«Das Fenster zur Welt muss offen sein» - demenzjournal.com

Raumgestaltung

«Das Fenster zur Welt muss offen sein»

Es gibt viel bessere Möglichkeiten als irgendwelche Attrappen, damit sich die Bewohnenden auch im Aussenbereich wohl fühlen, etwa eine hübsche Pergola, Hollywoodschaukeln, ein Pavillon. Bild PD

Birgit Dietz berät als Architektin Einrichtungen für Menschen mit Demenz und Krankenhäuser. Sie weiss, wo die Stolperfallen sind und wie sich die Bewohner am besten heimisch fühlen.

alzheimer.ch: Frau Dietz, Michael Schmieder, ehemaliger Leiter des Heimes Sonnweid, hat einmal gesagt: «Architekten sollten eine Woche in einer Institution mit demenzkranken Menschen leben, bevor sie mit dem Planen beginnen.» Was halten Sie davon?

Birgit Dietz: Gute Idee … Man kann aber auch jeweils einen Tag in unterschiedlichen Heimen mitlaufen.  Wenn man Angehörige hat, die betroffen sind, kann man sich von deren Erfahrungen leiten lassen.

Birgit Diez

Dr. Birgit Dietz ist Architektin und zertifizierte Gerontologin. An der TU München lehrt sie im Bereich «Krankenhausbau und Bauten des Gesundheitswesens». 2012 baute sie das Bayerische Institut für alters- und demenzsensible Architektur auf, dessen Leiterin sie ist. Birgit Dietz lebt mit ihrer Familie in Bamberg.

Ich habe ein enges Verhältnis zu meiner Schwiegermutter im Verlauf ihrer Demenzerkrankung entwickelt. Einmal war sie bei uns zu Besuch und plötzlich sehr irritiert: Der Klavierhocker warf einen dunklen Schatten, sie konnte das nicht einordnen und meinte, da fehle ein grosses Puzzleteil auf dem Boden.

Als ich die Beleuchtung am Klavier ausgeschaltet hatte, verschwand der Schatten, und sie war zufrieden. Schatteneffekte sind für Menschen mit Demenz immer schwierig zu interpretieren und potenzielle Stolperfallen.

In vielen Einrichtungen gibt es solche Stolperfallen. Zum Beispiel können weisse Streifen auf dem Boden für Sehbehinderte Orientierung bieten, Menschen mit Demenz könnten sie aber missdeuten.

Ganz genau! Auch Schachbrettmuster auf dem Boden sind eine Gefährdung. Es kommt durchaus vor, dass die Bewohnenden nur auf den weissen Quadraten gehen, weil sie denken, die schwarzen lägen tiefer.

Bei Menschen mit Demenz zerfällt die Welt in Teile, deshalb sind solche Schachbrettmuster sehr ungünstig, wie überhaupt Hell-Dunkel-Kontraste auf Böden. Auch Schwellen sind gefährlich, schon zwei Zentimeter Höhenunterschied können eine Stolperfalle sein.

Menschen mit Demenz bewegen sich häufig viel, sie versuchen, das Gelände des Heimes zu verlassen. Wie soll die Architektur darauf reagieren?

Das Wichtigste bleibt, sich an einem Ort gut aufgehoben und sicher zu fühlen, zum Beispiel in einer übersichtlichen Sitznische mit Blickkontakt zu anderen.

Wo man sich gut fühlt, ist ein Ankerpunkt, ein Ort, an dem man bleiben mag.

Man sollte die Ausgänge nicht zu offensichtlich machen, damit sie keine Handlungsaufforderung sind. Wenn ich eine Tür klar definiert zeige, schürt das die Neugier, und die Menschen gehen schneller nach draussen.

Nur bei den Türen, die tatsächlich gefunden werden sollen, ist es gut, sie kontrastreich zu markieren, indem man zum Beispiel die Türgriffe farblich abhebt. Im Garten kann ich einen Ausgang durch eine Hecke ein bisschen verstecken, andere Bereiche dafür attraktiver gestalten.

Dr. Birgit Dietz ist Architektin und zertifizierte Gerontologin. An der TU München lehrt sie im Bereich «Krankenhausbau und Bauten des Gesundheitswesens». 2012 baute sie das Bayerische Institut für alters- und demenzsensible Architektur auf, dessen Leiterin sie ist. Birgit Dietz lebt mit ihrer Familie in Bamberg.Bild Holger Gottschall

Wie können Menschen mit Demenz eine Art persönliche Karte im Kopf entwickeln, um das eigene Zimmer, Gruppenräume usw. sicher wiederzufinden?

Der Grundriss des Hauses soll übersichtlich und gut nachvollziehbar sein, Blickbezüge sind hilfreich.

Sinnvoll sind Elemente, die leicht wiedererkennbar sind, wir nennen sie Leuchttürme. Das können Bilder an den Wänden oder an den Zimmertüren der Bewohner sein, um den privaten Wohnbereich zu markieren.

Gerade Bekanntes mit regionalem Bezug oder Naturmotive werden gut angenommen. In einem Krankenhaus bei München wurden an den Türen vertraute Motive wie Brezen und Bierkrüge oder auch Bilder von Bergen und Seen verwendet. 

Was kann man tun, damit sich die Bewohner in ihren Zimmern heimisch fühlen?

Neben Basics wie guter Beleuchtung und Belichtung sollen die Lebenswelten, aus denen jemand kommt, berücksichtigt werden. Ein Kreuz an der Wand, das Spitzendeckchen auf dem Tisch oder das barocke Schränkchen kann für jemand wichtig sein, der vorher in einer solchen Umgebung gelebt hat.

Wichtig finde ich, dass sich das Bett verrücken lässt, es auch an die Wand gestellt werden kann, eben so, wie es jemand gewohnt ist. Wenn ein Bett in der Mitte steht, sieht das schnell nach Krankenzimmer aus.

Welche Rolle spielt die Materialwahl? Strahlt Holz auch für Menschen mit Demenz Wärme aus?

Unbedingt, es fühlt sich ja auch wärmer an. Handläufe aus Holz sind zu empfehlen, weil Menschen mit Demenz sehr gern mit ihren Händen darüberstreichen, sie beim Gehen als Orientierung nutzen.

Als Holzart ist Zedernholz sehr schön, es verströmt etwas Heimeliges, hat einen tollen Duft und spricht damit gleich mehrere Sinne an.

Wann ist Helligkeit, wann die Dunkelheit vorzuziehen? Welche Farben sind die Favoriten?

Grundsätzlich ziehen helle Bereiche die Bewohnenden an. Wenn es in einem Haus Sackgassen gibt, in denen man nicht weiterkommt, sollte man diese eher unattraktiv gestalten, also wenig ausleuchten, um Neugierige gar nicht erst hinzulocken.

Licht wirkt sich auch auf den Biorhythmus aus. Wenn viel helles, kaltweisses Licht in einem Raum ist, wird die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin unterdrückt. Entsprechend empfehlen wir, Tagesräume am Abend eher mit warmweissem Licht zu beleuchten.

Bei den Farben gilt: Helle Pastelltöne sind schwer zu unterscheiden. Ähnlich ist es mit kälteren Tönen, blau zum Beispiel wird in der Wahrnehmung schnell zu grau.

Alles, was im Bereich der Rottöne liegt, also gelb, orange und rot, wird länger erkannt. Rot springt uns an, kommt uns näher vor.

Deshalb sind die Knöpfe, mit denen Patienten die Pflegekräfte rufen, immer rot.

Die Farbe weiss ist nicht mehr angesagt?

Ein Setting von weiss in weiss erinnert an ein Krankenhaus, wirkt steril und wenig wohnlich. Auch für die Angehörigen ist das nicht unbedingt angenehm. Und einen weissen Lichtschalter auf weisser Wand erkennt man kaum.

Beziehungsgestaltung ist bei der Betreuung von Menschen mit Demenz sehr wichtig – die allermeisten sind nicht gern allein. Welche Rolle spielt das bei Ihren Planungen?

Wichtig ist, dass die Menschen nicht das Gefühl haben, ganz allein zu sein. Die Aufenthaltsbereiche sollen schnell gefunden werden. Es empfehlen sich kleine Tische und Nischen, das erleichtert das Gespräch. Man kann sich hier auch mal zurückziehen und einfach die anderen Menschen beobachten.

Es empfehlen sich kleine Tische und Nischen, das erleichtert das Gespräch.Bild PD

Eine wichtige Rolle spielt der Ausblick. Die wenigsten Bewohner wollen einfach nur ins Grüne schauen, da ist zu wenig los. Besser ist ein Schulhof oder eine Strassenkreuzung, da ist mehr Leben.

Fenster sollen etwas grösser und die Brüstung niedrig sein, derart, dass auch vom Rollstuhl oder vom Bett aus etwas gesehen werden kann. Das Fenster zur Welt muss offen sein.

Kann die Architektur so etwas wie kindliche Geborgenheit vermitteln?

Sicherlich, zum Beispiel durch Sprünge in der Deckenhöhe. Wenn die Decken in Sitznischen niedriger sind, fühlen sich die Bewohner eher geschützt, ein bisschen wie in einer Höhle. Geeignet sind auch Raumteiler, die machen einen Wohnbereich gemütlicher.

Wir wollen Möglichkeitsräume schaffen, in denen wir Stimmungen erzeugen. Ausfüllen müssen sie aber immer die Menschen.

Gibt es eine architektonische Todsünde, etwas, das nicht passieren darf bei der Planung von Häusern für Menschen mit Demenz?

Ein häufiger Problemfall ist die Akustik. Es gibt Speise- und Aufenthaltsräume, die extrem hallig sind und es den Bewohnenden schwer machen, einem Gespräch zu folgen. Dann ziehen sie sich zurück.

In einer Tageseinrichtung in München konnten wir jetzt Räume für Menschen mit Demenz mit einer simplen Massnahme umbauen: Wir haben schalldämmende Platten unter die Decke gezogen – das hat die Akustik enorm verbessert und auch für die Mitarbeiter den Stress rausgenommen.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Was halten Sie von Haltestellen-Attrappen – Sünde oder schöne Illusion?

Ich mag solche Theaterwelten überhaupt nicht, weil sie die Würde der Bewohner verletzen. In einer Einrichtung in München stand eine Zeitlang eine echte Münchner Bushaltestelle. Einige Menschen, die in einem frühen Stadium der Demenz waren, haben gesagt: So bescheuert bin ich noch nicht, wollt ihr uns verarschen? Die Haltestelle ist dann abgebaut worden.

Es gibt viel bessere Möglichkeiten, damit sich die Bewohner auch im Aussenbereich wohl fühlen, etwa eine hübsche Pergola, Hollywoodschaukeln, ein Pavillon.

Kennen Sie ein konkretes Architektur-Projekt, das auch anderen Einrichtungen neue Impulse geben kann?

In München bin ich am Modellprojekt eines Pflegeheimes beteiligt, wo wir multikulturelle Angebote machen. Wir wollen den Aufenthaltsbereich so umbauen, dass er wie ein Café wirkt.

In Kulturnischen gibt es Kochbücher und Musik aus verschiedenen Ländern, an bestimmten Tagen wird griechisch oder italienisch gekocht – für eine multikulturelle Tafel. Auch Leute von draussen sollen hereinkommen und schauen.

Wir wollen mehr Leben in die Häuser holen.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Wie weit hat die Demenz Ihrer Schwiegermutter Ihr Verhältnis zu der Krankheit beeinflusst? 

Demenz ist in unserem Familienleben ein Stück Normalität, ich habe im Moment ein eher entspanntes Verhältnis dazu. Ich habe vier Kinder, eine meiner Töchter ist Ergotherapeutin. Sie hat einen Igel für mich ausgesägt und bemalt. Sie meinte, ich solle das Bild an meine Bürotür hängen.

Wenn ich eines Tages ins Altersheim umziehen muss, bekomme ich den Igel an meine Zimmertür gehängt, damit ich immer weiss, wo ich rein muss – ich hoffe, das klappt! (sie lacht)


Birgit Dietz, «Demenzsensible Architektur. Planen und Gestalten für alle Sinne». 247 Seiten, 49 Euro, Fraunhofer IRB Verlag