«Ich bin ein engagierter Architekt geworden» - demenzjournal.com

Interview

«Ich bin ein engagierter Architekt geworden»

Das Kompetenzzentrum für Menschen mit Demenz in Nürnberg (D). Bild Ronald Grunert-Held

Eckhard Feddersen baut Häuser für Menschen mit Demenz. alzheimer.ch unterhielt sich mit ihm über Uterusgefühle, menschliche Bedürfnisse und altersfreundliche Lebensräume.

alzheimer.ch: Herr Feddersen, vor 13 Jahren bauten Sie erstmals ein Haus für Menschen mit Demenz. Wie haben Sie sich auf diese Arbeit vorbereitet, und wo haben Sie das nötige Wissen beschafft? 

Eckhard Feddersen: 1973 baute ich erstmals für Menschen mit geistigen Behinderungen. Also waren schon viele Jahre Erfahrung da. Dann habe ich mich dafür interessiert, wie das wohl ist, wenn man alt wird. Das war wie eine Art fließender Übergang, kann man sagen.  

In Ihrem Buch «raumverloren» besinnen Sie sich auf die Holzhütte, die Sie als Kind hatten. Inwiefern beeinflusst diese Hütte Ihre Arbeit als Architekt für Menschen mit Demenz?  

Eckhard Feddersen.

Ich hatte seither immer eine Beziehung zu Holz. Ich würde heute am liebsten in jede Wohngruppe für Menschen mit Demenz Holzböden einbauen. Aber leider kann ich das nicht, weil das Geld fehlt. Holz ist ein warmes Material. Ich habe es immer gerne angefasst und gerochen. Bevor ich Architektur studierte, arbeitete ich als Jugendlicher ein halbes Jahr lang in einer Zimmerei. Ich mochte diese Arbeit sehr.

Eine Holzhütte ist klein, man fühlt sich darin geborgen. Inwiefern hat dies Ihre Arbeit beeinflusst?

Ich bin 68 und lebe in einer weiss gestrichenen Wohnung in einem Altbau. Für mich selbst habe ich einen Rückzugsraum, der in einem Sepia-Holzton gestrichen ist. Immer wenn ich arbeite, nachdenke oder lese, ziehe ich mich in diesen Raum zurück. Es ist beinahe, als würde ich simulieren, was ich als kleines Kind kannte.  

Der erste Raum im Leben eines Menschen ist der Uterus. Hat diese Anziehungskraft von kleinen Hütten, die Kinder ja auch unter dem Tisch oder im Schrank einrichten, mit der Sehnsucht nach dem Uterus zu tun?  

Eckhard Feddersen

Eckhard Feddersen (70) baut Häuser und Lebensraum für Menschen mit Demenz. 1973 gründete er in Berlin mit Wolfgang von Herder ein Architekturbüro (seit 2002 Feddersen Architekten.2003 initiierte er den Kompetenzkreis Gesundheit, Behinderung, Pflege in Berlin. 2014 übergab er sein Büro an Stefan Drees und Jörg Fischer, seither ist er als Berater tätig. Publikationen: Entwurfsatlas Wohnen im Alter (2009 als Mitherausgeber); raumverloren (2014, Herausgeber).

Es geht um Wärme, Geborgenheit und auch Endlichkeit. Eine Wohngemeinschaft für eine Gruppe von Menschen mit Demenz baute ich einmal als Uterusgruppe. Die Räume waren teilweise dunkelrot, teilweise hell gemalt, weil ich unsicher war.

Der Erfolg hat mir Recht gegeben: Für einige Menschen sind die dunkeln Räume gut, und für andere Menschen sind die weiten, hellen und unbegrenzten Flächen das richtige. Und ich glaube sogar, dass die Vorlieben im Leben manchmal wechseln. Im Grunde genommen braucht man beides.  

Der französische Philosoph Paul Virilio schrieb, die Faszination für sportliche Autos habe mit dem Uterusgefühl zu tun, das sich im engen Cockpit einstelle. Vor allem Männer würden es suchen…

Ich fahre einen kleinen Sportwagen, meine Frau nimmt lieber das grosse Auto. Und ich fühle mich am wohlsten in diesem kleinen Gehäuse, das schnell aufheizt. Im Sommer kann ich das Verdeck wegmachen. Und dann ist es das gegenteilige Gefühl. Beides zusammen liebe ich an dem Auto, diese direkte Empfindung gegensätzlicher Einflüsse  

Dies bedeutet, dass Architekten variabler bauen sollten, dass es nicht nur die zeitgeistigen kargen und weiten Räume braucht.  

Ja. Wir müssen den Bewohnern beide Gefühle ermöglichen. Das weite Gefühl eines Saales, einer Gemeinschaft, einer Großzügigkeit genau so wie das Gefühl der Enge, der Geborgenheit, der Wärme. Unser Buch verfolgt genau diesen Ansatz.

Wir müssen zurück zu einer Architektur, die den inneren Gefühlen der Menschen entspricht und nicht nur einer These folgt.

Der Mensch will gross sein, er will Macht haben, aber er will genauso klein sein, geborgen sein und angenommen werden. Im Buch geht es deshalb nicht nur um Demenz, sondern um den Menschen.  

In der Natur gibt es keine rechten Winkel. Müsste man dem auch in der Architektur mehr Beachtung schenken?  

Nein, weil ich glaube, dass der Mensch sich auch aus der Natur ausgrenzen will. Er will auch da beides haben. Er will das wilde Tier in sich haben, aber will auch genauso den geordneten Raum, die Übersicht und sozusagen die innere Rechtwinkligkeit abbilden. Ob ich geistig behindert bin oder nicht, ob ich dement bin oder nicht: Man darf den Menschen nicht in einen Kasten tun und sagen: «Fühl dich mal wohl!»

Man muss es dem Menschen selber überlassen, wo er sich wohlfühlt, ich kann das auch nicht voraussagen. Ich will mal ein Eis essen und mal eine Bratwurst. Und diese Alternativen im Leben zu haben, das ist für mich das eigentliche Glück, das ich durch die Architektur schaffen kann.  

Im Buch zitieren sie Otto Friedrich Bolnow, der sagt, das Bett sei das Zentrum des Wohnens und damit auch das Zentrum der Heimat. Wenn man in Altersheime geht, hat man oft das Gefühl, dass den Gemeinschaftsräumen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die meisten Schlafzimmer sind schlichte weisse Räume, in denen es ein Bett gibt, ein paar Möbel und Erinnerungsstücke von zu Hause. Braucht das Schlafzimmer mehr Aufmerksamkeit?  

Ich lege viel Wert darauf, dass wir über die Betten diskutieren. Wir sollten nicht nur daran denken, dass sie rauf und runter fahren. Betten, die einen Raum begrenzen, wie die Betten im Mittelalter mit ihren Vorhängen, sind ein Raum des Rückzugs. Bei den Schlafzimmern bräuchten wir mehr Alternativen. Wir können uns ja vorstellen:

Was würden wir wollen, wenn wir krank sind? Dann könnte ich mir gut vorstellen, dass ich ab und zu einen Vorhang um mein Bett herumziehen möchte, der bis zur Decke geht.

Sie bringen mich gleich auf eine Idee: Ich stelle ein Bett in die Ecke des Raumes und ziehe einen Vorhang rundherum. Und warum nicht zwei Vorhänge: Einen der im Grunde genommen nicht verhindert, dass ich rausgucken kann, sondern dass ich gesehen werde. Und einen zweiten Vorhang der zu ist, dass ich mich verstecken kann.  

Es braucht also keine spezielle Demenz-Architektur, sondern Architektur für Menschen.  

Genau. Wir müssen nur wieder aus den Gefühlen des Menschen die Atmosphären herausfiltern, die wir ihnen dann präsentieren. Ich kann ja nicht beliebig viele Räume für alle möglichen Gefühle schaffen, weil ich eine Auswahl treffen muss.  

Sind Sie ein besserer Architekt geworden, seit Sie für Menschen mit Demenz bauen?  

Ich bin ein engagierterer Architekt geworden. Ich habe ein stärkeres Gefühl für Architektur entwickelt. Ich leide mehr unter schlechten Räumen und freue mich mehr über gelungene. Ich glaube, dass die Demenz auf die Anthropologie des Menschen zurückführt. Ich habe einfach viel mehr über die Natur des Menschen nachgedacht und nicht nur über das Intellektuelle.

Ich habe mich der Sinnlichkeit gestellt, und das finde ich auch das Interessante an dem Buch. Die meisten Architekten wollen Skulpturen schaffen, die von aussen bewundert werden. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich möchte Innenräume schaffen, die den meisten von uns gut tun.  

Die letzten zwei Jahrzehnte der Architektur waren eher geprägt von Sachlichkeit. Es entstanden viele «Kisten» mit grossen Fenstern und schlichten Innenräumen. Geht die zeitgenössische Architektur an den Bedürfnissen der Menschen vorbei?

Was ich in der Schweiz sehe, hat viel Qualität. Ganz besonders die Materialität der Innenräume hat eine sehr hohe haptische und visuelle Wertigkeit. Das weiche Innere kontrastiert mit hartem Äusseren, das auch Schutz und Abwehr bedeutet – wie bei einer Burg.

Die Schweizer Gesellschaft ist sensibler, wohlhabender und besser gebildet als in Deutschland. Ich habe viel von den Schweizern gelernt.

Vielleicht hat die Bauernkultur der Schweiz einen positiven Einfluss auf die Innenräume? 

Die Bauernkultur ist auch noch immer wunderbar spürbar, gerade bei den Holzeinbauten. Ich finde, auch die Lichttechnik ist in der Schweiz sehr ausgeprägt. Wir wollen ja nicht zurück in eine verkitschende historische Architektur. Ich glaube, dass wir in unserer Zeit uns auch mit einer gewissen Reduktion des Raumes beschäftigen müssen, weil wir sonst überreizt werden. Wir brauchen bei der Umwelt, der wir ausgesetzt sind, eine Ruhe in den Räumen. Auch im Rückzug brauchen wir einen gewissen Purismus.

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Volkwin Marg sagt in dem Buch, dass die Architekten selbst lieber in «heimeligen» alten Gebäuden leben als in der Architektur, die sie andern verordnen. Sieht das bei Ihnen auch so aus?  

Ja, ich lebe in einem alten Haus. Ich denke darüber nach, auf dem Grundstück noch etwas zu bauen. Auf das Alter hin sollte man ja verkleinern. Es könnte eine kleine Kiste mit weissem Aussenmauerwerk sein. Nach der einen Seite hätte es grosse Fenster, auf den anderen Seiten kleine bucklige. Ich glaube, dass meine Frau und ich uns auch auf weniger als 100 Quadratmetern nicht auf die Füsse treten würden. Haben Sie da selbst auch darüber nachgedacht?  

Mein Wunschhaus wäre ein nicht zu grosser Pavillon aus Holz. Innen könnte er ähnlich aussehen wie jener Raum von Alvar Aalto, den Sie in Ihrem Buch zeigen. In Ihrem Buch fordert Alex Kruser eine altersfreundlichere Kultur. Was verstehen Sie darunter?  

Diese Frage beantworte ich am besten über verschiedene Gesellschaften, die ich gesehen habe. Ich finde, Schweden ist dort weiter als Deutschland und die Schweiz. Bei den Schweden ist mir aufgefallen, dass die beispielsweise Neubauviertel entwickeln, bei denen die Strassenbahn in der Mitte des Viertels unter einem riesigen Dach endet. Ich fragte mich, warum dies in Deutschland nicht begriffen wird. Bei uns gibt es irgendwelche kleinen Haltestellchen, die durch Werbung finanziert werden.

Das Nachdenken darüber, was der Mensch im Alter braucht, ist bei uns bei weitem nicht so ausgeprägt. Das sieht man zum Beispiel an der mangelhaften Beleuchtung von Strassen. Eine andere Geschichte ist:

Für alte Menschen sollten wir alle 50 Meter einen Platz haben zum Verweilen – und wenn es ein kleiner Betonklotz mit einem Brett oben drauf ist. Es sind ganz viele Kleinigkeiten im öffentlichen Raum. 

Vor allem für Menschen mit Hirnleistungsdefiziten gleicht der Alltag einem Spiessrutenlauf. Man braucht Passwörter, Kleingeld und das Wissen, wie man all die Apparate bedient. Und wir werden ständig mit Botschaften bombardiert…  

Furchtbar! Und zum Schluss wird einem gesagt, man solle alles zu Hause vom Computer aus bestellen. Sie stellen einem dann einen kleinen Laptop hin, den man mit normalen Fingergrössen nicht bedienen kann. Ich habe eine These, die lautet ganz simpel: Du kannst immer vom Besseren lernen. Also gucke ich da hin, wo Leute sind, die sich ein gutes Leben leisten können. Dazu zählt auch die Schweiz. Daraus leite ich dann ab, was ich mir für Menschen in Deutschland im Alter vorstelle.

Meine Forderungen gehen weniger in die Technik, sondern in die Vereinfachung des Lebens. Ich glaube zum Beispiel, dass es ein Nachteil ist, wenn man die Vorhänge nur mit einem Knopfdruck öffnen und schliessen kann.  

Die Qualitätskriterien der Architektur heissen Venustas (Schönheit), Firmitas (Stabilität) und Utilitas (Nützlichkeit). Welche hat für Sie beim Bauen für Menschen mit Demenz Priorität?  

Gute Architektur ist eine Mischung aus allem. Wenn ich nur eins betone, verliert ein Gebäude die Balance.

Danke für das Gespräch.


«raumverloren – Architektur und Demenz», Eckhard Feddersen und Inga Lüdtke (Herausgeber), Birkhäuser Basel, 2014. www.feddersen-architekten.de