alzheimer.ch: Vor ein paar Tagen digitalisierte ich unsere alten Familienalben. Dies gab mir ein gutes Gefühl. Warum schwelgt der Mensch gerne in Erinnerungen?
Christoph Held: Die Autobiografie ist ein wesentlicher Teil der Selbstgewissheit. Der Neurologe Antonio Damasio spricht von einem autobiografischen Gedächtnis. Alles was wir erlebt haben, hinterlässt nicht nur einen Wissensfaktor, sondern auch eine emotionale Spur, sogenannte Marker. Diese Marker sind hilfreich, wenn Entscheidungen anstehen.
Wir erinnern uns nicht nur daran, was wir zum Beispiel an einem bestimmten Ort gegessen haben, sondern auch daran, welches Gefühl es ausgelöst hat. Dies ergibt eine Selbstgewissheit, die uns erlaubt, jetzt wieder richtige Entscheidungen zu treffen. Es ist die neurologische Sprache für den Bauchentscheid. Das Erinnerungswissen gibt uns ein gutes Gefühl und Sicherheit.
Zur Person
Christoph Held war nach seinem Medizinstudium zunächst als Regie- und Dramaturgieassistent an verschiedenen Theatern. Heute arbeitet er als Heimarzt und Gerontopsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich und im Gesundheitszentrum Dielsdorf. Er hat einen Lehrauftrag an der Universität Zürich und unterrichtet in Fachhochschulen über Demenz. Christoph Held hat verschiedene Fach- und Belletristikbücher geschrieben. Im Fachbuch «Was ist ‹gute› Demenzpflege» thematisiert er das veränderte Selbsterleben bei Demenz.
Das Anschauen der alten Familienfotos hat mich aufs Neue mit meinen Wurzeln verbunden. Ich fühlte mich geborgen.
Genau diese Geborgenheit verlieren leider Menschen mit Demenz. Sie werden sich selber fremd.
Die Melancholie, die mich dabei auch befiel, hat wohl mit der Erkenntnis der Vergänglichkeit zu tun. Mir wurde bewusst, dass ich schon länger in diesem Leben war als ich es noch sein werde …
Da gibt es verschiedene Aspekte. Es sind das Wissen um die Endlichkeit, der körperliche Zerfall, das Eingestehen von Fehler und Schuld – das zerbrochene Geschirr, das herumliegt. Hier hat der kognitiv intakte Mensch Fähigkeiten: Er kann sich vergeben, er kann relativieren, verdrängen und so weiter.
Diese reflexiven Fähigkeiten sind Menschen mit Demenz zunehmend verwehrt, weil sie diese Zeiten und Begebenheiten nicht mehr einordnen und in Bezug zu sich selbst setzen können.
Ich kann diese Alben jetzt auf dem Smartphone und dem Computer anschauen. Ich kann die einzelnen Fotos ausdrucken oder E-mailen. Ich habe aber entschieden, dass ich diese Fotos nicht bei mir zu Hause aufhängen werde.
Das ist sehr individuell – bei Menschen mit oder ohne Demenz. So lange sich ein Mensch mit Demenz in einem positiven Sinn an seine Familie erinnern kann, gehören diese Fotos zu seinem Leben. In einem Heim, in dem ich arbeitete, erwarteten wir eine neue Bewohnerin. Ihre Angehörigen und wir hatten ihr Zimmer schon mit ihren persönlichen Möbeln, Fotos und Gegenständen eingerichtet.
Als die Frau ins Zimmer kam, war sie total verwirrt. Ich würde dies heute nicht mehr so machen. Es soll den neuen Bewohnern klar sein, dass sie an einem neuen Ort sind.
Warum?
Weil sie sonst zusätzlich durcheinanderkommen. Stellen Sie sich vor: Man lockt Sie für einen Tag aus Ihrer Wohnung, und am nächsten Tag führt man sie an einen neuen Ort, wo ihre Sachen sind. Auf diese Weise macht man Menschen wirklich psychotisch …
Die Frau ist hintergangen worden …
Genau. Dies hat diese Frau damals lautstark geäussert.
In den meisten Heimen sind die Zimmer der Bewohner persönlich ausgestattet. Es gibt Fotos, Erinnerungsstücke und Möbel, die der Bewohner schon lange hat. Wie finden Sie das?
Wir sollten aufmerksam sein und realisieren, wenn persönliche Gegenstände den Menschen mit Demenz zunehmend fremd werden. Wir können dies durch Äusserungen oder Verhalten erkennen.
Wenn ein Bewohner bei einer Fotografie fragt: «Wer ist diese Frau, die mich anschaut?», sage ich nicht: «Das ist Ihre Frau – sie waren 30 Jahre mit ihr zusammen», sondern entferne das Bild diskret aus dem Zimmer. Wenn er später nach dem Bild fragt, bringe ich es wieder zurück – dann geschah meine Handlung zu früh.
Man darf die Menschen nicht ihrer Biografie berauben – aber man darf sie ihnen auch nicht aufdrängen.
Mich dünkt, in der Demenzbetreuung werden den Menschen aus einem Unbehagen heraus oft Sachen aufgedrängt.
Woher kommt dieses Unbehagen?
Es kommt vom veränderten Selbsterleben der Betroffenen. Wenn ich merke, dass mein Gegenüber psychotisch ist, wird es mir unbehaglich, und ich fange mit dem Interpretieren an. Was könnte es sein? Was kann ich sagen, machen oder tun?
Als ich in der Psychiatrie anfing, kam ich mit einem verstummten schizophrenen Mann zusammen. Ich redete ständig auf diesen Mann ein und versuchte, mit ihm in Kontakt zu kommen. Ich musste mir dabei eingestehen, dass ich selbst fast psychotisch wurde.
Hat es auch mit unserem schlechten Gewissen zu tun, wenn wir die Zimmer von Menschen mit Demenz mit Erinnerungsgegenständen ausstatten und versuchen, ihr Verhalten zu interpretieren?
Es hat mit schlechtem Gewissen und Unkenntnis zu tun. Das Zimmer muss See- und Bergsicht haben, obwohl der Betroffene den See nicht mehr kennt und die Namen der Berge vergessen hat. Effektiv schaut er lieber eine Waschzeine an oder einen Pfahl im Garten.
Man rechtfertigt das Aufhängen von alten Fotos und die Einrichtung von Nostalgieräumen auch damit, dass das Langzeitgedächtnis bei Demenz länger erhalten bleibt als das Kurzzeitgedächtnis. Darum werden vielerorts besonders die ganz alten Sachen für die Biografiearbeit verwendet.
Es hat schon eine gewisse Abfolge mit dem Gedächtnisverlust. Zum Beispiel gehen die Enkel zuerst vergessen. Es kommt zu einer Art Umschichtung im Gedächtnis. Es kann auch sein, dass ein Mensch mit Demenz alte Zeiten ganz aktuell erlebt. Aber dies ist nicht der entscheidende Prozess.
Entscheidend ist der Prozess der allmählichen Entfremdung von sich selbst.
Bei der Betreuung von Menschen mit Demenz werden vielerorts nostalgische Bühnenbilder verwendet oder Nostalgiezimmer eingerichtet. Es werden ganze Dörfer im Stil der 1950er- oder 1960er-Jahre eingerichtet. Man zieht Menschen mit Demenz auch VR-Brillen an, damit sie Städte so sehen, wie sie in ihrer Kindheit waren …
Das ist entsetzlich. Furchtbar! So macht man diese Menschen delirant und psychotisch. Die Demenzdörfer funktionieren ja nicht wirklich als Dorf, das ist doch eine Art Heuchelei.
Experten aus der ganzen Welt wollen nun nostalgische Demenzdörfer bauen.
Lassen Sie sich doch mal eine Medikamentenliste solcher Einrichtungen geben! Es ist eine riesen Show, eine aufgedrängte Interpretation des Daseins von Demenzkranken. Und die armen Bewohner können sich nicht wehren.
Es ist steckt wohl eine Geschäftsidee dahinter, die neuropsychologisch aber keine Grundlage hat.
Worum geht es eigentlich? Es geht darum, der schrecklichen Krankheit Demenz Annäherung, Betreuung und Räumlichkeiten zu geben, die mildernd sind und die schwierige Situationen beruhigen.
Ich habe gelernt, dass alles Manipulative, Täuschende und Hineininterpretierte die Situation eher verschlimmert.
Dies trifft nicht nur auf Menschen mit Demenz zu, sondern auf alle Menschen mit psychiatrischen Krankheiten. Denn viele diese Menschen haben nicht mehr die Fähigkeit, sich zu wehren. Es geht es darum, dass man dies erkennt und dann entscheiden kann zwischen Anflutung und Reizabschirmung.
Auch der psychotische Patient hat ja in einem Wahn gleichzeitig eine sehr realistische Wertung der Situation. Viele Menschen mit Demenz spüren: Das nostalgische Demenzdorf ist gefälscht, es stimmt etwas nicht, hier werde ich angelogen.
Wie äussert sich dies?
In Traurigkeit, Tränen, Verzweiflung und Enttäuschungen. Manchmal auch in Sätzen: «Das stimmt nicht, das ist nicht schön, du lügst mich an!». Ich erlebte es oft, dass Menschen mit Demenz sagten: «Das ist keine Tramstation, da kommt nie ein Tram!» Ein Tram vorzutäuschen ist schlimm genug.
Eine ganze Zeitepoche vorzutäuschen ist in meinen Augen ein Missbrauch von Macht.
Menschen mit Demenz fehlt das Bewusstsein für ihre Krankheit. Sie können es sich nicht erklären.
Wie können wir dem Rechnung tragen?
Ich finde es zum Beispiel nicht gut, wenn die Mitarbeitenden der Spitex in Privatkleidern arbeiten. So nimmt der Mensch mit Demenz sie noch mehr als Eindringlinge in seine Wohnung wahr. Wenn die Mitarbeitenden ihre weisse Schürze tragen, ist ihm klar: Hier kommt eine medizinische Person.
Ich finde auch das sogenannte Normalitätsprinzip der Demenz-Wohngemeinschaften und Bauernhöfe nicht richtig. Was soll denn «normal» sein in dieser Situation?
Am wirksamsten sind Kompetenz und Empathie der Pflegenden und Angehörigen.
Wird die Architektur überbewertet?
Der ganze Rahmen und die Architektur der Institutionen ist in den letzten 20 Jahren aus Marketing-Gründen eindeutig überbewertet worden. Sinnesgärten, Feng Shui und so weiter sind schön, aber sekundär.
Busstation, Nostalgiezimmer und Sinnesgärten verkaufen sich eben gut.
Dabei geht vergessen, dass das Primäre in den Begegnungen stattfindet. Bei einem Besuch des Dementia development service in Schottland sah ich Heime, die sehr einfach ausgestattet waren. Sie boten trotzdem eine exzellente Demenzbetreuung mit grossen Hintergrundwissen – ohne Firlefanz und Interpretationen: Das ist für mich Qualität.
Sie sagen, es tut Menschen mit Demenz in einem späten Stadium der Krankheit nicht gut, wenn man sie mit der Vergangenheit konfrontiert. Sie gehen noch einen Schritt weiter und sagen, man soll diese Menschen nicht mehr mit ihrem Namen ansprechen.
Nicht alle, man muss es zuerst herausfinden.
Welche Erfahrungen machen Sie damit?
Sehr gute. Es geht vor allem darum, dass man sprachlich mehr im Allgemeinen bleibt. Wenn in einer Demenz die Entfremdung zur eigenen Person weit fortgeschritten ist, sollte man die Menschen mit Demenz nicht mehr mit ihrem Namen ansprechen. Dann, wenn sie nicht mehr realisieren, dass sie einen Namen haben, wenn sie sich nicht mehr erkennen, wenn sie nicht mehr wissen, wie alt sie sind.
Ihr Geburtsdatum wissen sie oft noch lange, das ist faktisches Wissen. Aber ihr Alter können sie nicht mehr nennen. Dann sollte man auf die Nennung des Namens verzichten. Wenn man diese Menschen zu etwas auffordern oder motivieren will, sollte man sprachlich im Allgemeinen bleiben. Zum Beispiel sagen: «Jetzt ist es Zeit.» Oder nur den Infinitiv verwenden, liebevoll.