«Das Gefühl ist eine uneinnehmbare Burg» - demenzjournal.com

Logopädie bei Demenz

«Das Gefühl ist eine uneinnehmbare Burg»

Das Gefühl der Verbundenheit ist wichtiger als reiner Informationsaustausch. Bild Pixabay

Wer an Logopädie denkt, denkt meistens an Kinder mit Sprachentwicklungsstörung. Dabei kann eine logopädische Begleitung auch Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen helfen.

«Apfel, Banane, Birne. Was fällt Ihnen noch ein?» Das ist eine klassische funktionale Wortschatzübung, wie sie in der Logopädie Anwendung findet. Doch bei der Therapie von Menschen mit Demenz und ihren Bezugspersonen geht es um deutlich mehr.

«Es geht um die Aufrechterhaltung des Selbst durch Kommunikation», sagt Professor Jürgen Steiner, Dozent an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und Mitglied des Expertenbeirats von Alzheimer Schweiz.

Wir sind ständig damit beschäftigt, unser Selbst umzubauen. Die Konstruktion und Vergewisserung dieses Ich erfolgt über die Resonanz mit dem Aussen, dem Du. Aber wer die Diagnose Demenz erhält, erlebt angstvoll mit, wie er sein gewohntes Selbst schrittweise verliert. Und fürchtet um das Abreissen der Verbindung nach Aussen.

In Kontakt zu bleiben mit seinem Selbst, mit anderen Menschen und der Welt ist wichtig.

Das gelingt auch mit Demenz sehr lange. Logopädie kann unterstützen, indem sie Strategien in Gesprächen unter erschwerten Bedingungen vorstellt. Auch Lesen und Schreiben, sogar die Nutzung digitaler Medien können auf einem angepassten Niveau lange aufrechterhalten werden.

Letztlich geht es um Teilhabe, um das Gefühl, verstanden zu werden. Therapie hilft bei der Selbstermächtigung, die das Gegenteil von Ohnmacht ist.

«Gerade bei Alzheimer sind Lesen und Schreiben Hauptressourcen», meint Steiner. Doch das geht oft verloren im Zuge von Wortfindungsschwierigkeiten: «Ich kann die Worte nicht finden, also gebe ich auch Lesen und Schreiben auf. Dabei würde genau das helfen.»

Das Alter der betroffenen Person spielt eine untergeordnete Rolle. Voraussetzung ist aber ein gewisses Mass an Orientiertheit, das in jener Phase gegeben ist, in der die Wohnselbständigkeit noch aufrechterhalten werden kann.

Ausserdem ist ein Gehirn, das lebenslanges Lernen gewohnt und entsprechend neugierig ist, besser darauf ausgerichtet, Probleme zu kompensieren. Auf jeden Fall muss der Betroffene selbst die Therapie wollen. Für Steiner gilt die Devise: «Aktiviert die noch Aktiven und verwirrt nicht die Verwirrten.»

Die Logopädie ermittelt auf Basis der Ressourcen des Betreffenden, in welcher Form bestimmte Aktivitäten noch möglich sind.

So wird ein langsamer Umstieg auf ein angepasstes Niveau erreicht, ohne dass man auf die Aktivität verzichten muss. «Wer die Financial Times nicht mehr lesen kann, steigt auf eine Tageszeitung um», rät Steiner. Wenn man den Text nicht mehr lesen kann, konzentriert man sich auf Bilder und Überschriften.

Grundlage der Therapie ist sinnhaftes, lebensbedeutsames Arbeiten, das an die Biografie und den Alltag anknüpft: «Der Mensch ist ein sinnsuchendes Wesen. Wenn Patienten mit mir über ihre Lebenswelt sprechen, halten wir das in einem Text fest. Der Text hat eine einfache Struktur und verwendet die Ich-Form. Der Betroffene kann ihn gestalten, verstehen und mit anderen darüber sprechen.»

Fallbeispiel

Der ehemalige Architekt Herr S. (83) kommt mit seiner Frau in die Praxis. Beim Anamnesegespräch zeigt sich, dass er sich über seinen Beruf definiert. In einfachen Sätzen, aber mithilfe von Fachbegriffen, spricht er begeistert über seine Projekte. Im Laufe der Therapie entwickelt sich eine Lehrer-Schüler-Beziehung: Herr S. hat die fachkundliche Kompetenz, die Logopädin ist die Praktikantin. Ein angepasstes Materialangebot (Fotos, Fachartikel, eigene Bauprojekte) begleitet das Vorgehen. Nach jeder Sitzung wird das Besprochene niedergeschrieben. So kann Herr S. auch zuhause mit Besuchern über seine Arbeit sprechen.

Im Verlauf der Krankheit ändert sich die Kommunikation mit dem Aussen. Eine Belastungsprobe für das Du, das dem haltsuchenden Ich des Demenzbetroffenen Orientierung und Bestätigung geben soll.

Eine weitere Aufgabe der Logopädie besteht somit in der Beratung: mit Betroffenen und Angehörigen die veränderte Situation beleuchten und Kommunikationsstrategien finden.

«Manche Ehepartner drängen auf eine Antwort, wenn sie etwas fragen», erklärt Steiner. «Das ist für den Menschen mit Demenz frustrierend, weil sie das nicht mehr leisten können. Die betroffene Person wird verständlicherweise ungehalten, ganz einfach deshalb, weil sie sich unverstanden fühlt».

Weniger Fragen stellen, einfach formulieren, Aufforderungen wie «Denk nochmal nach, du weisst es doch!» unterlassen – das sind mögliche Gesprächsstrategien.

Oft sind es Banalitäten, doch sie geben den Ausschlag. Es geht um die Rettung der Normalität.

Darum, den um Worte Ringenden zu entstressen und ein Gesprächsklima zu schaffen, das bestärkt. Das sagt: Du bist okay so, auch wenn deine Fähigkeiten gemindert sind. Wir bewahren unsere emotionale Bindung.

Das ist der springende Punkt, der Trost bei Demenz: «Ich fühle, also bin ich. Das Gefühl ist eine uneinnehmbare Burg». Das Beisammensein, einander Wahrnehmen ist wichtiger als der Informationsaustausch.

Ebenso wichtig wie die Ressourcen des Direktbetroffenen sind diejenigen des Angehörigen. Wer mit seinem erkrankten Partner nun keine philosophischen Gespräche mehr führen kann, sollte dies zum Beispiel im Freundeskreis tun. Kompensation statt Verzicht.

Entlastung des Gesunden und Selbstermächtigung des Menschen mit Demenz wird erreicht, wenn sich der Demenzbetroffene selbstbestimmt beschäftigen kann. Steiner gibt ein Beispiel für eine selbstgesteuerte Aktivität aus Sicht des Demenzbetroffenen:

«Jeden Morgen nach dem Frühstück liegt die Tageszeitung auf meinem Schreibtisch. Daneben Stift und Notizblock. Ich kann die Texte nicht mehr lesen. Aber ich sehe die Bilder und blättere die Zeitung durch.»

Nach einer festgelegten Zeit kommt der Partner zurück und beide können sich über Ausschnitte des Inhalts unterhalten.

Noch sind logopädische Angebote für Menschen mit Demenz wenig verbreitet. «In der geriatrischen Rehabilitation ist die Logopädie gut verankert. Dort liegt der Fokus aber auf der Dysphagie, der Schluckstörung», sagt Steiner. Der geriatrische Patient ist fragil, multimorbid. «Das trifft auf Menschen mit Demenz im Anfangsstadium oft gar nicht zu. Die sind fit, wirken teils sehr agil und äusserlich frisch. Sie müssen aber eine Demenz managen.»

Steiner sieht zum einen die Ausbildung in der Pflicht. Logopädie bei Menschen mit Demenz muss ins Curriculum aller Ausbildungsstätten aufgenommen werden. Und es muss selbstverständlich werden, dass Krankenkassen Logopädie bei beginnender Demenz finanzieren.

Zum anderen mangelt es seitens der Hausärzte teils an Wissen um nichtmedikamentöse Behandlungsoptionen. Logopädie wird mitunter immer noch mit Kindertherapie assoziiert. Interessierte müssen häufig selbst auf diese Möglichkeit aufmerksam machen.

Fallbeispiel

Herr W. (67) lebt allein und selbstversorgend. Der frühere Sportlehrer ist körperlich fit, aber die Alltagsbewältigung wird aufgrund der Demenz immer schwieriger. Er möchte für die Einkäufe wieder gut rechnen und seinen entfernt lebenden Söhnen Briefe schreiben können. Die Logopädin bietet alltagsnahe Rechenübungen an. Das Briefeschreiben übt Herr W. mit Themen, die ihn beschäftigen. So entsteht u.a. ein Heft, in dem Höhepunkte seiner Sportlehrerkarriere festgehalten sind. Ergänzend findet ein regelmässiger Austausch mit einem Freund statt, der einzigen Bezugsperson. Die Angst, Situationen nicht mehr kommunikativ bewältigen zu können, konnte Herr W. durch das Erleben der eigenen Kompetenzen und die Erarbeitung von Alltagsstrategien abmildern.

Dass eine chronische Erkrankung eine endlose Therapie nach sich ziehe, ist nach Steiner ein hinderliches Vorurteil: Eine Kurzintervention mit 8 bis 12 Therapiestunden, in denen die Situation analysiert und Impulse für die Alltagsbewältigung gegeben werden, kann effektiv und sinnvoll sein.

Wirksamkeit bedeutet individuelle Wirksamkeit.

Wie gut die Therapie anschlägt, hängt von den Voraussetzungen des Betroffenen ab (Lernbiografie, Alter, Krankheitsstadium, Qualität der Beziehung u.s.w.). Wunder erwarten darf man von der Logopädie also nicht. Doch sie ist eine Möglichkeit, aktiv mit der Erkrankung umzugehen.

«Das häufige Argument Es wird ja nicht besser ist für mich kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen», sagt Steiner. «Es geht darum, die Lebensqualität zu verbessern. Was bringt denn das? Es bringt die Aufrechterhaltung des Selbst! Im Übrigen hat jeder Mensch das Recht auf geistige Nahrung.»

Betroffene Helga Rohra: So kann Logopädie helfen

Quelle: Youtube


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Tipps für demenzgerechtes Kommunizieren finden Sie hier:


Quellen

Jürgen Steiner: Sprache als Teil des Selbst. Sprachtherapie als Stützung des Selbst. In: Harm-Peer Zimmermann, Simon Peng-Keller (Hg.): Tagungsband «Seelsorge bei Demenz» (erscheint 2021).

Vielen Dank für die Erlaubnis zur Verwendung der Fallbeispiele. Diese sind entnommen aus Heike D. Grün: Demenzbetroffene Patienten in der freien Praxis. Einblicke in den logopädischen Alltag. In: Forum Logopädie, Jg. 34 (2) 2020, S. 18–23.