«Wir sind dialogische Wesen» - demenzjournal.com

Buchtipp: «Untertags»

«Wir sind dialogische Wesen»

Autor Urs Faes nimmt die Stoffrecherche stets sehr ernst. So auch für den Roman «Untertags». Hier begleitete er über längere Zeit zwei demenzbetroffene Ehepaare. Bild Jürgen Bauer

Herta und Jakov haben spät zu einem gemeinsamen Glück gefunden. Doch dann erkrankt Jakov an Demenz, Verdrängtes wird gegenwärtig. Mit «Untertags» ist Urs Faes ein leichtfüssiger Roman zu einem schweren Thema gelungen. Wir haben den Autor zu uns ins Studio eingeladen.

Sie teilt die Asche. Eine Hälfte schickt sie zu seiner Familie nach Wyoming, die andere behält sie. Schliesslich war Jakov auch Teil ihres Lebens, mit ihr hier in Zürich zuhause. Doch auch das kann den «Schmerz der leeren Räume» kaum lindern, der Herta nach Jakovs Tod gefangen hält.

Ausgehend von diesem «letzten Stelldichein» erzählt Autor Urs Faes eine berührende Liebesgeschichte, die am Flughafen Frankfurt ihren Anfang nimmt. Herta, die sich mit ihrem Singledasein arrangiert hat, stolpert «jäh über die Füsse dieses langen Amerikaners mit Cowboyhut und Westernstiefeln».

Ein schicksalhaftes Aufeinandertreffen zweier Menschen, die schon viel erlebt haben.

Herta wurde von ihrem Mann verlassen, Jakov lebt geschieden, beide haben erwachsene Kinder. Obwohl Hertas Kinder alles andere als begeistert sind von dieser späten Liebe, verlässt Jakov seine amerikanische Heimat und zieht zu Herta nach Zürich.

Es folgen zweiundzwanzig glückliche Jahre als Ehepaar. Herta blüht auf, reist mit Jakov immer wieder in die USA und lernt sogar reiten, um dessen Heimat mit ihm zusammen vom Sattel aus zu erfahren. Als die ersten Symptome der Krankheit auftreten, wollen beide zunächst nicht wahrhaben, was geschieht.

Sie überspielen die Vergesslichkeit, die «Nachlässigkeiten», die Jakov unterlaufen. Bis er völlig erschüttert von seiner traditionellen Fahrt ins Bergell zurückkommt: «Nichts sei ihm vertraut vorgekommen, nicht die Küche, nicht das Schlafzimmer, nicht der Blick ins Tal, in dem sie zusammen gewandert seien.»

Auch die Wörter verschwinden, und das macht Jakov grosse Angst:

«Immer öfter würden mitten am Tag Wörter fehlen, die er immer, über Jahre hin, gekannt habe: der Name für sein Bier, das dunkle Brot – plötzlich nicht mehr da. […] Er suche und grüble und hinterfrage sich, als könne er verlorene, entschwundene Wörter herbeikratzen, sie unter dem Schädel hervorkratzen, wie man etwas von den Wänden kratzt oder in der Erde wühlt nach einem verlorenen Schatz […]. Manchmal falle ihm ein vergessenes Wort dann ein. Wörter, die er wiederfinde, nenne er Lazarus-Wörter, weil sie auferstehen würden wie Tote, wie Lazarus.»

Am Verlust der Sprache zeigt Autor Urs Faes nicht nur Facetten der Krankheit, sondern des Menschseins an sich: «Was ist einer noch, wenn er die Wörter verliert?» Diese Frage ist einem, der mit Sprache arbeitet, besonders gegenwärtig. Doch die Möglichkeit, sich sprachlich auszutauschen, ist auch ein Grundbedürfnis.

Einfühlsam und bildgewaltig: «Untertags» schildert das Leben mit Demenz auf erfrischende Weise.Bild Viktoria Hug

«Wir erleben das in der Pandemie: Wir sind dialogische Wesen», erklärt Urs Faes im Gespräch mit alzheimer.ch. «Wir haben ein dialogisches In-der-Welt-sein.» Durch das Erzählen erschaffen wir uns, bauen unsere Identität. Wir vergewissern uns, dass wir Teil einer Gemeinschaft und in eine Normalität, einen Tagesablauf eingebettet sind. Diese scheinbare Konstante entschwindet Jakov.

Nach der Diagnose versuchen er und Herta, sich in der neuen Situation, die nun einen Namen hat, zurechtzufinden. Sie erleben die Qual des Vergessens und des Vergessenwerdens, den Rückzug aus der Welt. Momente der Nähe wechseln mit Augenblicken der Irritation und Verzweiflung.

Was sie durch diese schwierige Zeit trägt, ist das Fundament der langjährigen Beziehung. Dieser Kitt, das «stille Einverständnis» zweier Menschen, ist es, worauf Urs Faes den Fokus legt. Er habe keine weitere Krankheitsgeschichte schreiben wollen. Vielmehr erzähle er eine Liebesgeschichte, die sich über zwanzig Jahre hinweg entfalte bis zu den ersten Krankheitssymptomen.

Wie schreibt man über Demenz? Mehr zur Entstehung von «Untertags»:

Video-Reportage

Wie wir die Welt erschaffen

Zehn Jahre arbeitete Autor Urs Faes an seinem Roman «Untertags», näherte sich behutsam dem Thema Demenz. Einblicke erhielt er über Gespräche mit Michael … weiterlesen

Ihre tiefe Liebe zu Jakov ist für Herta bald Ursache neuer Schmerzen – und zugleich das einzige Werkzeug, damit umzugehen. Denn je mehr Jakov vergisst, desto mehr Verdrängtes steigt an die Oberfläche. Unter anderem eine alte Liebe, von der Jakov Herta nie erzählt hat:

«In dem Augenblick fiel zum ersten Mal der Name, den sie später noch öfter hören würde: Virginie. Kurz hingesagt, wie über die Lippen gerutscht, dann eine Pause – wie bei einem Klang, den man aushallen, nachhallen lässt. In diesen Nachklang hinein noch drei Wörter, wie angekoppelt an diesen Namen: I loved her.»

Virginie wird gegenwärtig, während Herta in Vergessenheit gerät. Ein für Herta schmerzvoller Prozess. Wie soll sie den Menschen pflegen, den sie liebt, wenn der in ihr eine andere zu erkennen glaubt? Herta begibt sich auf die Suche nach der «Wahrheit» hinter Virginie.

Zusammen mit ihren Töchtern durchstöbert sie die «Virginie Papers», eine Mappe mit Dokumenten, die von einer verbotenen Liebe zeugen, die lange verschüttet war. Sie steigt hinab in den Keller der Erinnerung, in das «Archiv unter den Füssen», und erkennt: «Vieles ist untertag».

Jakovs Erkrankung wird zum Katalysator fundamentaler Fragen.

Was macht Liebe aus? Wie erinnern und vergessen wir? Woraus schöpfen wir Kraft, wenn Gewissheiten wegbrechen? Was geschieht jenseits sprachlicher Verständigung?

Nah am Menschen erzählt Urs Faes in «Untertags» die gemeinsame Lebensreise von Herta und Jakov – und die Reise ins Vergessen aus Sicht einer pflegenden Angehörigen. Doch obwohl die Tragik der Situation in jeder Zeile mitschwingt, wirkt die Lektüre nie schwer.

Atmosphärisch dicht und mit hoher sprachlicher Präzision schildert Autor Urs Faes die Lebenswirklichkeiten zweier Liebender, von denen der eine ins Vergessen abgleitet. Er tut dies auf erfrischende, technisch raffinierte Weise, spiegelt auch im Erzählstil die Natur des sich Erinnerns: das Fragmentarische, Assoziative. 

Hier können Sie «Untertags» bestellen.

Urs Faes im Gespräch mit alzheimer.ch:

Urs Faes im Interview

Urs Faes über die Herausforderungen beim Schreiben und die Bedeutung von Sprache alzheimer.ch/youtube