«Cannabis ist eine medizinische Schatztruhe» - demenzjournal.com

Interview

«Cannabis ist eine medizinische Schatztruhe»

«Es gibt ein grosses Wissensmanko, was sich in den zahlreichen Anfragen nach mehr Informationen zeigt, vor allem von Seiten der Ärzte.» Bild PD

Pflegefachfrau Bea Goldmann ist Mitglied der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin SACM. Sie hat bereits 15 Jahre Erfahrung mit Cannabis in der Berufspraxis.

Frau Goldmann, seit wann arbeiten Sie mit Cannabis?

Es begann 2004 bei der Arbeit mit Patienten mit Multipler Sklerose mit extremer Spastik und starken Muskelkrämpfen. Für sie gab es keine therapeutischen Möglichkeiten. Cannabis erwies sich als einziges Mittel gegen die heftigen Symptome.

Ich begann mich vertieft mit dem Thema zu befassen. Ich erfuhr viel und war je länger je mehr von den Möglichkeiten fasziniert, die Cannabis bei den verschiedenen Symptomen und Beschwerden der Patienten bietet. Vor allem im Vergleich mit neurologischen Schmerzmitteln mit erheblichen Nebenwirkungen oder im Zusammenhang mit Chemotherapien oder Antispastika.Bild 1

Sie wurden zu einer Expertin auf dem Gebiet …

Meine Erfahrungen machte ich in engem Austausch mit Patienten und Angehörigen, Cannabisproduzenten, Wissenschaftlern und Gesundheitsfachpersonen.

Ich nahm an zahlreichen Kongressen teil, manchmal auch in meiner Freizeit. Ich habe sehr viel Interessantes über diese medizinische Schatzkiste Cannabis und ihre zahlreichen therapeutischen Möglichkeiten gelernt.

Ich kam mit zahlreichen Menschen in Kontakt, die ähnliche Ideen hatten.

Mit der Zeit entstand daraus ein solides Netzwerk, das Früchte trägt und auch mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zusammenarbeitet.

Arbeiten Sie nur mit CBD-Produkten oder auch mit solchen auf der Basis des psychoaktiven THC?

Das Augenmerk liegt auf Magistralpräparaten auf der Basis von THC. Aber ich arbeite seit einiger Zeit auch mit CBD, was nicht immer ohne Probleme funktioniert.

Wie schätzen ihre Kolleginnen und Kollegen aus Pflege und Ärzteschaft das medizinische Cannabis ein?

Im allgemeinen sehr positiv. Es gibt aber ein grosses Wissensmanko, was sich in den zahlreichen Anfragen nach mehr Informationen zeigt, vor allem von Seiten der Ärzte. Aktuell erhalte ich viele Einladungen in Qualitätszirkel, wo man über Therapiemöglichkeiten mit medizinischem Cannabis redet, über seine Wirkungsweise und die Nebenwirkungen, aber auch über die Edukation der Patienten.

Die Diskussionen drehen sich auch um Fragen der Dosierung, der Vor- und Nachteile der einzelnen in der Schweiz erhältlichen Magistralpräparate, deren Indikationen und Anforderungen bei der Verschreibung.

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Unter welchen Krankheiten leiden Ihre Patienten?

Fast die Hälfte der Ausnahmebewilligungen, die das BAG für die Anwendung von medizinischem Cannabis erteilt, betreffen Menschen mit neurologischen Krankheiten.

Die wichtigsten Indikationen sind neuropathische Schmerzen, Spastik, muskuläre Schmerzen und Krämpfe. Cannabis wird auch komplementär bei Chemotherapien eingesetzt, um den Appetitverlust zu behandeln, bei Übelkeit und Kachexie sowie in palliativen Situationen, bei starken Schmerzen oder Schlaflosigkeit.

Leiden Ihre Patienten an Nebenwirkungen?

Etwa 30 Prozent sprechen nicht auf Cannabis an. das heisst sie haben nur Nebenwirkungen oder zeigen gar keine Reaktion. Das muss man den Patienten erklären. In der Posologie hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden.

Um Überdosierungen zu vermeiden, handelt man nach der Devise «Start low, go slow», also tief dosiert anfangen und vorsichtig weitermachen. Man kann die Fälle von Überdosierungen in den letzten zehn Jahren an einer Hand abzählen.

Es gibt diverse Studien zu medizinischem Cannabis. Meta- Analysen zeigen jedoch meist einen unbedeutenden Effekt …

Das hat viel mit dem Forschungsdesign zu tun: Die Fragestellung passt nicht, es mangelt an Homogenität, man untersucht zu kleine Populationen. Die Studien werden mit Monosubstanzen durchgeführt, auf welche die Patienten bei tiefer Dosierung mit Nebenwirkungen reagieren.

Oder es werden nicht standardisierte Lösungen in Form von Mischungen aus mehreren Bestandteilen als Testsubstanz verwendet, dadurch werden ungleiche Inhalte analysiert. Man muss anders als üblich über die aus einer Medizinalpflanze stammenden Cannabinoide forschen.

Müsste nicht auch die Medizin auf Basis von Cannabis anders betrachtet werden?

Genau. Es bleibt viel zu tun, auch wenn die Anzahl der Publikationen in diesem Bereich in den letzten Jahren explodiert ist. Das Problem ist, dass die Präparate teuer sind und die Chance für ein «Blockbuster»-Medikament, das sich in grossem Stil verkaufen lässt, gering ist.

Das Interesse der grossen Pharmafirmen ist daher beschränkt. Dazu kommt, dass zum Beispiel in Oregon, wo medizinisches Cannabis legalisiert worden ist, die Verkäufe der grossen Pharmafirmen um 40 Prozent eingebrochen sind.

In der Schweiz ist die Industrie in den letzten Monaten aufgewacht, Sandoz hat sich mit Tilray zusammengetan, einem kanadischen Hersteller von medizinischem Cannabis. Wir werden sehen, was das für die betroffenen Menschen bedeutet.


Die Sicht des Apothekers

«Wichtig ist ein vernünftiger kombinierter Ansatz»


Der Apotheker Simon Reboh, Experte für Mikronährstoffe und Doktor in traditioneller chinesischer Medizin, leitet die Sensù-Apotheke in Lausanne. Sein Interesse für Phytotherapie brachte ihn dazu, Präparate auf der Basis von CBD und THC zu entwickeln. «Wir stellen im Labor der Apotheke auf die Bedürfnisse der Patienten angepasste Heilmittel her», erklärt er. Dazu gehören CBD-Lösungen mit 5, 10 und 20 mg oder Kapseln mit 25 mg. Dies angepasst an die Bedürfnisse der Patienten.

Netzwerk mit Psychiatern und Ärzten


Simon Reboh arbeitet mit Psychiatern und Ärzten zusammen. Diese seien nur wenig informiert über die Eigenschaften von Cannabis und verwiesen darum Patienten bei Anfragen an den Apotheker. Simon Reboh ist überzeugt, dass Cannabis mehr therapeutische Möglichkeiten bietet als andere Arzneipflanzen.

Vor allem bei Angststörungen wird CBD empfohlen, auch bei jüngeren Menschen. «CBD beeinflusst insbesondere den Schlaf und Angstzustände, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Ich stehe mit verschiedenen Psychiatern in Verbindung, die ich bei der Medikation unterstütze.

Es gibt Beispiel-Fälle von Kindern oder Jugendlichen vor der Pubertät, die unter Stress oder Ängsten leiden. »Manchmal lehnen es die Eltern ab, dass ihr Kind Antidepressiva oder Neuroleptika bekommt.» Zudem bestehe bei solchen Medikamenten ein Abhängigkeitsrisiko. In akuten Situationen könnten sie nützlich sein,  nicht aber über längere Zeit.

«Wir berücksichtigen das Profil des Patienten und seine Einschränkungen, zum Beispiel eine Resistenz auf ein Medikament.» CBD könne als Schalter dienen, aber er empfehle nicht nur das. Vielmehr nutzt er auch sein Wissen über Mikronährstoffe, um dem Patienten zu helfen, ein Gleichgewicht zu finden. «Mein Ansatz ist übergreifend, er beinhaltet auch die klassische und die fernöstliche Pharmakologie. Das ist ein integrativer und interprofessioneller Prozess, hin zu einer personalisierten Therapie.»

Cannabis in der Onkologie


Arzneimittel auf der Basis von Cannabis haben den Vorteil, dass sie natürlich und ungiftig sind. Eine vernünftige Dosierung verhindert zudem das Risiko einer Abhängigkeit von THC. «CBD hat in der Onkologie eine grosse Bedeutung, wo es oft mit THC zusammen verwendet wird, denn THC kann in spezifischen Dosierungen die Wirkung von CBD verstärken», sagt Simon Reboh.

Auch hier sei eine enge Zusammenarbeit mit den Ärzten in der Onkologie wichtig. So könne man anstatt hochdosiertem Kortison CBD verschreiben. «Kortison hat Vorteile, aber nur begrenzt, nicht langfristig. Vor allem, weil Kortison auf längere Zeit das Immunsystem unterdrückt. Damit verlagert man lediglich das Problem. Wichtig ist ein vernünftiger kombinierter Ansatz.»

Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift «Krankenpflege» des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner), Nr.3/2019. Herzlichen Dank an die Redaktion für die Gelegenheit der Zweitverwertung!