Zahnbehandlung bei Menschen mit Demenz - demenzjournal.com

Erkenntnisse aus der Praxis

Zahnbehandlung bei Menschen mit Demenz

Die Röntgenaufnahme zeigt massive Karies und Paradontitis. Dennoch machen Implantate und Prothesen bei Menschen mit Demenz wenig Sinn. Bild PD

Die zahnärztlichen Implikationen, Behandlungsmöglichkeiten und Risiken in den drei Demenzstadien sind ganz unterschiedlich. Der Zerfall der Zähne kann dabei sehr weit reichen. Erstaunlicherweise geschieht das praktisch schmerzlos und ist medizinisch harmlos.

Die ästhetische Einbusse bewirkt jedoch oft dringende Behandlungswünsche bei den Angehörigen. Sie sind ohne Anästhesie erfüllbar, wenn der Zahnarzt reizarm arbeitet. Die folgenden Beobachtungen entstanden im Laufe der letzten 30 Jahre im Alzheimer Kompetenzzentrum Sonnweid in Wetzikon und in der Praxis des Autors.

Die Demenz hat viele Ursachen, und ihr Verlauf ist entsprechend vielfältig. Im Durchschnitt dauert der Aufenthalt in einem Pflegeheim 3 bis 4 Jahre. Betreuung und Pflege sind ausschlaggebend für das Wohlbefinden der Betroffenen. Sie werden in der Sonnweid je nach Krankheitsstadium verschieden betreut. 

Im ersten Stadium

leben die Betroffenen in Wohngruppen zu acht Bewohner. Sie haben die örtliche und zeitliche Orientierung weitgehend verloren, können aber noch verständlich miteinander sprechen und im Haushalt mithelfen. Auf Aussenstehende wirken sie noch ganz normal.

Eine Patientin scheint im Bett zu schlafen. Bei der ersten winzigen Berührung ihrer Lippen öffnet sie schnell die Augen und schaut mich an. Ganz verlegen sage ich zu ihr: «Grüezi Frau R., ich bin der Zahnarzt und möchte Ihre Zähne kontrollieren». Mit freundlicher Stimme antwortet sie: «Hier gefällt es mir. Nehmen Sie doch Platz und machen Sie es sich gemütlich!»

Auf unangenehme Reize reagieren sie ängstlich. Sie putzen sich die Zähne selbst oder lassen sich gerne dabei helfen. Süssigkeiten sind ein wichtiges Element in ihrer Ernährung. Ihr Genuss trägt unbestritten zur Lebensqualität bei, und Zucker ist ein wichtiger Nährstoff für das demente Gehirn. Mit der zunehmenden Steifigkeit der Hände und oralen Weichteile entsteht multiple Karies.

Im zweiten Stadium

befinden sich die Bewohner in der Pflegeabteilung und werden Tag und Nacht betreut. Sie benötigen Hilfe beim Ankleiden, beim Essen, beim Auffinden ihrer Zimmer usw., und oft befällt sie eine motorische Unruhe (Wandertrieb).

Sie sprechen unverständlich, aber Nahestehende können den Sinn erahnen. Unangenehme Reize wehren sie energisch ab. Mit dem Erstarren der Muskeln und Gelenke hören die Kaubewegungen auf – flüssige Nahrung wird notwendig.

Eine Patientin im mittleren Stadium kann nicht mehr verständlich sprechen und hat sich unglücklich bei einem Sturz den rechten Arm gebrochen. Sie sitzt nun behindert am Fenster mit dem geschienten Arm und betrachtet den besonnten Waldrand in der Nähe. Da sagt sie mir unvermittelt: «So möchte ich noch vier Jahre leben.»

Feste Lippen, Wangen und Zunge verunmöglichen jede wirksame Mundhygiene und erzeugen einen übermässigen, meistens nach oral gerichteten Druck gegen die Zähne. Durch die fehlende Kautätigkeit verstellen sich die Zähne und passen nicht mehr zusammen..

Die Frontzähne dienen zum Nagen (an der Bettwäsche), zum Fletschen (bei Angst vor einem Unbekannten) und zum Beissen (zur Abwehr einer unerwünschten Person).Typisch sind erste Wurzelreste bei den Molaren und grosse, labiale Frontkaries.

Schwierige Behandlung

So gelingt eine Zahnbehandlung bei Menschen mit Demenz

Menschen mit Demenz verstehen nicht, weshalb sie eine Zahnbehandlung brauchen. Wenn Zahnärzte und Angehörige angemessen vorgehen, kann die Behandlung ohne Schwierigkeiten gelingen. weiterlesen

Im dritten Stadium

sind die Patienten nun bettlägerig und befinden sich in der Pflegeoase (mehrere Betten in einem grossen Saal). Einige liegen nur halbwegs und bewegen sich ständig, stossen Rufe aus und können kraftvoll zupacken, wenn ihnen jemand zu nahe kommt.

Ein Patient im dritten Stadium ruft mir aus seinem Bett entgegen: «Nein, nein, nein!» Also geh ich an ihm vorbei zum nächsten Bett. Offenbar beobachtet er nun, wie ich die anderen Bewohner in ihren Betten besuche und Fotos von ihren Zähnen mache. Als ich mich ihm zufällig wieder nähere, ruft er «ja» und versucht mit seinen steifen, ungelenken Händen seine Lippen auseinander zu ziehen. Dann kooperiert er mit viel gutem Willen, damit auch er fotografiert wird.

Die meisten sind jedoch ruhig, beobachten still den Betrieb im Saal oder scheinen gar zu schlafen. Sie geniessen es, wenn die Pfleger ihre Körper mit kinästhetischen Lockerungen wieder beweglich machen.

Walter WeilenmannBild PD

Begrüsst man sie, so antworten sie vielfach mit einem Augenaufschlag oder mit Worten, die irgend einen losen Bezug zur aktuellen Situation oder zu früheren Erlebnissen haben.

Betroffene im dritten Stadium erkennen gut, ob eine Stimme vertraut, respektvoll oder respektlos klingt, und reagieren entsprechend zutraulich oder abweisend. Unangenehme Reize lösen einen Abwehrreflex aus, der jedoch sofort verebbt, wenn der Reiz aufhört.

Bei einer Zahnbehandlung sind die sozialen Fähigkeiten der Patienten zu berücksichtigen. Auch im dritten Stadium nehmen sie das Geschehen rundherum wahr. Je nach der Betreuung sind sie zufrieden oder gereizt.

Sie schätzen auch die Besucher als sympathisch oder feindlich ein. Entsprechend freundlich müssen sie angesprochen werden, auch wenn sie kaum mehr antworten können.

Die Harmlosigkeit des Zahnzerfalls

Erstaunlicherweise konnten in der Sonnweid in den letzten 30 Jahren mit einer Ausnahme weder dentogene oder parodontale Abszesse noch Wangenschwellungen beobachtet werden.

Anfangs vermuteten die Pfleger oft Zahnschmerzen, wenn ein Bewohner nicht mehr richtig essen wollte. Der herbeigerufene Zahnarzt fand jedoch nie einen erklärenden Befund.

Mit der Zeit wurde klar, dass das regungslose Sitzen vor dem vollen Teller eher den Übergang ins dritte Stadium als einen Zahnschmerz andeutet. Heute besteht grosse Gewissheit, dass der Zahnzerfall schmerzfrei und ohne medizinische Komplikationen verläuft.

Ein Patient schreit beim Untersuch plötzlich «Au!». So laut, dass ich erschrecke. Seine Lippen waren sehr steif und ich versuchte mit etwas Kraft, sie zu öffnen. Aber dann ergänzt er sofort: «Ich habe es nur etwas laut gesagt», und hält mir wieder bereitwillig den Mund entgegen.

Für einen schmerzlosen Zahnzerfall sprechen zudem die fehlende Kautätigkeit, die rasante Karies und die dementielle Nichtbeachtung. Ohne Kaubewegungen gibt es keine Aufbissschmerzen. Die Karies erweicht allfällige spitzige Kanten an den Wurzelresten in kurzer Zeit.

Und weil der Zahnzerfall den Betroffenen weder Angst noch Scham noch sonst irgendwelche Sorgen bereitet, verläuft er ohne Stress und bleibt subjektiv unbemerkt.

Räumung und implantatgestützte Vollprothesen?

2010 empfahlen Frauke Müller und Ina Nitschke1 zu Beginn der Krankheit die Zähne durch Prothesen und Implantate zu ersetzen, um eine langfristig stabile Situation herzustellen. Die Retention an Implantaten soll sicherstellen, dass die Prothesen auch bei Prothesenunfähigkeit getragen werden können.

Diese Empfehlung ist aus der Sicht eines Angehörigen oder Laien gut zu verstehen. Aber die Innensicht der Betroffenen sieht ganz anders aus. Ihre Lebenserwartung im Heim ist nicht als langfristig zu bezeichnen und der dementielle Abbau hat keine stabilen Phasen.

Die Betroffenen haben zu Beginn der Krankheit weitgehend gesunde Zähne, kauen feste Nahrung und wollen auf keinen Fall eine Prothese. Bei der Räumung würden zahlriche Neuronen zwischen Gebiss, Gehirn und Kaumuskeln zerstört.

Mund und Zähne belegen im sensorischen und motorischen Cortex («Homunkulus») etwa gleich viel Platz wie die Beine, und ihre Verbindungen zum assoziativen Cortex sind bedeutungsvoll. 

2012 hat Christina Brand-Luzi von der Universität Basel zeigen können, dass Prothesenträger einen weniger sicheren Gang haben als bezahnte Menschen.

Damit erhöht die Räumung aller Zähne möglicherweise die Sturzgefahr und beschleunigt mit Sicherheit den cerebralen Abbau.

Im zweiten Stadium der Krankheit erkennen sich die Betroffenen im Spiegel nicht mehr und wissen nicht, wozu eine Prothese dient. Sie könnten nicht auf eine Druckstelle oder kauinstabile Zahngruppe hinweisen, sich weder mit Beissen wehren noch sich beim Nagen selber spüren.

Und wenn die Kaumuskeln so steif werden, dass man lieber Löffelnahrung schlürft, sind Prothesen keine Hilfe, sondern eher hinderliche Fremdkörper. Im Endstadium könnten sich die verspannten Lippen und Wangen an einem Implantat wund reiben. Die Innensicht gewichtet demzufolge mehrere Aspekte, die gegen Prothesen und Implantate bei Menschen mit Demenz sprechen. 


1 Frauke Müller und Ina Nitschke: «DER ALTE PATIENT IN DER TÄGLICHEN PRAXIS», S. 252 ff., Quintessenz Verlag.

Vielen Dank für die Gelegenheit der Zweitverwertung an die Oemus-Media AG, die diesen Beitrag in der Fachzeitschrift Dental Tribune (D/A/CH 4/2017) erstmals veröffentlichte. Hier finden Sie ein PDF der Printausgabe.