Schlechte Sehkraft erhöht das Demenz-Risiko - demenzjournal.com

Interview

Schlechte Sehkraft erhöht das Demenz-Risiko

Heike Bischoff-Ferrari rät, die Brille immer an den gleichen Ort zu legen, der gut zu sehen ist und den sich der Betroffene merken kann. Bild pixabay

Wie man bei Menschen mit Demenz erkennt, ob sie schlecht sehen und warum es gerade im Alter so wichtig ist, für gutes Sehen zu sorgen.

Ältere Menschen, die schlecht sehen, haben ein erhöhtes Risiko zu stürzen, sich die Knochen zu brechen und gebrechlich zu werden. Die Altersmedizinerin Heike Bischoff-Ferrari aus Zürich plädiert für routinemässige Visus-Checks bei Aufnahme ins Spital und empfiehlt ab dem 65. Lebensjahr einmal im Jahr zum Augenarzt zu gehen.

alzheimer.ch: Frau Bischoff-Ferrari, Sie lassen bei all ihren Patienten die Sehkraft prüfen, wenn sie aufgenommen werden. Warum das denn?

Heike Bischoff-Ferrari: Das gehört bei uns zu einer umfassenden altersmedizinischen Beurteilung. Sehen ist ein zentraler Pfeiler der Lebensqualität und der Gesundheit älterer Menschen. Leider ist es so, dass die Sehkraft mit dem Alter abnimmt. Gut gezeigt haben das zum Beispiel Forscher aus London: Von den 75 bis 79-Jährigen kann jeder sechzehnte nicht mehr gut sehen, von den 80- bis 84-Jährigen jeder zehnte, von den 85- bis 89-Jährigen jeder vierte und bei den über 90-Jährigen ist es mehr als jeder Dritte.

Menschen mit eingeschränkter Sehkraft haben ein zwei- bis fünfach erhöhtes Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Ältere Menschen mit eingeschränkter Sehkraft habe ein etwa doppelt so hohes Risiko für Stürze, Knochenbrüche und Gebrechlichkeit.

Heike Bischoff Ferrari
Heike Bischoff-Ferrari.

Sie sind Direktorin des Zentrums für Alter und Mobilität. Was hat gutes Sehen mit der Mobilität älterer Menschen zu tun?

Gutes Sehen trägt wesentlich dazu bei, dass wir sicher gehen und unser Gleichgewicht halten. Ältere Menschen, die nicht mehr gut sehen, haben deshalb ein erhöhtes Risiko zu stürzen oder sich die Knochen zu brechen. Knochenbrüche bedeuten Spitalaufenthalte und lange Rehabilitation – über diese Kette kann schlechtes Sehen zu einer Einschränkung der Mobilität und zur Isolation führen.

Manchmal geht das so weit, dass sich die Betroffenen nicht mehr vielseitig und ausreichend ernähren, weil die Motivation zu Essen und die Essenszubereitung auch wesentlich über das Sehvermögen mitbestimmt sind. Das erhöht das Risiko, gebrechlich zu werden und seine Autonomie zu verlieren.

Was machen Sie im Alltag, um sehbehinderten Senioren zu helfen?

Gerade im Akutspital ist es besonders wichtig, eine eingeschränkte Sehfähigkeit zu erkennen und bestmöglich zu korrigieren. Wenn die Brille vergessen wurde, versuchen wir die Brille über die Angehörigen schnellstmöglich zu organisieren. Unsere Patienten, die schlecht sehen, sind in der ungewohnten Spitalumgebung enorm sturzgefährdet. Sie haben oft auch grosse Angst davor. In der Altersmedizin haben wir daher ein speziell ausgebildetes Team von Pflegenden und Therapeutinnen, welche diese Patienten bestmöglichst unterstützen.

Kann man mit Vorbeugen etwas erreichen?

Ein gutes Beispiel ist eine Studie aus England mit 306 Frauen über 70, die auf der Warteliste für eine Katarakt-Operation waren. 154 Frauen bekamen die Chance, innerhalb von vier Wochen operiert zu werden. Die übrigen mussten wie üblich rund 12 Monate auf die Operation warten.

Von den operierten Frauen stürzte jede fünfte mehr als einmal, von denen auf der Warteliste jede vierte. Das bedeutet, dass die Katarakt-Operation das Risiko zu stürzen um ein Drittel verringert hat. Ausserdem erlitten die operierten Frauen fast dreimal seltener Knochenbrüche. Abgesehen davon waren die operierten Frauen aktiver, hatten mehr Selbstvertrauen und litten seltener unter Angstgefühlen oder depressiven Verstimmungen.

Sollte man in jedem Krankenhaus die Sehfähigkeit älterer Patienten routinemässig bei Aufnahme prüfen?

In allen Bereichen der Medizin gibt es immer mehr ältere Patienten. Daher lohnt sich auch ausserhalb der Altersmedizin, die Sehfähigkeit als Teil der Anamnese aufzunehmen und sicherzustellen, dass die Brille im Spital angekommen ist und getragen wird. Das lohnt sich auch, damit die Betroffenen schnell wieder mobil werden und es senkt auch das Risiko für ein Delir.

Was raten Sie Senioren ausserhalb der Klinik: Wie häufig sollten die zum Augenarzt gehen?

Ich würde ab 65 Jahren jährlich bis maximal alle zwei Jahre Sehfähigkeit, Augendruck und Sehnerv kontrollieren lassen. Hat ein älterer Mensch das Gefühl, schlechter zu sehen, sollte er sofort zum Augenarzt gehen.

Wie merken Angehörige von Menschen mit Demenz, dass der Betroffene nicht mehr gut sieht?

Ein Hinweis ist, wenn der Betroffene sich nicht mehr so gut orientieren kann. Zum Beispiel, wenn er ein Wasserglas in die Hand nehmen möchte, aber daneben greift. Wie häufig Angehörige mit ihm zum Augenarzt gehen sollen, hängt vom Stadium der Krankheit ab. In einem frühen Stadium ist es enorm wichtig, die Sehkraft zu erhalten und damit sind regelmässigen Kontrollen, am besten einmal pro Jahr, sehr wichtig. Im Stadium der fortgeschrittenen Demenz braucht es eine individuelle Entscheidung. Es hängt auch davon ab, wie sehr die Untersuchung den Menschen mit Demenz belastet und ob sie durchführbar ist.

Was soll man machen, wenn der Mensch mit Demenz ständig seine Brille absetzt und verlegt?

Ich würde die Brille immer an den gleichen Ort legen, der gut zu sehen ist und den sich der Betroffene merken kann – etwa auf den Nachttisch. Ich würde ihm auch immer wieder sagen, dass ihm die Brille hilft, besser zu sehen. Eine Strategie in der unterstützenden Demenz-Forschung ist zudem, ein gut leserliches Schild zu schreiben – zum Beispiel könnte darauf stehen «mit der Brille sehe ich besser».

Danke für das Gespräch.