschien in einer etwas längeren Fassung in der Zeitschrift Pro Alter 4/20. Wir danken dem Medhochzweiverlag für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.