Eine Prüfung durch die obersten französischen Gesundheitsbehörde hat gezeigt: Die Medikamente schaden mehr als sie nützen. Nun dürfen sie dort nicht mehr zulasten der Krankenkassen verordnet werden. In Deutschland ist ein solcher Schritt nicht so leicht möglich.

Allein 2017 haben niedergelassene Ärzte in Deutschland ihren Patienten insgesamt 90 Millionen Tagesdosen dieser Mittel zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet. Den grössten Teil – 67 Millionen Tagesdosen – machten je zu etwa der Hälfte Donezepil und Memantin aus.

2017 haben deutsche Ärzte 90 Millionen Tagesdosen Cholinesterase-Hemmer verordnet.Bild Dominique Meienberg

Glaubt man der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, spielen Cholinesterase-Hemmer und Memantin in der Demenz-Therapie eine «wichtige Rolle» und zwar zur «Aufrechterhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit und der Alltagsbewältigung». So steht es in einem Informationsblatt im Internet.

Begründung: Bei der Alzheimer-Krankheit würden Veränderungen bei zwei biochemischen Botenstoffen dazu beitragen, dass die typischen Symptome zustande kommen. Einerseits bestehe ein Mangel an Acetylcholin, andererseits ein Überschuss von Glutamat.

Cholinesterase-Hemmer

Sie sind seit fast zwanzig Jahren auf dem Markt und gehören zu den Blockbustern der Arzneimittelindustrie: die zur Behandlung der Alzheimer-Demenz angebotenen, sogenannten Cholinesterase-Hemmer Donepezil (Aricept, Yasnal, Memac), Rivastigmin (Exelon, Protemax, Nimvastid u. a.) und Galantamin (Reminyl, Galafix, Galamil u. a.) sowie der NMDA-Rezeptorantagonist Memantin (Axura, Ebixa, Memando u. a.).

«Beide Veränderungen können durch Medikamente teilweise ausgeglichen werden», betonen die Autoren Alexander Kurz und Timo Grimmer vom Klinikum Rechts der Isar in München. Cholinesterase-Hemmer wie Donepezil oder Rivastigmin würden den Abbau des Überträgerstoffs Acetylcholin verhindern.

Dadurch stehe den Gehirnzellen eine grössere Menge dieses Überträgerstoffs zur Verfügung. Memantin wiederum «schütze Nervenzellen vor der störenden und schädlichen Dauerstimulation durch den Überträgerstoff Glutamat, der aus geschädigten benachbarten Nervenzellen freigesetzt wird».

Heilen lasse sich die Alzheimer-Demenz zwar noch mit keiner Therapie, gestehen die Donepezil-Hersteller Eisai und Pfizer in einem Flyer für Laien. Dennoch sei etwa durch die konsequente Verabreichung eines Cholinesterase-Hemmers wie Donepezil viel gewonnen, heisst es darin. Denn mit dem Präparat könne «die Heimeinweisung häufig um fast zwei Jahre verzögert werden».

Was sowohl Eisai und Pfizer als auch die Alzheimer Gesellschaft verschweigen: Seit Jahren ist der Nutzen aller vier auf dem Markt befindlichen Alzheimer-Medikamente höchst umstritten.

Die mit öffentlichen Geldern finanzierte britische Langzeitstudie «AD2000» etwa hat schon vor einigen Jahren gezeigt, dass zum Beispiel der Cholinesterase-Hemmer Donepezil keineswegs – wie von Pfizer behauptet – die Einweisung der Betroffenen in ein Heim um bis zu zwei Jahre hinauszögert.

Das ernüchternde Ergebnis wurde später durch eine umfassende Analyse von Forschern um die Medizinprofessorin Hanna Kaduszkiewicz, die heute an der Universität Kiel lehrt, bestätigt.

Unabhängige Experten wie die Herausgeber des Ärzte-Newsletters arznei-telegramm raten daher seit Jahren von der Anwendung der Mittel ab. Auch nach Ansicht der US-Verbraucherschutzorganisation Public Citizen sollten Betroffene weder Memantin noch irgendeines der anderen Alzheimer-Medikamente nehmen.

Sie stuft alle verfügbaren Antidementiva als Präparate als «Do Not Use drugs» ein. Dennoch geben gesetzliche Krankenkassen in Europa jedes Jahr viel Geld für die Erstattung von Alzheimer-Medikamenten aus.

In Frankreich lagen die Kosten bis vor kurzem bei rund 90 Millionen Euro, in Deutschland waren es 2017 gut 100 Millionen Euro.

Schlimm genug, wenn weltweit jährlich Milliarden von Euro für Medikamente verschwendet werden sollten, die nichts nützen. Doch Alzheimer-Medikamente haben auch erhebliche Nebenwirkungen.

Memantin zum Beispiel ruft häufig Schwindel, Benommenheit, Kopfschmerz und Halluzinationen sowie Erbrechen und Appetitlosigkeit hervor. Einige Patienten werden durch das Mittel verwirrt und schläfrig. Bei anderen löst es Psychosen, massive Unruhe, Sinnestäuschungen, Wahn und Todesangst aus.

Auch die Liste der Nebenwirkungen von Cholinesterase-Hemmern ist lang. Sie verursachen nicht nur häufig Muskelkrämpfe, Müdigkeit, Erbrechen, Durchfall und Appetitlosigkeit sowie Schwindel, Halluzinationen, Gewichtsverlust oder Kopfschmerzen.

Mehrere Studien haben auch gezeigt, dass die Sterblichkeit unter Patienten, die Cholinesterase-Hemmer erhalten, auf bis auf das Dreifache erhöht ist. Die häufigsten Todesursachen, so stellte sich heraus, waren Herz-Kreislauf-Probleme wie etwa Durchblutungsprobleme im Gehirn, die sich unter anderem in Ohnmachtsanfällen äusserten, sowie mehrere Selbstmorde.

Die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn.Bild PD

Angesichts derlei alarmierender Fakten nahm die oberste französische Gesundheitsbehörde, die Haute Autorité de Santé (HAS), eine Neubewertung der Mittel vor.

Das Ergebnis war niederschmetternd. Ein Nutzen der Mittel für so wichtige Kriterien wie Lebensqualität oder Krankheitsverlauf, stellten die Prüfer fest, sei keineswegs belegt. Die Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen dagegen sehr wohl, darunter Herz-Kreislauf-Probleme, geistig-seelische Störungen, Stürze und schwere Hautreaktionen.

Die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn ist der Empfehlung der HAS gefolgt und entschied: Angesichts der mangelnden Wirkung der Medikamente gebe es keinen Grund, die Kosten dafür zu erstatten.

Seit August 2018 ist in Frankreich mit der Verordnung von Alzheimer-Medikamenten zulasten der Krankenkassen Schluss. Ähnliche Einschränkungen für Alzheimer-Mittel in Deutschland sind nicht in Sicht.

Um ein Arzneimittel von der Kostenerstattung auszuschliessen, bestehen in Deutschland deutlich höhere Hürden.

«Fehlende Nutzenbelege bei einzelnen Endpunkten sind für einen Ausschluss nicht ausreichend», teilt der Gemeinsame Bundesausschuss mit, der für Verordnungsausschlüsse und Therapiehinweise zuständig ist.

Um die Verordnungsfähigkeit bestimmter Arzneimittel einzuschränken oder auszuschliessen, müsse «die Unzweckmässigkeit erwiesen sein oder eine andere wirtschaftliche Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar sein».

Ein Kunststück, wenn man bedenkt, was namhafte führende Vertreter der Medizin im Kompendium des besten verfügbaren Wissens auf diesem Gebiet gestehen. In der aktuellen S3-Leitlinie Demenzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde nämlich steht:

Ob eine Behandlung bei einem individuellen Demenzkranken wirksam ist oder nicht, kann niemand messen. Klar definierte Kriterien für einen Therapieerfolg gibt es den Experten zufolge schlicht nicht.