alzheimer.ch: Professor Wiley, die US-Arzneimittelbehörde FDA will bis März 2021 über die Zulassung eines neuartigen Medikaments namens Aducanumab entscheiden. Angeblich lässt sich damit erstmals der geistige Verfall bei Alzheimer-Patienten aufhalten. Sie halten das für einen Irrglauben. Warum?

Clayton Wiley: Es ist das Gleiche wie bei Donepezil oder den anderen Alzheimer-Medikamenten, die seit Jahren auf dem Markt sind. Das sind tatsächlich Wundermittel, allerdings nur für die Hersteller. Diese Präparate sind ein Milliarden-Dollar-Geschäft geworden. Das liegt aber nur daran, dass sich viele Menschen, bei denen einen Demenz diagnostiziert wurde, verzweifelt an jeden Strohhalm klammern, der sich ihnen bietet.

Das Einzige, was viele ältere Herrschaften von den Medikamenten wirklich haben, ist Durchfall. Ich würde diese Mittel niemals nehmen.

Aber diese Mittel wurden doch von der FDA zugelassen und die gilt als äusserst streng. Jedes Präparat muss vorher gründlich auf Sicherheit und Wirksamkeit geprüft werden.

Die FDA wird oft als unser grosser Beschützer gesehen. Aber wenn die FDA ein Medikament zugelassen hat, heisst das noch nicht, dass das Mittel für die Patienten einen Nutzen hat.

Professor Clayton Wiley.Bild PD

Warum nicht?    

Bei der FDA geht es nicht nur um die reine Wissenschaft. Es geht auch um politische und wirtschaftliche Aspekte. 

Es stimmt zwar, dass Pharmafirmen klinische Studien machen müssen, bevor sie ein Medikament auf den Markt bringen dürfen.

Sie müssen darin aber nicht nachweisen, dass das Mittel einen biologischen Effekt und einen echten Nutzen für den Patienten hat. Für die Zulassung genügt es, wenn die Hersteller statistische Unterschiede zeigen können. 

Das müssen Sie erklären.

In der Regel hat man in einer klinischen Studie zwei Gruppen. In der einen Gruppe erhalten die Testpersonen das Medikament, in der anderen ein Scheinpräparat, also ein Placebo.

Wenn in der Gruppe der Probanden mit Medikament zum Beispiel ein bestimmtes Symptom im Durchschnitt einen Monat später aufgetreten ist als in der anderen, reicht das für die Zulassung aus. Es kann aber gut sein, dass sich im Alltag der Betroffenen überhaupt kein Nutzen beobachten lässt.

Aber der Wirkstoff in dem Medikament Aducanumab, das jetzt vor der Zulassung steht, basiert doch auf einem ganz neuen Prinzip. Er richtet sich gegen die Ablagerungen im Gehirn, die als Ursache der Alzheimer-Krankheit gelten. Das ist doch genau der biologische Effekt, den Sie fordern.

Wir haben jahrelang geglaubt, dass es reicht, wenn man diese Amyloid-Plaques entfernt, die sich im Gehirn ablagern. Das klang gut und schien Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Die Frage, ob die Plaques wirklich der Grund für die Krankheit sind, wurde beiseite geschoben.

Ich bin daran genauso schuld wie alle anderen auf diesem Gebiet. Es war wie mit den Lemmingen, die allen hintereinander herlaufen und sich von steilen Klippen ins Meer stürzen.

Wie konnte es dazu kommen?

Das hat mit Alois Alzheimer zu tun. Er hatte vor mehr als hundert Jahren eine vergleichsweise junge Frau als Patientin, die mit Ende Vierzig eine Demenzs entwickelt hat, Auguste Deter. Nach ihrem Tod mit Anfang Fünfzig hat Alzheimer ihr Gehirn untersucht und darin auffällig große Mengen von zwei Arten Ablagerungen gefunden, Amyloid-Plaques und sogenannte Tau-Fibrillen.

In den 1980er-Jahren haben Forscher dann Mäuse gezüchtet, die besonders viel Amyloid bilden und diese als Modell für die Alzheimer-Krankheit genommen. Ich habe grosse Zweifel an solchen Modellen. Das fängt schon damit an, dass ich frage, was eigentlich bei einer Maus Demenz sein soll.

Clayton Wiley

Der 66-jährige Professor ist Leiter der Abteilung für Neuropathologie am Presbyterian Hospital der Universität von Pittsburgh in Pennsylvania, USA. Schwerpunkt seiner Forschung ist seit vielen Jahren die Suche nach den Ursachen von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson sowie den Schäden, die Viren im Nervensystem anrichten. In einem Leserbrief hat Wiley kürzlich seinem Ärger über ein Dossier zum Thema Demenz im britischen Magazin The Economist Luft gemacht. Darin sei ein «rosarotes Bild» von neuen Medikamenten gegen Alzheimer gezeichnet worden. In Wahrheit stehe fest, dass Medikamente nicht helfen.

Inzwischen weiss man, dass viele alte Menschen grosse Mengen von Amyloid-Plaques im Gehirn haben und trotzdem geistig fit sind. Wie kann das sein?

Das Problem ist, wir wissen nicht, was Alzheimer verursacht. Und solange wir das nicht wissen, können wir dagegen auch keine wirksamen Medikamente entwickeln.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Ich möchte, dass wir uns ehrlich eingestehen, dass viele von uns Demenz bekommen werden. Durch den demografischen Wandel geraten grosse Teile der Bevölkerung in einen Zustand, in dem ihr Gehirn versagt, weil es irreparabel verschlissen ist.

Durch die Möglichkeiten der modernen Medizin werden sie aber zum Teil mehrere Jahre lang am Leben erhalten. Wir müssen als Gesellschaft darüber sprechen, wie wir damit umgehen.

Vor 50 Jahren ging man ins Altersheim, bekam irgendwann eine Lungenentzündung, und das war’s. Heute können wir Lungenentzündungen mit Antibiotika behandeln und den Betroffenen am Leben erhalten. Aber ist das überhaupt erstrebenswert, wenn man dement ist?

Ich weiss, diese Frage ist ein grosses Tabu. Aber ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als jahrelang in einem vegetativen Zustand vor mich hinzudämmern. Das ist auch eine Zumutung für die Angehörigen.

In Japan muss jeder im Alter zwischen 40 und 65 Jahren eine extra Abgabe an die Pflegeversicherung zahlen, um die Pflegekosten zu finanzieren. Die Zeitschrift The Economist nannte das kürzlich ein attraktives Modell, weil es verhindere, die junge Generation zu bestrafen.

Das ist doch pervers. Wer unbedingt zehn Jahre lang mit Demenz in einem Pflegeheim mit irgendeiner Versicherung auskosten möchte, soll das gerne tun. Für mich kommt das nicht infrage. Ich möchte mein Leben nicht künstlich verlängern. 

Ich denke, ich werde mein Erspartes verbrauchen, so lange ich mein Leben noch geniessen kann.

Darauf, dass es keine Behandlungsmöglichkeiten für Demenz gibt, wird jeder seine eigene Antwort finden müssen. Aber wir reden gar nicht darüber.

In Holland ist Sterbehilfe für einen schwer demenzkranken Menschen seit fast einem Jahr zulässig. Voraussetzung dafür ist, dass er diesen Wunsch vorher in einer Patientenverfügung festgehalten hat.

Holland ist uns in dieser Hinsicht Lichtjahre voraus. In den USA ist das nicht möglich. Aber wir haben die Möglichkeit, frühzeitig eine Patientenverfügung zu machen. Darin kann man festhalten, dass man ab einem gewissen Punkt einfach keine Medikamente mehr gegeben bekommen möchte. Das sollte man unterstützen. Auch, weil es den Angehörigen einen grossen Teil der Last abnimmt.

Danke für das Gespräch.