Ginkgo: Sanftes Heilmittel fürs Gehirn? - demenzjournal.com

Ginkgo

Ginkgo: Sanftes Heilmittel fürs Gehirn?

Der Ginkgo oder Ginko (Ginkgo biloba) ist eine in China heimische, heute weltweit angepflanzte Baumart. Bild pixabay

Viele Menschen wollen mit Ginkgo-Präparaten wie Tebonin ihr Gedächtnis stärken und sich vor Alzheimer schützen. Doch nicht nur der Nutzen ist umstritten. Mediziner warnen auch vor Nebenwirkungen.

Wer sich auf die Suche nach einem Mittel gegen Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche und Wortfindungsstörungen macht, wird schnell fündig. Ob in Illustrierten, im Internet oder im Fernsehen – überall preisen unterschiedlichste Anbieter die heilsamen Wirkungen von Ginkgo biloba an.

Spezielle Extrakte aus den Blättern des asiatischen Fächerbaums seien gut verträglich und lange bewährt. Sie würden die Blutgefässe kräftigen, die Durchblutung fördern, die Lungen entspannen, die Sauerstoffzufuhr im Körper erhöhen und die Fähigkeit der Nervenzellen, sich untereinander zu vernetzen, verbessern.

«Dadurch können Sie sich wieder besser konzentrieren und erinnern», versichert eine Versandapotheke. Und nicht nur das.

Glaubt man den Verheissungen im Internet, hilft Ginkgo auch bei der Vorbeugung von Alzheimer und Demenz.

Eine weitere Stärke der Mittel, betont ein Hersteller, ist «die gute Verträglichkeit». Der Wirkstoff sei daher «auch für eine Langzeitanwendung geeignet».

Derlei Versprechen fallen auf fruchtbaren Boden. Ginkgo-Präparate gehören zu den umsatzstärksten Arzneimitteln in Deutschland.

Ginkgo-Präparate

2019 wurden nach Angaben des Marktforschungsunternehmens IQVIA in deutschen Apotheken und im Apotheken-Versandhandel knapp 3,5 Millionen Packungen Ginkgo-Präparate für rund 243 Millionen Euro verkauft. Den Löwenanteil – 97 Prozent – zahlten die Kunden aus eigener Tasche. Hinzu kommt eine unüberschaubare Vielzahl von weiteren Ginkgo-Präparaten, die als Nahrungsergänzungsmittel deklariert und damit in Drogerien und im Internet frei erhältlich sind.

Seit 2012 bieten einige gesetzliche Krankenkassen in Deutschland die Kostenübernahme einiger nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel an, wenn der Arzt das jeweilige Präparat auf einem sogenannten grünen Rezept verordnet. Hat der Arzt die Diagnose Demenz gestellt, werden die Kosten von Ginkgo-Präparaten aus der Apotheke mit einer Tagesdosis von 240 mg in jedem Fall erstattet.

Der anhaltende Run auf Ginkgo versetzt Wolfgang Becker-Brüser, Arzt und langjähriger Herausgeber der pharma-unabhängigen Fachzeitschrift Arznei-Telegramm, immer wieder in Staunen.

«Natürlich ist es verständlich, dass viele Senioren alles versuchen wollen, um ihre geistige Leistungsfähigkeit zu verbessern. Jeder, der merkt, dass er im Alter vergesslicher wird, hat ja gleich als Horrorvision Alzheimer im Hinterkopf. Und davor will man sich schützen.»

Dabei auf Ginkgo biloba zu setzen, so Becker-Brüser, sei definitiv der falsche Weg. Zum einen gebe es bis heute keinen einzigen glaubwürdigen Beleg dafür, dass Ginkgo biloba bei Demenz die geistige Leistung verbessert. Zum anderen zeige sich immer mehr, dass Extrakte der Pflanze keineswegs harmlos sind.

Seit längerem ist bekannt, dass es bei Einnahme von Ginkgo zu Kopfschmerzen, Schwindel, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen kommen kann.

Bekannte Störwirkungen sind zudem allergische Reaktionen mit Hautrötungen, Juckreiz und Ausschlag sowie Blutungen an Organen wie Auge, Nase oder Gehirn.

Ursache dafür sind unter anderem die in den Produkten enthaltenen Ginkgolsäuren. Hohe Dosen davon seien potenziell zellschädigend und erbgutverändernd, warnen Experten der Verbraucherzentrale.

Ginkgo-Extrakte sind zudem in der Lage, bestimmte Stoffwechselenzyme und Proteine zu hemmen oder zu aktivieren. Das kann die Wirkung anderer Medikamente verändern.

Besonders hoch ist das Risiko für solche Wechselwirkungen bei Menschen, die unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden und deshalb Blutgerinnungshemmer wie Marcumar, Clopridogel, Aspirin (Acetylsalicylsäure) oder Blutdrucksenker wie Nifedipin nehmen, weil Ginkgo die Blutungsneigung erhöht. Sie sollten die Pflanzenextrakte nur in Absprache mit dem Arzt anwenden.

Wer operiert werden muss, sollte Ginkgo-Präparate rechtzeitig absetzen.

Bereits vor Jahren wies das Arznei-Telegramm darauf hin, dass sich das Risiko für Schlaganfälle, die durch eine Hirnblutung verursacht werden, durch die Einnahme von Ginkgo verdoppelt.

Auch Menschen mit Krampfleiden (Epilepsie) sollten Ginkgo-Präparate keinesfalls ohne Rücksprache mit dem Arzt verwenden, rät die Verbraucherzentrale.

Nun warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO vor einer weiteren Nebenwirkung: Herzrhythmusstörungen. Hintergrund sind mehr als 160 Verdachtsmeldungen, die der WHO bis September 2019 zu Ginkgo-Präparaten zugegangen sind.

Am häufigsten äusserten sich die Störungen in Form von Herzstolpern (Palpitationen), Herzrasen (Tachykardie) und Bewusstseinsverlust. In 92 Berichten (57 Prozent) ist Ginkgo biloba der einzige verdächtigte Auslöser.

In einem Drittel der Fälle (55 Berichte) wird die Nebenwirkung von den Meldern als schwer eingestuft, bei vier als lebensbedrohlich, sieben Patienten sterben. Bei Symptomen wie Herzrhythmusstörungen, die neu auftreten oder sich verschlechtern, rät das Arznei-Telegramm, sollten Ärzte und Apotheker deshalb gezielt nach der möglichen Einnahme von Ginkgo-biloba-Präparaten fragen.

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Erstaunlich daran ist: In mehreren europäischen Ländern werden Herzrhythmusstörungen seit Jahren in den nationalen Produktinformationen als mögliche Nebenwirkung von Ginkgo genannt. Das geht aus einem Bericht der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA vom Januar 2014 hervor.

Damals sollte der Ausschuss der EMA für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) eine Monografie zur wissenschaftlichen Beurteilung von Extrakten aus Ginkgo-biloba-Blättern erstellen. In der abschliessenden Veröffentlichung sind diese unerwünschten Wirkungen jedoch nicht aufgeführt, ebenso wenig wie in den hiesigen Beipackzetteln oder Fachinformationen.

Auf derlei Widersprüche trifft man beim Thema Ginkgo immer wieder.

Unabhängige Experten wie das Team des Arznei-Telegramms raten seit Jahren klipp und klar von der Einnahme von Tebonin & Co ab.

Hersteller wie der Marktführer Schwabe dagegen werden nicht müde zu betonen, dass ihr Extrakt gut verträglich ist und zu den «am besten untersuchten pflanzlichen Wirkstoffen weltweit» zählt, dessen Wirksamkeit «in zahlreichen Studien» untersucht worden ist.

«Die Tatsache, dass es zu einem Präparat viele Studien gibt, heisst noch gar nichts», erwidert Becker-Brüser. Fakt sei nämlich, dass die Qualität dieser Untersuchungen dürftig sei. Die Forschungsergebnisse seien grösstenteils in sich widersprüchlich und unglaubwürdig.

Die Firma Schwabe zum Beispiel stütze ihre Werbeaussagen unter anderem auf zwei Studien, deren Ergebnisse «über die Massen positiv sind», so Becker-Brüser. Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Die Untersuchungen wurden von Schwabe selbst finanziert. Statt in Deutschland fanden die Tests in osteuropäischen Staaten wie Weissrussland und der Ukraine statt.

In der Tat ist Becker-Brüser nicht der Einzige, der den Nutzen von Ginkgo-Biloba infrage stellt. Auch Bernd Mühlbauer, Professor für Pharmakologie am Klinikum Bremen und Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, hält den Nutzen von Ginkgo für nicht belegt.

Er verweist auf eine neue Übersichtsarbeit von chinesischen Forschern, derzufolge Extrakte der Pflanze einen «verlässlichen Effekt» auf die geistige Funktion haben. Alle Quellen aus Asien, so Mühlbauer, wiesen jedoch ein schwer einschätzbares Risiko der Datenverzerrung und seien für ihn daher wenig glaubwürdig.

Auch die aktuelle S3-Leitlinie Demenzen kommt zu dem Schluss, dass «Ginkgo Biloba zur Prävention von Demenz keine Wirkung zeigt». Präparate aus der Pflanze würden daher nicht zur Prävention von Demenz empfohlen.

Das Schriftwerk wurde von führenden Fachleuten verfasst. Es gilt als Kompendium des besten verfügbaren Wissens und dient als Handlungsempfehlung für alle Ärzte, die Demenz-Kranke betreuen.

Auffällige Pirouetten drehen die Autoren der Leitlinie allerdings beim Thema Behandlung einer bestehenden Demenz. Auf Seite 25 der 133-seitigen Abhandlung stellen sie klipp und klar fest: Ob Alzheimer-Demenz, Parkinson-Demenz, frontotemporale Demenz oder Lewy-Körperchen-Demenz – «für keine der degenerativen Demenzerkrankungen existiert bisher eine Therapie zur Verminderung der Progression bzw. zur Heilung.»

Sprich: Ein Mittel, das Demenz heilt oder verlangsamt gibt es nicht.

Dann aber heisst es im Kapitel über Ginkgo Biloba, dass es Hinweise für die Wirksamkeit von Ginkgo Biloba EGb761 auf Kognition bei Patienten mit leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz oder vaskulärer Demenz gibt. Eine Behandlung, schreiben die Autoren, könne daher «erwogen werden».

«Solche Formulierungen sind ein gefundenes Fressen für die Werbeabteilung eines Arzneimittel-Herstellers», sagt Becker-Brüser. «Da denkt doch jeder: Ja, klar – die Experten sagen, dass das Mittel funktioniert.»

Das aber sei mitnichten der Fall. Denn ein Hinweis sei ein Hinweis – und kein Beweis. Und dass die Verordnung eines Medikaments «erwogen» werden kann, sei keine Empfehlung und heisse noch lange nicht, dass es wirksam und sicher ist.

Eine mögliche Erklärung für derlei Wort-Akrobatik findet man, wenn man auf die Hintergründe der Leitlinie blickt. Ginkgo Biloba EGb761 ist der Spezialextrakt des in Deutschland ansässigen Herstellers Schwabe.

Und einer derjenigen, die an der Erstellung der S3-Leitlinie Demenzen mitgewirkt haben, ist jener Mediziner, der im Auftrag der Firma Schwabe eine der massgeblichen Studien zu dem Mittel in der Ukraine durchgeführt hat: der Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie und -​psychotherapie am Alexianer-Krankenhaus in Krefeld, Ralf Ihl.