«Das Design von Rollatoren schreit nach Gebrechlichkeit» - demenzjournal.com

Demenz gestalten

«Das Design von Rollatoren schreit nach Gebrechlichkeit»

Für Dr. Valerie Rehle endet eine demenzsensible Wohnraumgestaltung nicht an der Haustür. Bild Sebastian Klawiter

Eine Innenarchitektin über demenzsensible Wohnungen und Städte, die (fehlende) Ästhetik von Hilfsmitteln und ihre Erfahrungen mit ihren an Demenz erkrankten Grosseltern.

Dr. Valerie Rehle ist gerade umgezogen. Von Stuttgart nach München. Noch sind nicht alle Kisten ausgepackt, doch sie fühle sich schon wohl, sagt sie mir am Anfang des Gesprächs. In den nächsten Tagen werden sie, ihr Partner und die kleine Tochter die Umgebung erkunden.

Wohnraumgestaltung für Menschen mit Demenz ist Valerie Rehles Spezialgebiet. In ihrer Masterarbeit untersuchte die Innenarchitektin, wie man den Wohnraum demenzsensibel gestalten kann. In einem umfangreichen Forschungsprojekt widmete sie sich der Frage, wie alters- und demenzgerechte Städte aussehen müssen.

Valerie Rehle will das Thema Demenz in gestaltenden Disziplinen etablieren.

Denn noch werden Demenz und Alter dort stiefmütterlich behandelt. Ein Plädoyer für gesellschaftliches Umdenken und den Mut, auch mal etwas zu wagen.

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Wie Stadträume gestaltet sind, hat einen starken Einfluss auf die Orientierungsfähigkeit und soziale Teilhabe von Menschen mit Demenz. Ein Forschungsprojekt, das Betroffene als … weiterlesen

alzheimer.ch: Wie wohnen Sie gern, Frau Rehle?

Dr. Valerie Rehle: Ich habe gerne Aussicht, das Gefühl von Weite. Ausserdem liebe ich Holzböden und helle Räume. Mindestens genauso wichtig ist mir der Kontakt zum Wohnumfeld, ob das nun der Nachbar ist oder Leute im Quartier.

Wie kam es, dass Sie als Raumgestalterin das Thema Demenz für sich entdeckt haben?

Meine Grosseltern hatten beide Alzheimer. Wobei meine Grossmutter das nie annehmen wollte, sie hat sehr charmant den Schein gewahrt. Doch je vergesslicher sie wurde, desto schwieriger wurde es für sie, den Alltag ohne Hilfe zu bestreiten.

Meine Grosseltern wohnten in einem Haus am Tegernsee. Und als dann die Knieprobleme meines Grossvaters stärker wurden, hat mich meine Familie gefragt: «Du bist doch Innenarchitektin. Was können wir machen? Sollen wir umbauen?»

Darauf hatte ich keine Antwort. Nur «barrierefrei» war so ein Schlagwort – bei Gestaltenden negativ besetzt, weil es suggeriert, in der Kreativität eingeschränkt zu sein. Doch als ich während meines Studiums immer wieder für ein paar Tage bei meinen Grosseltern war, wurde mir klar:

Es geht nicht nur um Barrierefreiheit.

Sondern?

Demenz hat einen klaren Raumbezug. Bestimmte Dinge sind schon seit jeher an bestimmten Orten. Auch Routinen sind verortet und geben Halt, weil sie über Jahre hinweg eingeschliffen wurden.

Mittagsschlafritual des GrossvatersBild Valerie Rehle

Die Routine meiner Grosseltern war: Man steht auf, geht ins Wohnzimmer. Dort wird am Tisch gefrühstückt, mit Blick auf den See.

Dann wird abgespült, rumgekramt, im Lesesessel ein Nickerchen gemacht.

Jede Funktion hat eine räumliche Verortung im Alltagsgeschehen. Deshalb haben wir von grösseren Umbauten abgesehen.

Eine Überlegung war zum Beispiel, dass wir das Bad vom Keller ins EG verlegen. Doch dann hätten wir die Funktion eines anderen Raums einschränken müssen. Das Wohnumfeld war gut, weil es eben kaum verändert wurde.

Veränderungen können verunsichern oder sogar bedrohlich wirken.

Vor allem meine Grossmutter hat sich damit schwergetan. Als der Wasserkocher kaputt war, hat meine Mutter einen modernen gekauft. Mit dem konnte sie gar nichts anfangen.

Also habe ich im Internet einen besorgt, der fast genauso aussah wie der alte: gleiche Farbe, gleiches Material, der Knopf war an derselben Stelle. Und das hat funktioniert.

Aber sie hat mich auch überrascht: Über der Spüle haben wir ein Licht angebracht, das man mit einer Handbewegung anschalten konnte – und das hat sie noch gelernt! Über die Bewegung konnte sie eine neue Funktion in ihrem Wohnumfeld adaptieren.

Oder die neue Uhr mit Temperaturanzeige, die wir ihr geschenkt hatten. Die war cool und modern, das fand sie spannend. Die hat sie eine Zeit lang auch mit sich herumgetragen. Neues einführen geht also schon. Wichtig ist nur, dass die betreffende Person das selbst entdecken und annehmen kann.

Neues lernen – auch das ist möglich!Bild Valerie Rehle

Wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen, das Haus Ihrer Grosseltern ihren Bedürfnissen anzupassen?

Am Anfang hatte ich die Vorstellung, es gibt so etwas wie die eine demenzgerechte Wohnung. Doch es ist eine individuelle Geschichte: Jeder hat einen anderen Bezug zum Raum, andere Aspekte, die ihm wichtig sind.

Mein Grossvater war ein Bücherwurm. Er brauchte seinen Lesesessel. Der Rückzugsort meiner Grossmutter war die alte Bauernstube – der Raum, den wir für das Bad hätten einschränken müssen.

Und für beide war der See ganz zentral. Die Jahreszeiten, der Tagesablauf, die Enten und Schiffe – das war wie Fernsehen und hat ihnen Orientierung gegeben. Und es war auch ein Thema, bei dem man sich einig sein konnte, wo es kein Richtig oder Falsch gab.

«Mei, is das schön!» – Der See ist der zentrale Blickpunkt der Grosseltern.Bild Valerie Rehle

Ebenso gab es Objekte, die Bedeutung hatten und identitätsstiftend waren. Die Massnahmen, die wir ergriffen haben, orientierten sich immer an der Frage: Was ist meiner Oma und meinem Opa im Moment wichtig?

Fachleute aus gestalterischen Disziplinen müssen also eng mit Betroffenen und Angehörigen zusammenarbeiten, um überhaupt an diese Informationen zu kommen.

Gestaltende dürfen nicht ihre eigenen Anschauungen von «demenzfreundlich» durchdrücken.

Die Betroffenen selbst zeigen, wie ihr individueller Raum gestaltet sein muss.

Ich als Gestalterin muss mit ihnen und den Angehörigen auf Spurensuche gehen, Signale wahrnehmen und dann mit meinen Werkzeugen arbeiten: mit Licht, Materialien, bedeutungsvollen Objekten wie Möbeln oder Bildern.

Es wird keinen allgemeinen Ratgeber zu demenzfreundlicher Wohnraumgestaltung geben, der die räumlichen Bedürfnisse aller Demenzbetroffener abdeckt.

Was ist mit Gestaltungsprinzipien?

Die Wahrnehmung der Umwelt verändert sich bei Menschen mit Demenz. Hinzu kommen Veränderungen die körperliche Funktionalität betreffend. Das muss bei der Gestaltung der Umgebung berücksichtigt werden. Zum Beispiel darf es weder zu Reizüberflutung noch -armut kommen.Bild 4

Es sollte eine Umgebung geschaffen werden, welche die Sinne anspricht, aber nicht beeinträchtigt.

Es gibt aber auch Prinzipien, die unabhängig von Alter und Demenz gelten. Licht, Blickbezüge, Haptik. Das sind Merkmale, die uns allen guttun.

Raumgestaltung muss auf die veränderten Sinneswahrnehmungen von Menschen mit Demenz eingehen.Bild Valerie Rehle

Doch gerade Menschen mit Demenz brauchen eine sorgsame Raumgestaltung, weil sie womöglich nicht mehr so mobil sind. Räume sollten Ästhetik ausstrahlen, um die Sinne anzuregen.

Eine Studie aus Wien hat gezeigt, dass das Ästhetikempfinden bei Menschen mit Demenz besonders ausgeprägt ist. Auch als die Erkrankung schon fortgeschritten war, hat sich meine Grossmutter an schönen Dingen erfreut.

Hilfsmittel für ältere Menschen sind oft nicht besonders ästhetisch.

Das Problem ist das Defizitorientierte in Zusammenhang mit dem Alter. Man geht nicht davon aus, was noch funktioniert oder was man fördern kann.

Anders als bei Kindern, für die man Spielsachen entwickelt, die ihre Geschicklichkeit schulen. Sachen, die toll aussehen und wo man Lust kriegt, sich damit zu beschäftigen.

Das Design von Rollatoren und Pflegebetten hingegen schreit nach Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Warum gibt es dort kein schönes Design? Toilettensitze … Also meine Tochter hat einen coolen Sitz: Der ist grün.

Als würde älteren Menschen die Lust am Schönen abgesprochen.

Das hat mit unserem Blick auf das Alter zu tun. Wir sehen das als etwas Negatives. Gut, es ist das Ende des Lebens. Aber für mich ist das kein Grund, dass es dann auch mies aussehen muss.

Ich wünsche mir, dass Gestalter sagen: Super spannendes Thema!

Wie kann ein Rollator gestaltet sein, damit man gern damit unterwegs ist? Doch noch hat das Alter gestalterisch und gesellschaftlich keine solche Wichtigkeit. Es gibt kaum Jobs und Büros, die sich dieser Frage widmen. Zu Unrecht.

Bei der Wohnraumgestaltung für Menschen mit Demenz geht es darum, zu unterstützen und Potenziale abzurufen. Ist es richtig, einmal alles genau zu analysieren und dann anzupassen?

Demenz ist ein Prozess. Nicht nur in Bezug auf den Krankheitsverlauf, sondern auch auf den Raum. Funktionen und Anordnungen in einem Raum sind zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig und dann gar nicht mehr.

Eine neue Passion: Kühe streicheln.Bild Valerie Rehle

Ein Beispiel ausserhalb des Wohnbereichs: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Oma früher Kühe gestreichelt hätte. Als sie vergesslicher wurde, tat sie das dann mit grosser Begeisterung. Kühe stellen keine Fragen, korrigieren nicht.

Bei der Wohnraumgestaltung ist es also wichtig, fortwährend auf die aktuellen Bedürfnisse zu achten. Die ändern sich: Je weiter die Krankheit fortschritt, desto kleiner wurde der Bewegungsradius meiner Oma. Früher wollte sie immer raus. Irgendwann war das Bett ihr Dreh- und Angelpunkt.

Ist es denn mit dem Umbau der Wohnung getan?

Zum Wohnen gehört auch die Umgebung, der städtische Raum. In der Stadtplanung fehlt oft die menschliche Perspektive.

Areale werden aus der Vogelperspektive entworfen. Man merkt, dass da nie jemand durch die Strassen gegangen ist. Doch der menschliche Massstab ist wichtig, um Bezüge in der Stadt herzustellen.

Städte alters- und demenzsensibel zu gestalten bringt ausserdem Vorteile für alle mit sich: Jeder braucht Rückzugsräume, sichere Wege und Strassenüberquerungen, keine Reizüberflutung, Ankerpunkte wie Statuen und markante Gebäude. Das ist identitätsstiftend und sagt mir, wo ich bin und wo ich hinwill.

Wir müssen wegkommen von der modernen Monotonie der Städte.

Sie kommen in Ihrem Forschungsprojekt «Vergessen in der Stadt» zum Schluss, dass demenzsensible Stadtplanung nicht nur mit baulichen Hindernissen zu tun hat, sondern auch mit sozialen.Bild 6

Orte des Austauschs und der Durchmischung sind ganz wichtig. Spielplätze, wo sich ältere Menschen dazusetzen können. Alt, jung, arm, reich, aus verschiedenen Kulturkreisen – man muss sich begegnen können. An Orten, die nicht kommerzialisiert sind.

Ein Teilnehmer unserer Studie konnte aufgrund seines geringen Einkommens nicht so am Stadtleben teilnehmen, wie er es gern getan hätte. Er konnte es sich nicht leisten, jeden Tag in einem Restaurant einen Kaffee zu trinken. Deshalb hat er sich isoliert, obwohl er eigentlich ein sehr kommunikativer Mensch ist.

Was braucht es noch?

Dass wir interdisziplinär Räume denken – nicht nur aus baulicher, sondern auch sozialer Sicht.

Dass wir auf Augenhöhe mit denjenigen zusammenarbeiten, um die es geht. Denn die wissen ja am besten, was nötig ist.

Und es braucht Bereitschaft: Man muss es machen, mal etwas ausprobieren und nicht nur drüber reden.

Hier geht es zu Valerie Rehles Website.