«Früher bin ich vor diesen Menschen weggelaufen» - demenzjournal.com

Demenz erklärt

«Früher bin ich vor diesen Menschen weggelaufen»

Der junge Kommunikationsdesigner Frank Hildebrandt hat ein aussergewöhnliches Buch gestaltet, das sich an Angehörige und Institutionen richtet, die täglich mit Menschen mit Demenz zu tun haben. Für Unkundige bietet das Buch viele praktische Einsichten.

Wie eine Schneekugel, die langsam den Berg herunterrollt – so beschreibt und illustriert Frank Hildebrandt das Fortschreiten einer Demenz in seinem Buch «Demenz verstehen in Farbe».

Anschaulich wird in der ersten Hälfte des Buches die Krankheit erklärt und wie wir als Gesellschaft die ‘Schneekugel’ Demenz zwar nicht stoppen, aber wichtige Winterdienste entwickeln können. Mit bunten Grafiken und bildhafter Sprache macht Hildebrandt das Thema dem Leser verständlich.

Der zweite Teil des Buches steht Kopf. Drehen die Leserinnen das Buch, so finden sie Designregeln zur Gestaltung des Lebensraumes von Menschen mit Demenz. Hildebrandt zeigt anhand von Praxisbeispielen auf, wie Pflegeeinrichtungen mit Orientierungssystemen arbeiten können.

Bewohnerinnen und Bewohner werden mit einbezogen in die Gestaltung der Räume. Praktische und liebevolle Anregungen, die sofort umgesetzt werden können, runden das Werk ab.

Das Buch lädt dazu ein, sich durch den Humor und die Gelassenheit älterer Menschen inspirieren zu lassen.

alzheimer.ch: Frank Hildebrandt, was verbindet Sie mit dem Thema Demenz? 

Frank Hildebrandt: Obwohl ich fast ein Jahr Hausmeister-Zivi einer Pflegeeinrichtung war, hatte ich kaum Kontakt zu Menschen mit Demenz. Das lag vermutlich daran, dass ich vor ihnen weggelaufen bin.

Erst Jahre später hielt ich an. Im Studium gab es einen Wettbewerb zur Wandgestaltung einer Pflegeeinrichtung. Zu diesem Zeitpunkt habe ich endlich den Mut aufgebracht, Menschen mit Demenz richtig kennenzulernen.

Heute möchte ich anderen dabei helfen anzuhalten und die Distanz, die mich einst von Menschen mit Demenz trennte, auch bei anderen abzubauen.

Eine Geschichte, die Mut macht

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Was war die Idee zum Buch, oder anders gefragt: Wie sind Sie darauf gekommen, ein Buch wie dieses zu machen?

Während meines Studiums war mir klar: Meine Abschlussarbeit wird kein Buch. Ich wollte als Abschlussarbeit ein grosses künstlerisches Projekt realisieren oder einen Raum oder ein Gebäude innenarchitektonisch gestalten.

Kurz vor meinem Abschluss erkannte ich dann, was meine eigentliche Motivaton war. In der Suche nach einem möglichst grossen Abschlussprojekt realisierte ich, worum es mir wirklich ging: Ich wollte die Chance haben, eine grösstmögliche Veränderung in der Gesellschaft zu bewirken. Dafür muss ich aber keine grossen Räume gestalten.

Das grösste Potential zur Veränderung bietet nämlich unsere Psyche. Sie ist der grösste Raum, den wir gestalten können

Dann war mir plötzlich klar: Meine Abschlussarbeit wird ein Buch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits im Studium einige Projekte in Pflegeeinrichtungen realisiert.

Ich glaube, dass sich in diesen Projekten vor allem meine innere Haltung widerspiegelt und sie der Kern meiner Arbeit ist. Und genau dieser Kern sollte in meinem Buch zu finden sein.

Was waren die grössten Hindernisse, in welchen Details steckte der Teufel?

Da ich aus der Raumgestaltung komme, habe ich das Buch als Objekt behandelt. So haben sich im Prozess viele Buchdetails ergeben, die in der Realisierung viel Fingerspitzengefühl forderten. Das Buch steht zur Hälfte Kopf. In der Mitte des Buches treffen sich beide möglichen Leserichtungen. Dies fordert den Leser zu einer Erfahrung heraus.

Im ersten Moment ist man geneigt, auch den auf dem Kopf stehenden Text lesen zu wollen. Nach kurzem Zögern erkennt man, dass der Text aus dieser Position nicht zu verstehen ist. Ähnlich geht es Menschen mit Demenz. Obwohl vieles noch vertraut scheint, wirken die Dinge zunehmend fremd.

Die Realisierung dieser Idee fordert nicht nur den Leser, sie forderte auch mich. So musste ich einen Teil des Buches tatsächlich auf dem Kopf gestalten.

Ausserdem war die Produktion des Buches fordernd, da das gesamte Buch mit einer Sonderfarbe veredelt ist, eine Fadenheftung besitzt und wir in mehreren Durchgängen den einzelnen Fotografien und Grafiken entsprechende Farbprofile für ein sauberes Druckergebnis zuordnen mussten. Das fertige Buch zeigt: Es hat sich gelohnt.

Sie haben eine eigene Bildsprache entwickelt. Ist sie die logische Weiterentwicklung Ihrer bisherigen Arbeit?

Vor diesem Buchprojekt habe ich so gut wie nie illustriert. Unter Zeitdruck habe ich dann versucht, Grafiken zu erstellen. Da ich wenig Zeit hatte, sollten die Grafiken so einfach wie möglich sein. Also habe ich mir bei jeder Grafik zunächst Gedanken darüber gemacht, wie ich die entsprechenden Inhalte so einfach wie möglich darstellen kann.

Da ich dabei auch an meine zeichnerischen Grenzen stiess, fragte ich mich immer wieder: Wie kann ich die Idee noch einfacher darstellen?

Diese einfache Sprache ist dann zu meinem grafischen Stil geworden.

In gleicher Manier schreibe und gestalte ich nun ein Motivations- und Inspirationsbuch übers Leben. In diesem Buch stelle ich komplexe seelische und auch spirituelle Erfahrungen mit einfachen Worten und Bildern dar.

In meinem Studium wollte ich lange Zeit immer mehr: Ich wollte noch mehr Wettbewerbe gewinnen, noch mehr Projekte umsetzen. Die Erkenntnis, dass ich mit weniger mehr erreichen kann, ist eine Weiterentwicklung meiner bisherigen Arbeit, aber vor allem eine Weiterentwicklung meiner Persönlichkeit.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Was ist das Fazit Ihrer Arbeit – wie geht Kommunikation in einem Umfeld von Menschen mit Demenz? 

Die Kommunikation mit Menschen mit Demenz ist vermutlich genauso schwer, wie die Kommunikation mit anderen Menschen. Sehr häufig begegnen wir anderen Menschen mit Unverständnis und stossen dabei selbst auf Unverständnis.

Der Unterschied ist nur, dass im Kontakt mit Menschen mit Demenz sofort klar wird, wenn die Kommunikation gescheitert ist.

Sie tragen keine gesellschaftlichen Masken. Sie schweigen nicht aus Höflichkeit oder nicken aus Verlegenheit.

Da man das Unverständnis von Menschen mit Demenz erkennen kann, haben wir die Möglichkeit, immer wieder neue Ansätze auszuprobieren, um einander begegnen zu können. Dieses individuelle Ausprobieren, um den Zugang zu einer Person mit Demenz zu finden, ist der Schlüssel für ein verständnisvolles Miteinander.

Schön ist es, wenn wir eines Tages die gleiche Ehrlichkeit, die uns Menschen mit Demenz entgegenbringen, auch im unseren Alltag wiederfinden können und wir als Gesellschaft einander neu begreifen lernen – ganz ohne Berührungsängste.

Quelle YouTube/medhochzwei

Frank Hildebrandt, «Demenz verstehen in Farbe», 104 Seiten, 2018 medhochzwei-Verlag.