«Wer bin ich anderes als meine Erinnerungen?» - demenzjournal.com

Erinnern und vergessen

«Wer bin ich anderes als meine Erinnerungen?»

Durch Wiederholung verlieren Erinnerungen an Exklusivität und werden verwechselbar. Bild PD

Der Neurowissenschaftler Pasquale Calabrese erforscht als Mediziner und Psychologe die Funktionsweise des Hirns. Er erklärt, wie Erinnern und Vergessen in unserem Kopf stattfinden und warum nicht alle Menschen sich an dasselbe gleich erinnern.

Herr Calabrese, ich war noch ein Primarschüler, als U-Thant Generalsekretär der Uno war. Ich wurde nie an einer Prüfung nach diesem Namen gefragt. Auch in meinem beruflichen Leben kam dieser Mann nie vor. Inzwischen sind ein halbes Dutzend Männer ihm auf diesem Posten gefolgt, die ich wohl nicht alle aufzählen könnte. Aber U Thant ist mir in Erinnerung geblieben. Warum hat mein Hirn ihn gespeichert?

Pasquale Calabrese: Da gibt es aus der Gedächtnispsychologie verschiedene Erklärungen. Zunächst aber muss man wissen, dass unser Gedächtnis ein zusammengesetztes Etwas ist. Man kann also nicht – wie wir das gemeinhin tun – vom Gedächtnis sprechen und sich dies als grosse Einheit vorstellen.

Als was muss man es sich also vorstellen?

Zur Person

Pasquale Calabrese, 58, ist Professor für klinische Neurowissenschaften an der Universität Basel. Er ist Hirnforscher, experimenteller Neurologe und medizinischer Neuropsychologe. Seine klinische Forschungstätigkeit umfasst die neurobiologischen Grundlagen sowie die verhaltensneurologische und neuropsychologische Diagnostik von neuropsychiatrischen Patienten.

Unser Gedächtnis ist – wie man in der Biologie sagt – kompartimentiert, also aufgeteilt in unterschiedliche Bereiche. Ganz grob könnte man sagen: Es gibt so etwas wie ein bewusstes Gedächtnis und ein unbewusstes Gedächtnis – ein willentliches Gedächtnis und ein unwillkürliches Gedächtnis. In der Wissenschaft redet man vom expliziten und vom impliziten Gedächtnis.

Und welches Gedächtnis speichert was ab?

Das explizite, also das bewusste Gedächtnis, meint einfach die Tatsache, dass es einen Gedächtnisteil gibt, wo Dinge abgespeichert sind, an die man sich erinnern möchte, die man ganz klar deklarieren, also bezeichnen und einordnen kann. Darum gibt es auch den Begriff des deklarativen Gedächtnisses. Aber damit nicht genug. Auch dieses deklarative Gedächtnis ist wieder unterteilt in zwei Teile: Der eine Teil ist das episodische Gedächtnis.

Und was speichert dieses episodische Gedächtnis?

Immer dann, wenn ich mich an etwas aus bestimmten Lebensabschnitten oder eben an gewisse Episoden zu erinnern versuche, dann sind das Erinnerungen, die durch einen zeitlichen Zusammenhang, durch einen Kontext gekennzeichnet sind: Was ist wann wo passiert, und mit wem ist es passiert?

Pasquale CalabreseBild Urs Tremp

Zum Beispiel?

Ich erinnere mich zum Beispiel: Gestern Abend war ich mit meinem Sohn in der Pizzeria und habe mit ihm eine Pizza gegessen. Das ist ein typisches Produkt des episodischen Gedächtnisses. Ich kann eine Episode erzählen, an die ich mich genau erinnere.

Und die andere Hälfte des deklarativen Gedächtnisses?

Die andere Hälfte ist das semantische Gedächtnis. Das ist zwar auch deklarativ, benennt also etwas, das einem bewusst ist. Semantisch aber bedeutet zuerst es einfach, dass ich etwas weiss: Der Eiffelturm steht in Paris zum Beispiel. Oder: Oslo ist die Hauptstadt von Norwegen. Das sind Dinge, die eine Bedeutung haben – darum: semantisch –, auch wenn ich selbst die näheren Umstände nicht kenne. Es sind also für mich keine Episoden, es sind einfach Facts.

Zunächst muss man wissen, dass unser Gedächtnis ein zusammengesetztes Etwas ist.

Und die Erinnerungen in den beiden Teilen des deklarativen Gedächtnisses…

…werden unterschiedlich abgespeichert, jawohl. Aber nun gibt es eine ganze Reihe von Gedächtnisaspekten, die sind nicht bewusst. Das ist das unwillkürliche, unbewusste Gedächtnis.

Und was wird da abgespeichert – ohne dass wir uns dessen bewusst sind?

Sie lernen einmal Fahrradfahren oder Skifahren oder sonst irgendeine Prozedur. Diese Prozedur beherrschen wir, ohne darüber nachzudenken. Deshalb nennen viele Forscher dies das prozedurale Gedächtnis. Diese nicht-deklarativen Erinnerungen sind wiederum ganz anders in unserem Gehirn gespeichert als das episodische oder semantische Gedächtnis.

Wann werden diese unterschiedlichen Gedächtnisse sicht- und erfahrbar – man empfindet es ja selbst als ein Gedächtnis?

Ein Mensch mit einer Alzheimer-Demenz hat zu Beginn der Krankheit meist Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen: Er verlegt die Schlüssel und weiss nicht mehr, wo sie sind. Er weiss nicht mehr, ob er etwas mit jemand anderem besprochen hat oder so etwas.

Meistens also fängt die Alzheimer-Demenz mit dem Verlust des episodischen Gedächtnisses an.

Haben wir uns gestern getroffen? Habe ich heute Morgen gefrühstückt oder nicht? Wenn ja, was? Wer hat mir das Frühstück gebracht? Das wissen diese Menschen sehr schnell nicht mehr. Das episodische Gedächtnis funktioniert nicht mehr.

Aber das semantische Gedächtnis – ein Auto ist ein Auto – daran erinnern sie sich noch. Und das prozedurale Gedächtnis, das unbewusste Gedächtnis behalten sie sowieso. Diese Menschen können noch ganz selbstverständlich gehen, und manche können noch Klavierspielen.

Sofern sie es einmal gelernt haben.

Ja. Und wenn wir von diesen unterschiedlichen Gedächtnissen ausgehen, dann wird viel klarer, wie das Gedächtnis und das Erinnern funktionieren.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

Jetzt spenden

Nun verliere ich allerdings auch als nicht dementer Mensch die Erinnerungen. Ich weiss noch, mit wem ich gestern zu Nacht gegessen habe – und was. Wenn ich mich aber erinnern soll, wie es vor drei Wochen genau war, dann wird die Erinnerung vager. Und erst recht, wenn es um etwas geht, was vor zwei Monaten oder zwei Jahren passiert ist.

Wenn Dinge sich immer wiederholen und deshalb im Einzelnen nicht mehr von grosser Bedeutung sind, dann hat dies einerseits den Vorteil, dass diese Dinge sich verfestigen können – wenn wir uns zum Beispiel auf eine Prüfung vorbereiten. Andererseits verlieren sie durch die Wiederholung an Exklusivität, was bedeutet, dass sie verwechselbar werden.

Wenn Sie in einer Menschenmasse, in der erst noch alle gleich oder ähnlich gekleidet sind, sich an ein bestimmtes Gesicht oder eine Gestalt erinnern müssen, dann ist es schwierig, sich zu erinnern. Ist aber ein einziger Mensch darunter, der eine andere Hautfarbe und einen andersfarbigen Anzug hat, dann werden Sie diese Person weniger schnell vergessen.

Erklärt das auch, warum ich mich an U Thant erinnere?

Ja. Dieser Name ist Ihnen geblieben, weil er in Ihren Kinderohren exotisch und aussergewöhnlich geklungen hat. Hätte er einen Allerweltsnamen gehabt, hätten Sie ihn längst vergessen. Was ich hierzu ergänzen möchte: Kindheitserinnerungen sind sehr prägend. Das hat damit zu tun, dass wir als Kind täglich etwas Neues lernen. Später – wenn man 30, 40, 50 ist – kommt nicht mehr täglich etwas Neues dazu. Dann muss es etwas sehr Besonderes sein, dass wir uns lange daran erinnern. Aber als Kind ist jeder Tag eine neue Erfahrung.

Ich lerne aber auch in fortgeschrittenem Alter noch neue Menschen kennen. Ich bin zum Beispiel an einer Vernissage und werde jemandem vorgestellt. Zwei Stunden später, wenn ich mich verabschieden will, fällt mir der Name beim besten Willen nicht mehr ein. Was passiert denn da? Das ist doch auch eine neue Erfahrung.

Das ist tatsächlich eine ganz interessante Sache. Das hat nicht allein mit dem Gedächtnis zu tun, sondern auch mit der Aufmerksamkeit. Da werden mir etwa die Frau Brotschi, der Herr Gemperle und der Herr Wiederkehr vorgestellt. Jetzt hängt es von der assoziativen Stärke ab, die diese Namen für einen haben.

Das heisst?

Angenommen, ich kenne eine Nachbarin, die auch Brotschi heisst. Aha, dann weiss ich auch zwei Stunden später noch, dass die Frau, der ich vorgestellt wurde, die Frau Brotschi ist. Oder Herr Gemperle hat vielleicht ein besonderes Aussehen, ist besonders gross oder hat einen auffälligen Bart oder sonst etwas. Dann hat man Assoziationshilfen, die einen helfen, Dinge zusammenzubringen und im Gedächtnis abzuspeichern.

Wenn ich also Bezeichnungen und Dinge nicht einander zuordnen kann, dann drohen sie sofort vergessen zu werden. Warum funktioniert das bei einer Vernissage schwerer als zum Beispiel bei einer Fussballmannschaft? Nicht wenige, vor allem männliche Zuschauer kennen alle Spieler der – sagen wir – zehn wichtigsten Mannschaften an einer WM-Endrunde. Sie sehen sofort, wer auf dem Feld steht und wer nicht. Warum funktioniert das Erinnern da so viel besser? Fussballer sind ja äusserlich nicht alle auffällige Erscheinungen.

Da kommt etwas ins Spiel, was ganz zentral ist beim Erinnern: die Emotionen. Je gefühlsbehafteter ein Erlebnis ist, desto besser werden wir uns dieses Erlebnis merken. Und Fussball ist eine gefühlsbetonte Sache. Umso stärker prägt sich bei vielen ein, was sie mit Fussball schon erlebt haben. Da gehören die einzelnen Spieler selbstverständlich dazu. Sie sorgen für ausserordentliche, starke emotionale Momente.

Die Namen von Fussballern, die längst nicht mehr spielen, sind uns oft vertrauter als die Namen der Personen, die uns vor zwei Stunden vorgestellt worden sind.Bild PD

Wenn ich allerdings an mich selbst denke, so merke ich auch, dass bei mir die emotionale Beteiligung nachgelassen hat, auch wenn mich Fussball noch immer interessiert. Ich kann nicht mehr wie in meiner Jugend die Aufstellung der Schweizer Nationalmannschaft runterbeten.

Dann hat Sie das tatsächlich in Ihrer Jugend emotional stärker getroffen als heute. Darum wissen Sie alle die Namen von damals noch. Neue Dinge lernen wir dann eher schwerer. Wir lernen sie je besser, je mehr wir sie mit alten Dingen assoziieren können.

Oder eben: je besser sie uns emotional ansprechen. Seit Ihrer Jugend hat es etliche Fussballweltmeisterschaften gegeben. Aber in Ihrer Erinnerung sind die Weltmeisterschaften in Ihrer Kindheit und Jugend die schönsten und interessantesten. Das ist nicht verwunderlich.

Erinnerungen unterliegen immer einer gewissen Verzerrung.

Das bedeutet?

Erstens: Jedes Mal, wenn Sie sich an etwas erinnern, tragen Sie dazu bei, dass sich diese Erinnerung verändert.

Wie denn?

Weil Sie sich an weitere Details erinnern oder weil Sie gerade in einer bestimmten emotionalen Stimmung sind, die Ihnen vorgibt, wie Sie sich erinnern sollen. Irgendwann ist dieses Bild ziemlich verzerrt und hat sich weit vom Original entfernt.

Ist dies auch der Grund, warum Menschen, die mit mir zusammen dasselbe erlebt haben, sich später ganz anders daran erinnern?

Ja. Denn jemand anderer hat danach anderes erlebt, hat anders über das gemeinsam Erlebte nachgedacht, ihm kamen andere Details in den Sinn – und so kam er zu seiner eigenen Erinnerung, die sich wesentlich von Ihrer Erinnerung unterscheiden.

Wo werden denn diese emotionalen Erinnerungen abgespeichert? Sie können ja derart stark sein, dass sie einen auch beim Erinnern noch einmal durchschütteln.

Diese emotionalen Erinnerungen sind Teil des episodischen Gedächtnisses. Die emotional starken Erinnerungen sind hier abgespeichert. Offenbar sehr tief. Denn auch Menschen mit einer demenziellen Erkrankung, deren episodisches Gedächtnis ja stark betroffen ist, können sich an emotionale Ereignisse – zum Beispiel aus der Kindheit – oft noch sehr gut erinnern.

Vortrag von Pasquale Calabrese am Seeklinik Symposium in Brunnen

Quelle Seeklinik/YouTube

Warum ist das so eingerichtet? Es gibt ja nicht nur schöne Gefühle, an die wir uns gerne erinnern, sondern auch unschöne. Die möchte man doch lieber vergessen.

Dass wir sie nicht vergessen, ist überlebenswichtig. Das hat die Evolution so vorgeschrieben. Warum? Weil erinnerte negative Erlebnisse uns warnen sollen, damit sie nicht noch einmal passieren. Darum sollen wir uns daran erinnern, was die Konsequenz sein könnte.

Man muss sich das so vorstellen: Unsere Vorvorvorfahren, die noch sehr ungeschützt lebten, mussten sich immer daran erinnern, wo es gefährlich wird, welche Wege man meiden muss, um nicht in Todesgefahr zu geraten.

Auch wenn viele Menschen mit der ersten Liebe auch den ersten schmerzhaften Liebeskummer erleben, verlieben sie sich später wieder. Sie müssten doch auch gewarnt sein.

Auf jeden Fall ist die erste Liebe eine emotionale Erfahrung, die sich stark einprägt in der Erinnerung, im episodischen Gedächtnis. Wir denken gerne daran zurück – oder eben nicht so gerne. Je nachdem, ob dieses Ereignis schliesslich als positive Episode erlebt wurde, möchte man es gerne wieder haben. Oder man vermeidet eine erneute Enttäuschung von vornherein, weil man denkt, dass die Sache wiederum nicht gut ausgehen wird.

Die erste grosse Liebe prägt sich tief im Gehirn ein.Bild PD

Nicht alle episodischen und erst recht nicht die semantischen Erinnerungen berühren uns auch Jahre später emotional noch so wie die erste Liebe. Verschwinden diese Erinnerungen schliesslich im Nirgendwo, wenn wir sie nicht mehr abrufen?

Wir gehen davon aus, dass in einem intakten Hirn alle gespeicherten Erinnerung noch vorhanden sind.

Dann vergessen wir gar nichts?

Wir speichern nicht alles ab. Sie müssen sich vorstellen: Wir sind permanent Umweltreizen ausgesetzt. Unsere Ohren, unsere Augen, ganz allgemein: Unsere Sinne nehmen dauernd etwas wahr.

Wir brauchen Filter, damit wir am Ende vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.

Das bedeutet: Wir können nicht jedes Detail abspeichern, sondern wir speichern Gruppen von Details ab, sofern diese von uns von Bedeutung sind. Sonst würden wir an diesem Informationsstrom letztlich verzweifeln. Das heisst: Nicht abspeichern – oder wir können auch sagen: vergessen – hat auch seinen guten Zweck und ist gesund.

Was wir aber abspeichern, bleibt in der Erinnerung gespeichert wie auf der Festplatte eines Computers?

Ja. Nur sind die Erinnerungen eben nicht mehr aktiv, weil die richtigen Netzwerke nicht angesprochen sind.

Das heisst?

Wenn das richtige Signal ertönt, die richtige Reizkonstellation da ist, können sich diese Erinnerungen wieder aufdrängen und sind wieder sehr lebhaft da. Auch Dinge, die jahrelang, jahrzehntelang verschüttet waren.

Warum ergeben schliesslich alle Erinnerungen, die wir haben, ein doch recht stimmiges Bild von einem selbst und vom eigenen Leben?

Weil die Erinnerungen bei uns ein Kohärenzgefühl aufbauen. Würde ich jeden Morgen erwachen und würde mich nicht in einen Sinnzusammenhang denken und erinnern können, hätte ich gar nie ein einheitliches Bild von mir. Denn: Wer bin ich anderes als meine Erinnerungen?

Wenn ich mich vorstelle, dann sage ich: Ich heisse so und so, ich mache das und das, mag dies und das… Diese Aufzählung ist nichts anderes als Erinnerung. Nähme man mir diese Erinnerung weg, bliebe nichts von der Persönlichkeit übrig.

Das ist ja das Tragische an der Alzheimer-Demenz: Dass mit den wegbrechenden Erinnerungen immer mehr von der Person wegbricht.


Dieser Beitrag erschien im Frühjahr 2019 in der Zeitschrift «Curaviva». Wir bedanken uns bei Curaviva Schweiz und beim Autor Urs Tremp für die Möglichkeit der Zweitverwertung.