Die grosse Herausforderung - demenzjournal.com

Sprache und Demenz

Die grosse Herausforderung

Ob Verhalten als «herausfordernd» wahrgenommen wird, hängt vom Gegenüber ab. Bild PD

Welche Begriffe wir verwenden, prägt unsere Wahrnehmung. Das trifft auch auf das Thema Demenz zu. Wie angemessen ist es zum Beispiel, von «herausforderndem Verhalten» sprechen? Wäre «hinweisendes Verhalten» der passendere und weniger abwertende Ausdruck?

Wird aus der Wiener «Mohrenapotheke» eine «Ohrenapotheke»? Der «Shitstorm», der zu dieser Frage wütete, zeigt deutlich: Sprache ist niemals neutral. Sie verändert sich mit unserem Denken und beeinflusst unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wer die Wörter bestimmt, gestaltet auch die Wirklichkeit – und umgekehrt.

Sprache ist auf diese Weise eng mit Macht gekoppelt. Es gibt viele Beispiele für die sprachliche Selbstermächtigung diskriminierter Gruppen, die gegen sie gerichtete Begriffe verwenden und so ihre Zuschreibungen neu bestimmen: «Nigga», «Krüppel», «schwul» …

Im Bereich Demenz stehen wir bei sprachlicher Sensibilität noch am Anfang.

Menschen mit Demenz äußern, dass sie mit der Zuschreibung «dement» («ohne Geist») nichts anfangen können, dass ihnen der Begriff Angst macht, sie schwächt. Sie schaffen neue Begriffe und bringen diese in Debatten ein – etwa Helga Rohra mit dem Slogan «trotzDEM» oder die Gruppe PROMENZ in Österreich, deren Vertreter sich als «Menschen mit Vergesslichkeit» beschreiben.

Während in Fachkreisen weitgehend Konsens besteht, zumindest den Begriff «die Dementen» aus dem Sprachgebrauch zu streichen, hält er sich allgemein ebenso hartnäckig wie der vermeintlich putzige «Alzi» oder die Vorstellung, dass man an Demenz prinzipiell «leide».

Besonders knifflig wird es bei dem in Pflege und Betreuung gängigen «herausfordernden Verhalten». Der Begriff geht auf Rahmenempfehlungen zurück, die von einer Expertengruppe 2006 im Auftrag des deutschen Gesundheitsministeriums formuliert wurden.

Dabei bildete der neu vorgeschlagene und ausführlich argumentierte Begriff einen Fortschritt zu der bis dahin üblichen «Verhaltensstörung» und «Verhaltensauffälligkeit». Heute hat er sich durchgesetzt, auch bezüglich Menschen mit Behinderung und in der Psychiatrie.

Trotzdem ist es nach vierzehn Jahren an der Zeit, den Begriff kritisch zu beleuchten.

«Herausforderung» ist ein schillernder Begriff, der in Business, Coaching und Selbstoptimierung das «Problem» verdrängt hat. Das Zitat «Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen» wird gleich mehreren Urhebern zugeschrieben.

Die Haltung passt gut in die Zeit der Ich-AG, in der äußere Faktoren in den Hintergrund treten und jeder alles schaffen kann, wenn er sich genügend anstrengt. Tatsächlich aber gibt es neben Herausforderungen  reale Probleme. Sie zeichnen sich durch Komplexität aus, während Herausforderungen einfache Ursache-Wirkungsketten aufweisen.

Die Definition von «Herausforderung» weist historisch auf die Fehde-Praxis hin.Bild PD

Komplex ist auch unsere Sprache. Begriffe sind mehrdeutig, schillernd, sie lösen unterschiedliche Emotionen aus. Der Duden definiert «Herausforderung» so: «Aufforderung zum Kampf / Provokation / Anlass, tätig zu werden».

Und herausfordernd: «durch unverhohlen aufreizende, anmaßende Art eine Reaktion verlangend». Die Definitionen legen einen Menschen als Urheber nahe, jemanden, der – historisch gesprochen – den Fehdehandschuh zu Boden wirft und Satisfaktion fordert.

In unserem Fall geht die Herausforderung scheinbar vom «Verhalten» aus – aber dieses wiederum ist unlösbar an eine Person gebunden, es geht eben nicht um eine Situation. Für die Herausforderung braucht es eine zweite Person.

Und hier wird es interessant: Eine Herausforderung wird nicht objektiv als solche wahrgenommen. So definieren die Rahmenempfehlungen: «ein Verhalten, das […] als störend und problematisch empfunden wird.» Diese Empfindung kann auf eine einzelne Betreuungsperson beschränkt werden, auf ein Team oder auch auf die gesamte Gesellschaft – Demenz wäre dann eine Herausforderung für uns alle.

Wir haben also folgende Situation: Eine Person mit Demenz verhält sich auf eine Art und Weise, die von außen als «herausfordernd» empfunden wird. Diese Empfindung wird durch persönliche Faktoren (Tagesverfassung, Ausbildung, persönliche Trigger, Reflexionsfähigkeit usw.) mitbestimmt.

Bei einer Pflegeperson kommen dazu noch die als herausfordernd definierten Verhaltensweisen, die zu erfassen und entsprechend zu behandeln sind. Somit ist der Mensch mit Demenz abhängig davon, wie sein Verhalten von außen interpretiert und aufgegriffen wird.

Obwohl laut Rahmenempfehlungen der Begriff «den Fokus auf diejenigen [legt], die sich durch ein Verhalten herausgefordert fühlen», sieht die Wirklichkeit doch ganz anders aus. Besprechungen zu herausforderndem Verhalten stellen oft den demenziell veränderten Menschen in den Mittelpunkt und nicht die Pflegemitarbeiterin.

Ein Erfassungsbogen für herausforderndes Verhalten etwa nennt eine Spalte «Auslöser». Damit ist jedoch bestimmt nicht gemeint, warum sich die Pflegeperson herausgefordert fühlt.

Welche alternative Begriffe können helfen, die Verhältnisse klarer zu benennen?

Da wäre einmal das «Problem». Der Begriff ist unabhängig: Es «gibt» ein Problem, wir können gemeinsam eines «haben». Probleme sind komplex – und tatsächlich befinden wir uns in Fällen von «herausforderndem Verhalten» in Situationen von erheblicher Komplexität, die von einer einzelnen Person kaum bewältigt werden können.

Sei dies nun durch Personalmangel, starre Abläufe, ungünstige örtliche Bedingungen, fehlender ärztlicher Support. Vielleicht liegt herausforderndem Verhalten eine einfache Ursache-Wirkungskette zugrunde, aber die Lösung ist selten banal und braucht meist Kooperation auch von jenen, die sich gerade nicht herausgefordert fühlen. Das erste Kapitel des Buches «Herausforderndes Verhalten bei Demenz» lautet: «Finden Sie heraus, wer das Problem hat.»

Warum nicht die Menschen selbst fragen, wie sie ihr Verhalten nennen wollen? In Kanada hat die Alzheimer’s Association genau das getan. Die Antwort: «responsive behavior», also «antwortendes Verhalten.»

Das impliziert, dass Menschen mit Demenz durch ihr Verhalten kommunizieren und dass es etwas gibt, auf das sie reagieren. Wir können also den Dialog aufnehmen und nach den Auslösern ihrer Antworten suchen.

Manchmal ist das Verhalten schlicht «ablehnend».

Dann kann man es auch so nennen. Körperpflege, Lärm, Übersehenwerden, Fremdbestimmtsein – es gibt vieles, das ablehnungswürdig ist. Durch diesen Begriff erhalten Menschen mit Demenz Autonomie zugesprochen. Sie müssen nicht «herausfordern», damit etwas nicht geschieht, sondern bestimmen ein kleines Stück ihres Lebens selbst.

Quelle YouTube

Ich schlage eine Alternative vor, die meines Wissens noch nirgends verwendet wird: «hinweisendes Verhalten». Der Begriff hat keine aggressive Konnotation, sondern weist auf eine Form der Kooperation hin. Er bezeichnet eine Art von Kommunikation, die Menschen mit Demenz möglich ist: Ausdruck durch das Verhalten.

Es ist nicht wichtig, ob die Pflegeperson durch eigene Erlebnisse und Haltungen «getriggert» wird. Wichtig ist nur, wie achtsam sie den Menschen mit Demenz beobachtet.

«Hinweisendes Verhalten» ist kein Aufruf zur Abwehr, zur Bewältigung, sondern zur Spurensuche.

Es beschreibt, dass wir nie ausgeliefert sind, sondern immer die Möglichkeit und Aufgabe haben, hinter einer Handlung einen Grund, einen Sinn zu entdecken. Und diesen im Sinne der betreuten Person zu verstehen und eigenes Verhalten anzupassen.

Die Verwendung des Begriffs ist eine Herausforderung. Denn damit verbunden ist ein Perspektivenwechsel: vom Erleiden zur Kooperation, vom Opfer des Verhaltens zum verstehenden Partner in einer Situation. Es ist nur ein Wort, könnte man sagen.

Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen «herausforderndem» und «hinweisendem» Verhalten ebenso so groß wie der zwischen «Mohrenapotheke» und «Ohrenapotheke».