Die Kraft zum Weitermachen bleibt - demenzjournal.com

Theater

Die Kraft zum Weitermachen bleibt

Privat sind sie langjährige Weggefährten, auf der Bühne Bewohner:innen der Seniorenresidenz «s'Cabaret». Bild Martin Mühlegg

In «Addio Amor» erdulden sieben alte Schauspieler:innen die Pandemie in einer Seniorenresidenz. Aus anfänglicher Resignation und Wut entwickelt sich die Heiterkeit derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Das Stück wurde im Dezember 2021 in Zürich uraufgeführt.

«Sie sollten mal ein bisschen Pause machen mit ihren Würfeln», sagt die Pflegerin. «Es ist eine Entzündung der Schulter, vermute ich.»

«Die Würfel sind ja die Pause», sagt der Bewohner.

«Dieses Würfelgebastel gibt Ihnen eine Pause? Von was denn eigentlich?»

«Eine Pause vom Nichts.»

«So können Sie es doch nicht sagen. Sie haben es doch schön hier mit Ihren Kollegen!»

Die Bewohner:innen der Pension «s’Cabaret» hätten wirklich keinen Grund zur Klage: Sie werden umsorgt von einer jungen Pflegerin. Sie müssen weder Hunger leiden noch frieren. Sie leben zusammen mit Kolleginnen und Freunden, die sie seit Jahrzehnten von ihrer Arbeit auf den deutschsprachigen Theaterbühnen kennen.

Das Rampenlicht und der Applaus scheinen aber den Schauspieler:innen manchmal zu fehlen. Das merkt man zum Beispiel, wenn sie sich den angeblich so grandios und erfolgreich gespielten Mephisto missgönnen. Oder wenn die Affektiertheit einer demenzkranken Bewohnerin in einen Nervenzusammenbruch mündet.

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Sorgen und Konflikte löst auch die Pandemie aus. Sie hat aus dieser Schicksalsgemeinschaft Gefangene gemacht. «Der Tod steht nicht vor der Tür, aber er ist dabei, sich einen Parkplatz zu suchen», sagt ein Bewohner.

Wir befinden uns im Kulturmarkt von Zürich-Wiedikon. Die Theaterprobe ist unterbrochen, weil Regisseur Klaus Hemmerle ein paar Instruktionen geben will: «Urs, wenn sie sagt ‘Wir sind seit 60 Jahren befreundet’, hast du so einen Kommentar, so ein Stöhnen. Es ist schön, wenn da von dir so ein richtig gequältes Geräusch kommt.»

Regisseur Klaus Hemmerle mit der Pflegerin Lina (Lisa Bärenbold).Bild Martin Mühlegg

Dann wendet sich Hemmerle dem bleichen Siggi zu, der hinter seinem kleinen Schraubstock sitzt und die Bestandteile eines neuen Würfels zurecht rückt. «Zeig beim Telefon etwas mehr Aufmerksamkeit! Es wäre schön, wenn man merkt, dass du zuhörst.»

Scharfkantige Figuren

Wir wähnen uns in einer ganz gewöhnlichen Theaterprobe, wenn Hemmerle mit starker Stimme seine Anweisungen gibt. Dass das Stück «Addio Amor» in mehrerlei Hinsicht besonders ist, zeigt sich an den scharfkantigen und kräftigen Figuren, die wir in abgeschwächter Form in jedem Altersheim finden.

Da ist der besserwisserische Zyniker, der zu allem etwas zu sagen oder zu meckern hat.

Die beiden Frauen sind da, die in verschwörerischer Zweisamkeit auf dem Sofa sitzen und sich dann und wann anzicken. Es gibt den besonnenen Philosophen, der aus dem Fester schaut und sorgfältig dosiert weise Sprüche von sich gibt. Dazu kommt der rastlose Bastler, der selbst in der Nacht so getrieben ist, dass er Wände anstreicht und mit einem imaginären Gegenüber spricht.

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Dass die Figuren so prägnant sind, liegt vor allem daran, dass sie viel Autobiografisches mitbringen. Am Anfang von Addio Amor standen nämlich lange Gespräche über Herkunft, Freuden und Leiden, Brüche, Beziehungen und Reisen der beteiligten Schauspieler.

Sechs von ihnen sind über 70 Jahre alt, die meisten standen gemeinsam auf der Bühne oder kannten sich zumindest. Zwischen ihnen gab es Freundschaften, Affären, Beziehungen und Verletzungen. Ein Fixpunkt im Leben mehrerer Schauspieler war eine griechische Insel, wo sie sich seit den späten 1960er-Jahren immer wieder trafen.

«Angelika Thoma und ich fingen im Januar an, mit den Schauspielern zu reden», sagt der Produzent und Dramaturg Adrian Marthaler. «Es ging um Lebenserzählungen und Erinnerungen. So entwickelten wir die Figuren und Charaktere im Hinblick auf den vorgegeben dramaturgischen Plot

Faszinierend am Stück ist auch: Die Figuren bieten viel Raum für Projektionen. «Auch junge Mitarbeitende und Besucher sind sehr berührt», sagt Angelika Thoma, die als «Leiterin der jungen Sicht» mitwirkt. «Die haben ja selber Eltern und Grosseltern, und es geht ihnen total nahe, was auf der Bühne passiert. Sobald man betroffen ist, gibt es eine Projektionsfläche.»

Regisseur Hemmerle hat nun mit allen Schauspielern gesprochen und will weiter proben: «Wir machen den nochmals mit Anschluss in die Fünf hinein. Licht aus!» Der Mann am Fenster – er ist der 84-jährige Klaus Henner Russius – sagt: «Es gab einen verkannten Dichter, den Paul Haller, den hat man gar nicht geachtet, der hat im Dunkeln gelebt, nicht im Lichte.»

Alle, singend, nach Bertold Brecht:

«Denn die einen sind im Dunkeln

Und die anderen sind im Licht.

Und man siehet die im Lichte

Die im Dunkeln sieht man nicht.»

Philosoph mit Strohhut und Adiletten: Klaus Henner Russius als Bewohner Balthasar.Bild Martin Mühlegg