«Ein Versuchskaninchen? Nein danke!» - demenzjournal.com

Studien am Objekt Mensch

«Ein Versuchskaninchen? Nein danke!»

Heute dürfen Medikamenten-Studien auch dann an urteilsunfähigen Personen durchgeführt werden, wenn diese wahrscheinlich nicht davon profitieren können. Bild PD

An Demenzkranken sind Studien mit Medikamenten erlaubt, selbst wenn die Ergebnisse nur anderen nützen und nicht den Betroffenen selbst. Wir haben einen Medizinethiker gefragt, warum man solche Studien nicht per se verteufeln darf und warum hier eine Patientenverfügung wenig sinnvoll ist.

«Wenn ich überhaupt an einer Studie teilnehmen würde, dann doch nur, wenn ich wüsste, was mit mir gemacht wird und warum», sagt ein sichtlich aufgebrachter 74-jähriger Mann. Hätte er eine Demenz, würde er niemals an einer solchen Studie teilnehmen wollen.

«Und ich würde auch nie einwilligen, dass meine Frau teilnimmt, wenn sie eine Demenz bekäme.» Auch Leute ohne Demenz sehen solche Studien kritisch. Immer wieder liest man von Nebenwirkungen, sogar von Todesfällen ist die Rede. Wenn man noch urteilsfähig ist, kann man zumindest jederzeit aussteigen oder sich äussern, wenn einem etwas nicht gefällt.

Ein Mensch mit fortgeschrittener Demenz weiss aber nicht, was die Studie bedeutet und warum bestimmte Untersuchungen mit ihm gemacht werden. Dass der 74-Jährige dies kritisch sieht, ist also verständlich.

Dabei könnte er durchaus profitieren. Zum Beispiel wenn er Krebs hätte und in der Studie herauskommt, dass das geprüfte Medikament seinen Tumor viel besser bekämpft als herkömmliche Arzneien. Doch anders herum könnte er auch zu den Patienten gehören, die ein Vergleichspräparat bekommen, was weniger gut wirkt.

Sich für oder gegen die Teilnahme an einer Studie zu entscheiden, ist nicht einfach, und noch schwieriger ist dies bei urteilsunfähigen Menschen.

In Deutschland wurde im November 2016 das Arzneimittelgesetz geändert. Bisher durften Patienten nur an einer Studie teilnehmen, wenn sie durch eine Verbesserung ihres Zustandes direkt davon profitieren konnten.

Heute dürfen Medikamenten-Studien auch dann an urteilsunfähigen Personen  durchgeführt werden, wenn diese wahrscheinlich nicht davon profitieren können, etwa weil sie früher sterben oder weil ihre Demenz zu weit fortgeschritten ist. Einen realen Nutzen durch eine erfolgreiche Studie würden dann nur andere Menschen mit Demenz haben.

Wir haben den Medizin-Ethiker Georg Marckmann gefragt, was er von dem neuen Gesetz hält und ob man solche Studien an Menschen mit Demenz durchführen sollte.

alzheimer.ch: Herr Marckmann, warum sollte man einen  Angehörigen mit Demenz an einer Studie teilnehmen lassen, wenn dieser davon nicht profitiert?

Natürlich muss man das nicht. Aber zum einen gibt es altruistische Gründe. Die Studienergebnisse können anderen Menschen mit Demenz nützen. Zum anderen kann eine Teilnahme an so einer rein gruppennützigen Studie durchaus Vorteile haben, die nichts mit dem Studienergebnis zu tun haben: In Studien werden die Patienten intensiv von Arzt und Pflegenden betreut. Durch den engen Kontakt könnten sich die Demenzkranken wohler fühlen.

Prof. Georg Marckmann leitet das Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.Bild PD

Für Arzneimittel-Studien mit Demenzkranken muss man Blut abnehmen, Urin- oder Stuhlproben gewinnen oder Aufnahmen vom Hirn machen. Das belastet doch die Betroffenen sehr!

Das ist individuell unterschiedlich – bei Menschen ohne Demenz ist das ja auch so. Manchen machen mehrmalige Blutabnahmen oder eine Magnetresonanztomographie (MRI) nichts aus, andere empfinden schon einen kleinen Piecks als unangenehm.

Deshalb ist im Gesetz ganz klar geregelt: Die Studie darf nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sein und sie muss wesentliche Erkenntnisse bringen, die Personen mit derselben Krankheit deutlich nützen können. Für viel wichtiger als Medikamenten-Studien, die nur anderen nützen, halte ich aber Studien aus dem nichtmedikamentösen Bereich bei Demenzkranken.

Was wären das für Studien?

Zum Beispiel Marker zu suchen, mit dem man eine Demenz früher feststellen oder den Verlauf besser vorhersagen kann. Oder Studien, mit denen man im Rückblick feststellt, ob eine bestimmte Behandlung dem Demenzkranken geholfen hat. 

Er selbst profitiert davon dann nicht mehr, denn er wurde ja schon therapiert. Dafür können anderen Menschen mit Demenz solche Erkenntnisse sehr helfen. Zum Beispiel, dass man ihnen eine belastende Behandlung erspart, weil sie nicht hilft.

Egal ob eine Studie einem selbst später nützt oder anderen: Ich könnte doch in einer Patientenverfügung festlegen, ob ich später im Falle einer Demenz an einer Studie teilnehmen möchte oder nicht?

Ja, das könnten Sie. Aber es ist sehr schwierig, alle möglichen zukünftigen Studien vorherzusehen und detailliert zu beschreiben. Die Medizin entwickelt sich sehr schnell. Vielleicht wird es in ein paar Jahren eine Möglichkeit geben, schmerzlos Marker im Blut zu testen. Oder jemand entwickelt eine Technik, mit der man das Gehirn darstellen kann, ohne dass Sie in eine MRT-Röhre müssen. Dann empfänden Sie es vielleicht gar nicht so schlimm, an einer Studie teilzunehmen.

Vielleicht entwickelt auch jemand ein Arzneimittel, welches mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Alzheimer heilen könnte – auch dann würden sie vielleicht eher an einer Studie teilnehmen wollen.

Gibt es aktuelle Beispiele aus der Medizin?

Bei Brustkrebs hat früher auch niemand gedacht, dass es einmal Antikörper geben würde, die den Krebs zu heilen vermögen und viel verträglicher sind als eine Chemotherapie. So etwas könnte theoretisch auch bei Alzheimer passieren. Aber selbst mit einer noch so detaillierten Patientenverfügung kann man unmöglich solche Situationen vorhersagen.

Was wäre denn die bessere Lösung?

Besser als eine Verfügung fände ich, wenn man sich mit seinem Partner, seinen Kindern oder anderen Angehörigen über das Studien-Thema austauscht. Würde man irgendwann eine Demenz bekommen, würden dann die Angehörigen – idealerweise als gesetzliche Vertreter – entscheiden, ob man an einer Studie teilnimmt oder nicht.

So würden beispielsweise die Kinder einer demenzkranken Frau deren Teilnahme an einer Studie ablehnen, weil sie wissen, dass die Mutter Blutabnahmen schon immer als sehr unangenehm empfunden hat und in der Röhre Platzangst bekommt.

Der Ehemann einer anderen Frau mit Demenz würde einer Teilnahme vielleicht eher zustimmen, weil seine Frau immer schon medizinische Forschung wichtig fand. So eine Entscheidung ist natürlich nicht einfach.

Angehörige, rechtliche Vertreter, der Hausarzt und der Studienarzt sollten sich ausreichend Zeit nehmen, um das im Einzelfall abzuwägen. Der Demenzkranke muss unbedingt vor Belastungen und Risiken geschützt werden, aber es sollte auch sinnvolle Forschung ermöglicht werden, damit wir Alzheimer irgendwann besser behandeln können.

Danke für das Gespräch.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Gesetzliche Situation in der Schweiz: 

Artikel 24 des Humanforschungsgesetzes (Forschungsprojekte mit urteilsunfähigen Erwachsenen)

1. Ein Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen für den Teilnehmer darf mit urteilsunfähigen Erwachsenen nur durchgeführt werden, wenn:
a. der Betroffene im Zustand der Urteilsfähigkeit dies erlaubt und dokumentiert hat.
b. oder – falls keine dokumentierte Einwilligung vorliegt – sein gesetzlicher Vertreter, eine bezeichnete Vertrauensperson oder die nächsten Angehörigen eingewilligt haben und der Betroffene die Forschung nicht durch entsprechende Äusserungen oder Veralten ablehnt.

2. Ein Forschungsprojekt ohne erwarteten direkten Nutzen darf mit urteilsunfähigen Erwachsenen nur durchgeführt werden, wenn es zusätzlich zu den Anforderungen nach Absatz 1

  • nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden ist 

  • und wesentliche Erkenntnisse erwarten lässt, die Personen mit derselben Krankheit längerfristig nutzen könnten.