«Junge Demenzkranke brauchen mehr Angebote» - demenzjournal.com

Interview

«Junge Demenzkranke brauchen mehr Angebote»

Jüngere Demenzkranke haben spezifische Probleme. Irene Bopp, Leiterin der Memory-Klinik am Zürcher Waidspital, wünscht mehr auf sie zugeschnittene Angebote.

Verläuft eine Demenz bei jungen Menschen anders als bei älteren?

Irene Bopp: Grundsätzlich nicht, doch sie sind an einem anderen Punkt in ihrer Biografie als ältere. Zudem stehen bei ihnen öfter Demenzformen im Vordergrund, so die frontotemporale Demenz, deren Beginn mit einer Veränderung der Persönlichkeit – abnehmende Empathie, zunehmende Aggressivität, keine Einsicht in die Krankheit – einhergeht. Zudem sind Jüngere in der Regel körperlich gesund. Treten keine Komplikationen auf, müssen sie ihren Krankheitsweg oft bis zum Ende gehen.

Irene Bopp-KistlerBild Ronald Brändli

Welches sind die grossen Herausforderungen für die Betroffenen?

Junge Betroffene stehen noch mitten im Leben. Vielfach haben sie Kinder, die noch nicht erwachsen sind. Für Kinder und Jugendliche im Teeanger- und Adoleszenzalter ist das sehr schwierig: Ein Elternteil wird nicht nur plötzlich anders, sondern wird an dieser Krankheit auch sterben.

Und doch staune ich immer wieder über die unglaubliche Stärke, die solche Kinder und Jugendliche entwickeln können – vorausgesetzt, sie bekommen genügend Begleitung und den nötigen Halt in ihrem sich ebenfalls verändernden Leben.

Ist die Krankheitsursache bei jüngeren Menschen eine andere als bei älteren?

Demenz im jüngeren Lebensalter wird häufiger vererbt. Klarheit bringt nur eine Chromosomenanalyse. Die Entscheidung für oder gegen einen Gentest können nur die Nachkommen selber treffen – eine unglaublich schwierige Entscheidung, die eine gute genetische Beratung voraussetzt.

Irene Bopp

Irene Bopp-Kistler war Leitende Ärztin der Memory-Klinik am Zürcher Stadtspital Waid. Im Zentrum ihrer Arbeit standen die ganzheitliche Abklärung und Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Frau Bopp ist inzwischen pensioniert, aber immer noch sehr aktiv in ihrem Spezialgebiet.

Die Tests sind teuer und werden nicht immer von der Krankenkasse übernommen. Zudem haben sie neben menschlichen Konsequenzen auch versicherungstechnische Folgen: Gewisse Leistungen werden bei einem positiven Ergebnis nicht mehr erbracht. 

Sterben jüngere Betroffene häufiger unter Mithilfe einer Sterbehilfeorganisation?

Ich habe in meiner Tätigkeit als Ärztin nur vier Menschen mit einer Demenz erlebt, die mit Exit aus dem Leben geschieden sind. Viele sprechen zwar das Thema an – ich sehe dies eher als Hilferuf: Sie stellen die existenziellen Fragen nach dem Lebensende. Ich finde es wichtig, dass man darüber redet.

Es gibt Alternativen zur Sterbehilfe – eine von ihnen ist der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, indem man zum Beispiel eine Lungenentzündung nicht mehr therapiert. Der Ausdruck «passive Sterbehilfe» gefällt mir zwar nicht, aber er beinhaltet, dass man der Natur auch ihren Lauf lassen darf.

Welche besonderen Bedürfnisse haben jüngere Menschen mit Demenz?

Gerade am Anfang einer Demenzerkrankung ist es ganz wichtig, dass Betroffene in ihrem Freundeskreis und ihrem sozialen Netz aufgehoben bleiben. Sie sollen trotz ihres Vergessens zu Veranstaltungen gehen können – in die Jassgruppe zum Beispiel oder auf den Fussballplatz. Das ist auch eine Anforderung an die Gesellschaft.

Welche Angebote gibt es für jüngere Demenzkranke in einer späteren Phase ihrer Krankheit?

Viel zu wenige. Ich befürworte Projekte wie Hof Obergrüt, wo Menschen mit Demenz Teil der Familie sind und einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können. Und ich staune, wie viele Betroffene sich gern auf dem Bauernhof betätigen.

Aber es gibt auch solche, die mit Arbeit auf dem Land nichts anfangen können. Für sie braucht es andere Angebote und geschützte Arbeitsplätze. Oder die Eingliederung in bereits bestehende geschützte Werkstätten.

Auch eine Koordinationsstelle für Freizeitangebote für junge Menschen mit Demenz wäre dringend nötig. Es gibt viele kleine Initiativen, doch es fehlen Innovation und Ideen, um Lösungen im grösseren Rahmen zu finden.


Wir danken der Pro Senectute und der Redaktion des Magazins Zeitlupe für die Gelegenheit zur Zweitverwertung dieses Interviews.