Den Emotionen auf der Spur - demenzjournal.com

Apathie

Den Emotionen auf der Spur

Die Forscher untersuchten, wie Menschen mit Apathie auf emotionale Bilder reagieren. Bild ZHAW

Kein Gespräch, kein Lachen, kein Nicken, kein Blickkontakt. Demenzbetroffene mit Apathie reagieren kaum auf äussere Reize. Doch empfinden sie tatsächlich weniger Gefühle? Oder dringen ihre Reaktionen nicht bis zu uns durch? Ein Projekt der ZHAW sucht Antworten.

Von Rita Ziegler, ZHAW

Im deutschen Sprachraum leben fast zwei Millionen Menschen mit Demenz. Viele von ihnen leiden unter Apathie, im Spätstadium sind es rund 90 Prozent. Sie zeigen wenig Interesse, geben nichts von sich preis und reagieren kaum auf äussere Reize, weshalb sie selten angesprochen und schnell übersehen werden.

Im Pflegeheimalltag machen sie weder Lärm noch Ärger, als Betreuende kann man sich auch später noch um sie kümmern, wenn die unruhigen oder aggressiven Patienten versorgt sind. Diese aufgeschobene Zuwendung und das damit verbundene Ausbleiben von Sinnesreizen verstärken wiederum die Apathie – ein Teufelskreis.

In einer eigenen Welt

Brigitte Gysin, Ergotherapeutin und heute Gerontologin in der Pflegimuri, einem Zentrum für spezialisierte Pflege, kennt das Phänomen. Sie erinnert sich an eine Patientin um die achtzig, die täglich von ihrem Ehemann besucht wurde.

«Er sass neben ihr, streichelte ihre Hand, sprach mit ihr und gab ihr das Essen ein, wenn sie selbst nichts ass. Zurück kam: nichts. Keine Mimik, keine Antworten, keine Berührung.» Manchmal habe die Patientin kurz den Kopf zur Tür gedreht, wenn der Ehemann hereingekommen sei.

Ein Fallbeispiel zu Apathie

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Ansonsten sei sie einfach dagesessen, in ihrer eigenen Welt, zu der scheinbar nichts und niemand durchdringen konnte. «Es war, als wäre bloss ihre Hülle anwesend», so Gysin. Der Ehemann habe mehr als einmal Tränen in den Augen gehabt.

Wie schwierig es für Angehörige und Pflegende ist, angesichts solcher Teilnahmslosigkeit nicht selbst apathisch und frustriert zu reagieren, weiss auch Yvonne Treusch, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ergotherapie.

Für ihr Dissertationsprojekt ist sie bei Menschen mit Demenz ergotherapeutisch tätig geworden. «Ich habe mich bei einigen Patienten gefragt, was sie wohl fühlen, wenn ich bei ihnen am Bett sitze», erzählt sie.

«Finden sie gut, was ich mache? Stört es sie? Ist es ihnen völlig gleichgültig?»

Als sie sich  mit Forschungskollege Valentine Marcar darüber austauschte, wurde dieser hellhö­rig. Als Neuropsychologe weiss er um die motivierende Wirkung von Gefühlen – positiven wie negativen: «Wenn uns etwas wütend macht, dann fluchen wir oder hauen mit der Faust auf den Tisch. Macht uns etwas Spass, möchten wir es sofort wiederholen», veranschaulicht er. «Fehlen hingegen die Emotionen, treibt uns auch nichts mehr an.»

Gefühlsreaktionen messen

Die Fragestellung, die sich für die beiden Forschenden herauskristallisierte, war: Funktioniert das neuronale Netzwerk, das für die Emotionen zuständig ist, bei Demenzbetroffenen mit Apathie noch? Zur Beantwortung ihrer Frage konnten Treusch und Marcar nicht auf klassische neurowissenschaftliche Methoden zurückgreifen.

Die enge, laute Röhre für eine Magnetresonanztomografie hätte die Demenzpatienten zu sehr aus dem Konzept gebracht, ebenso die Elektrodenkappe für eine Elektroenzephalografie. Eine niederschwellige Alternative bestand darin, ein Pulsoxymeter und zwei Elektroden an den Fingern der Versuchspersonen anzubringen.

Damit lassen sich Veränderungen der Hautleitfähigkeit und Schwankungen bei der Herzfrequenz messen – beides Reaktionen des vegetativen Nervensystems, die bei gesunden Menschen zuverlässig auf Emotionen hinweisen.

In einer Pilotstudie legten die Forschenden zwölf Demenzbetroffenen mit Apathie eine Reihe von Bildern vor.

Sie massen, ob sich Hautleitfähigkeit und Herzfrequenz bei deren Betrachtung ver­änderten. Als Stimuli verwendeten sie einerseits biografisches Material und andererseits Bilder aus dem International Affective Picture System, einer Datenbank mit normativ bewerteten Fotografien, die beim Durchschnittsbetrachter bestimmte Empfindungen wie Freude, Unbehagen oder Erregung hervorrufen.

Angenehme Reize zeigen Wirkung

Klare Ausschläge zeigten sich bei der Hautleitfähigkeit. Yvonne Treusch staunt heute noch über das Resultat: «Bei gewissen Studienteilnehmern hatte ich den Eindruck, dass sie durch die Bilder hindurchschauten und sie gar nicht wahrnahmen. Trotzdem veränderte sich ihre Hautleitfähigkeit. Hinter der Fassade spielte sich emotional also durchaus etwas ab.»

Besonders deutlich zeigten sich die vegetativen Reaktionen bei biografischem Material oder angenehmen Bildstimuli wie Baby­- oder Welpenfotografien. Umgemünzt auf den Alltag bedeutet dies: Mit positiven Anreizen wie Lob oder Zuspruch lassen sich die Betroffenen eher aus der Reserve locken als mit Tadel oder Einschüchterung.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Kein klares Muster stellten die beiden Wissenschaftler bei der Herzfrequenz fest. Laut Valentine Marcar ist dies möglicherweise darauf zurückzuführen, dass das Herz bei älteren Menschen grundsätzlich unregelmässiger schlägt: «Vielleicht ist der Herzschlag bei unserer Zielgruppe kein geeignetes Messinstrument.» Für eine klare Aussage sei die Stichprobe aber zu klein gewesen.

Und es lohnt sich doch

Dies soll sich nun ändern. In einer grossen Studie in Zusammenarbeit mit diversen Deutschschweizer Alters-­ und Pflegeheimen möchten die beiden Forschenden ihre Ergebnisse verifizieren. Diesmal schliessen sie nebst Demenzpatienten mit Apathie auch solche ohne Apathie ein, um einen Vergleich zwischen den Reaktionen beider Gruppen zu ziehen.

Zudem erheben sie, welche pharmakologischen und psychosozialen Massnahmen die Studienteilnehmerin Anspruch nehmen. Dazu Yvonne Treusch: «In der Schweiz erhalten 70 Prozent der Pflegeheimbewohner mit Demenz Neuroleptika, die dämpfend wirken und apathisches Verhalten begünstigen. Wir möchten sehen, wie stark Medikamente, aber auch Therapien oder Gruppenaktivitäten die emotionalen Reaktionen beeinflussen.»

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Nicht zuletzt versuchen die beiden Wissenschaftler in der Hauptstudie genauer zu differenzieren, auf welche Stimuli die Teilnehmenden besonders positiv reagieren. «In der Ergotherapie suchen wir oft den Bezug zur eigenen Biografie. Da interessiert es mich natürlich, ob dies in unserem Kontext auch wirklich sinnvoll ist», so Treusch.

Aus den Resultaten lassen sich konkrete Instrumente entwickeln, mit denen Angehörige und Pflegepersonal arbeiten können – etwa in der Pflegimuri, die ebenfalls an der Studie teilnimmt. Gerontologin Brigitte Gysin erhofft sich eine Bestätigung für das, was viele Pflegende und Betreuende intuitiv annehmen:

Es lohnt sich, Demenzbetroffene mit Apathie aktiv in den Heimalltag einzubinden.

«Zu wissen, dass wir das Wohlbefinden unserer Bewohnerinnen und Bewohner positiv beeinflussen können, auch wenn wir es von aussen nicht immer sehen, wirkt motivierend und ist für unsere Arbeit unglaublich wertvoll.»

Doch was, wenn sich in der Hauptstudie weder bei der Herzfrequenz noch bei der Hautleitfähigkeit eindeutige Veränderungen zeigen? Wäre dies der Beweis dafür, dass die Emotionsfähigkeit erloschen ist? Valentine Marcar verneint: «Was wir suchen, ist, metaphorisch gesprochen, eine Stimme im Sturm. Hö­ren wir sie, bedeutet dies, dass sie noch vorhanden ist. Hören wir sie nicht, ist der Sturm möglicherweise einfach zu laut.»


Dieser Artikel ist ursprünglich im Magazin «Vitamin G» des ZHAW-Departements Gesundheit erschienen. Wir bedanken uns bei der Autorin Rita Ziegler und bei der ZHAW für die Gelegenheit der Zweitverwertung.