Schützt Vitamin D vor Stürzen? - demenzjournal.com

Widersprüchliche Studien

Schützt Vitamin D vor Stürzen?

Direkte Sonnenbestrahlung der Haut unterstützt die Bildung von Vitamin D. Bild PD

Erst zeigte eine Studie, dass Vitamin D ältere Menschen vor Stürzen schützt, und jetzt sagt eine andere genau das Gegenteil. Ja, was denn nun? Die Zürcher Professorin Heike Bischoff-Ferrari erklärt, wie es zu so widersprüchlichen Ergebnissen kommen konnte und wer wirklich Vitamin D braucht.

2009 zeigte eine Studie mit mehr als 8000 Menschen über 65 Jahren, dass Vitamin D vor Stürzen schützt. Drei Jahre später kam in einer Untersuchung mit 30 000 Senioren heraus, dass das Vitamin auch vor Hüft- und anderen Knochenbrüchen bewahrt. Seither propagieren Mediziner landein, landaus: Jeder ältere Mensch sollte Vitamin D nehmen, und am besten das ganze Jahr hindurch. Eine der Haupt-Befürworterinnen war damals Heike Bischoff-Ferrari. Die Professorin für Altersmedizin und Altersforschung am Unispital Zürich hatte diese Studien geleitet.

Doch nun wiederlegen Forscher aus China Frau Bischoffs Empfehlung. Sie werteten 33 Studien mit 51.145 zu Hause lebenden Menschen im Alter von 50 und älter aus. Das ernüchternde Fazit: Egal ob die Leute Vitamin D nahmen – sie brachen sich genauso häufig die Knochen wie diejenigen, die ein Scheinpräparat oder gar nichts bekamen. Wie kann es zu solch widersprüchlichen Ergebnissen kommen? Wir haben bei Frau Bischoff-Ferrari nachgefragt.

alzheimer.ch: Frau Bischoff-Ferrari, erst Hüh, dann Hopp. Warum haben die Kollegen aus China ganz andere Ergebnisse vorgelegt als Sie?

Heike Bischoff-Ferrari: Das hat einige Gründe, ich nenne Ihnen die wichtigsten. Die Kollegen aus China haben in ihre Studie fittere Leute eingeschlossen als wir. Gebrechliche Senioren in Alters- oder Pflegeheimen durften an ihrer Studie gar nicht teilnehmen.

Heike Bischoff-Ferrari ist Professorin für Altersmedizin und Altersforschung am Unispital Zürich und im Zürcher Stadtspital Waid.Bild Sabina Bobst/Lunax

So können sie gar nicht sagen, ob Vitamin D bei gebrechlichen älteren Menschen Knochenbrüche verhindern kann. Jüngere, fitte Leute haben seltener einen Vitamin-D-Mangel als gebrechliche Senioren und stürzen auch seltener.

Wenn jemand keinen Mangel hat oder selten stürzt, ist es schwieriger nachzuweisen, ob Vitamin D nützt. Ausserdem haben die Kollegen in ihre Auswertung viele Studien eingeschlossen, die qualitativ nicht so gut sind.

Was bedeutet das?

Ein Drittel der Studien dauerte zum Beispiel weniger als ein Jahr. Das ist zu kurz, um zu zeigen ob Vitamin D vor Knochenbrüchen schützt. Vitamin D wirkt nämlich erst nach ein paar Monaten.

Einige Studien wurden nicht mit Placebo verglichen, und in einer wurden sogar falsche Knochenbruch-Zahlen angegeben. Ausserdem wurde nicht kontrolliert, ob die Teilnehmer auch korrekt das Vitamin D einnahmen. In einer der Studien hatte zum Beispiel jeder zweite das Vitamin gar nicht genommen. Nehmen die Teilnehmer kein Vitamin, kann das natürlich auch nicht vor Knochenbrüchen schützen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von den Ergebnissen der chinesischen Kollegen erfuhren?

Dass es immer gut ist, wenn eine Meinung hinterfragt wird. Es ist aber wichtig, dass jede neue Studie sorgfältig geplant und durchgeführt wird. Das haben die chinesischen Kollegen nicht gemacht, deshalb hat ihre Studie Mängel und sorgt jetzt für Verunsicherung.

Wollten die Kollegen Sie auf Teufel komm raus kritisieren? Warum haben die so schlampig gearbeitet?

Nein, ich glaube nicht, dass sie auf meine Studie gezielt haben. Sie haben einfach alle Daten zu Vitamin D in einen Topf geworfen, statt nur solche Studien einzuschliessen, die qualitativ gut gemacht sind.

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Ändern Sie jetzt Ihre Empfehlungen?

Nein. Erstens habe ich Ihnen ja die Mängel der chinesischen Studie erklärt. Zweitens erwarte ich in den kommenden Monaten neue Ergebnissen aus zwei grossen Studien zur Vitamin-D-Gabe bei aktiven, zu Hause lebenden Senioren. Das eine ist unsere DO-HEALTH Studie, die andere die VITAL-Studie aus den USA. Danach werden wir mehr wissen.

Dennoch, als älterer Mensch wäre ich jetzt ziemlich verwirrt. Soll man jetzt Vitamin D nehmen oder nicht?

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt nach wie vor 800 Einheiten Vitamin D pro Tag bei Menschen ab 60 Jahren – unabhängig von der Jahreszeit. Damit kann man sicher einen Vitamin-D-Mangel beheben, den schätzungsweise jeder zweite ältere Mensch hat. Und eines ist gut bewiesen: Ein Vitamin-D-Mangel im Alter erhöht das Risiko für Stürze und Knochenbrüche enorm.

Es gibt aber auch Studien, die aufzeigen, dass zu viel Vitamin schadet.

Ja, aber das bezieht sich vor allem auf grosse Mengen Vitamin D, die einmal pro Monat oder pro Jahr verabreicht werden. In zwei Studien haben 60 000 – 100 000 Einheiten pro Monat das Risiko für Stürze erhöht, und in einer anderen Studie bekamen die Teilnehmer mit 500 000 Einheiten öfter Knochenbrüche.

Deshalb rät das BAG auch nicht mehr zu einer jährlichen Bolus-Dosis, wie es das früher gemacht hat. Mit 800 Einheiten Vitamin D am Tag oder 24 000 Einheiten im Monat ist man auf der sicheren Seite.

Braucht ein Senior, der viel draussen an der Sonne ist, auch Vitamin D?

In der Regel ja, und ganz sicher im Winter, weil wir mit zunehmendem Alter weniger Vitamin D in der Haut produzieren können.

Sollte man nicht lieber den Vitamin-D-Spiegel messen, bevor man das Vitamin zu sich nimmt?

Das BAG und internationale Richtlinien empfehlen eine Einnahme von 800 Einheiten am Tag ohne Kontrolle des Blutspiegels, weil diese Menge sicher ist und den Mangel behebt – egal ob man genügend oder zu wenig Vitamin D hat.

Ich empfehle aber, den Spiegel zu messen, wenn ich einen schweren Vitamin-D-Mangel vermute. Zum Beispiel bei Menschen mit Übergewicht, Osteoporose oder einem dunkleren Hautton. Bei schwerem Mangel braucht man nämlich mehr Vitamin D.

Hüftknochenscreening im WaidspitalBenno Gut Pictures

Was schützt sonst noch vor Stürzen?

Trainingsprogramme, mit denen man Kraft und Gleichgewicht trainiert. Damit sinkt das Sturzrisiko um bis auf die Hälfte!  

Manche Leute werfen Ihnen vor, Sie würden sich so für Vitamin D einsetzen, weil sie von den Vitamin D-Herstellern gesponsert seien. Stimmt das?

Nein. Die Studien meines Forschungsteams werden zum grössten Teil vom Schweizerischen Nationalfonds, der Europäischen Union, der Universität Zürich und von unabhängigen Stiftungen finanziert.

Auf Vitamin D gibt es kein Patent, und die Hersteller haben deshalb keine Motivation, Geld in Studien zu investieren wie das bei vielen Medikamenten der Fall ist.

Ich forsche über Vitamin D, weil es eine verträgliche und preiswerte Behandlung ist und möglicherweise die Gesundheit älterer Menschen verbessern kann. Deshalb habe ich auch die DO-HEALTH Studie gestartet.

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Was wollen Sie mit dieser Studie klären?

Ob eine tägliche Zufuhr von 2000 Einheiten Vitamin D den normalen Alterungsprozess bremsen kann, etwa indem das Vitamin das Gedächtnis verbessert oder das Herz-Kreislauf-System länger gesund bleibt. An der Studie nehmen 2157 Teilnehmern ab 70 Jahren aus 5 Ländern Europas teil, wobei die Hälfte der Senioren aus der Schweiz stammen.

Es geht in dieser Studie auch noch um zwei weitere Massnahmen, von denen wir uns eine positive Wirkung auf verschiedenen Organsysteme erhoffen, nämlich Omega-3 Fette und ein einfaches Trainingsprogramm für zu Hause.

Kann man an der Studie noch teilnehmen?

Leider nicht, sie ist schon abgeschlossen. Allerdings kann man die Ergebnisse nutzen. Mein Team und ich werden Ende 2018 ein einfaches Programm zusammengestellt haben, das man beim Hausarzt oder im Internet interaktiv nutzen kann.

Benno Gut Pictures

Was heisst interaktiv?

Man kann sein Geschlecht, Alter und Gewicht angeben und die Organfunktion, die einen interessiert – also zum Beispiel den Blutdruck – und dann bekommt man auf sich persönlich zugeschnittene Empfehlungen.

Und was wollen Ihre Kollegen mit der VITAL-Studie herausfinden?

Hier geht es darum, zu klären, ob Vitamin D und Omega-3 Fette das Krebsrisiko und das Risiko für Herzkreislauferkrankungen bei Menschen über 50 senken.

Können Sie uns Tipps geben, wie man lange fit bleibt und sich nicht die Knochen bricht?

Bewegung, mediterranes Essen mit viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch, Vollkornprodukte, Nüsse und Olivenöl, genügend Eiweiss und Vitamin D. Chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes sollte man rechtzeitig und konsequent behandeln.

Was heisst «Bewegung»? Muss man als Senior gleich ein Abo im Fitnessstudio abschliessen?

Nein, es geht darum, einen aktiven Lebensstil zu führen.Täglich spazieren gehen und dreimal pro Woche ein kleines Trainingsprogramm für zu Hause mit zusätzlichen Übungen für die Muskelkraft und das Gleichgewicht.

Das tönt ja schon anstrengend…

Das Ziel ist, jeden Tag 5000 bis 10000 Schritte zu gehen. Das ist nicht so schwer! Mit den neuen Apps kann man die Schritte sogar sehr einfach zählen lassen. Dazu noch dreimal pro Woche 10 bis 30 Minuten Gleichgewicht und Kraft Trainieren.

Man kann das super in den Alltag einbauen – zum Beispiel auf einem Bein stehend Zähne putzen oder Treppensteigen statt den Lift nehmen, um die Beinmuskeln zu kräftigen. Wichtig ist aber auch, soziale Kontakte zu pflegen, flexibel zu bleiben und das Leben zu geniessen.

Warum ist das wichtig?

Isolation fördert Depression und Demenz. Dazu bewegen und essen wir lieber in Gesellschaft. Vielleicht trifft man sich regelmässig zum Kochen, geht vorher zu Fuss auf den Markt zum Einkaufen für ein mediterranes Menü und schleppt die Einkaufstaschen langsam die Treppe hoch in die Wohnung – das ist ein komplettes Traininsprogramm inklusiv sozialer Kontakte!

Danke für das Gespräch.