Ein Kater fährt Schlitten - demenzjournal.com

Weihnachtsgeschichte

Ein Kater fährt Schlitten

So kann man einen Weihnachtsbaum auch schmücken. Bild Martin Mühlegg

Der hungrige Kuno ist auf der Suche nach einem Weihnachtsmahl. Erst bei Frau Mewes mit ihrem merkwürdig dekorierten Weihnachtsbaum bekommt er einen warmen Unterschlupf und feinen Lachs.

Der Himmel hängt tief über den verschneiten Strassen. Kuno läuft ziellos umher, er hat Hunger, üblen, bohrenden Hunger. Seit einiger Zeit hat er kein richtiges Zuhause mehr. In der Familie, in der er vorher lebte, hatte es ständig Krach gegeben. Die Kinder stritten sich, die Eltern brüllten die Kinder an, manchmal brüllten die Kinder auch zurück.

Kuno fragt sich, warum Menschen ständig schreien und überhaupt laute Geräusche machen müssen. Er ist nicht mehr der Jüngste und merkt, dass ihm der Lärm zunehmend auf die Nerven geht. Ausserdem braucht er mehr Zeit zum Nachdenken als früher, und dafür sind Geräusche auch nicht gut.
 
Kuno hat seine festen Adressen, die er regelmässig abgrast. Wo ihm jemand ein Schälchen mit Makrelen hinstellt oder auch mal ein Stück französischen Camembert, den mag er besonders. An diesem Tag fällt der Ertrag kläglich aus. Ob ihn heute alle vergessen haben? Er blickt durch die Fenster in Wohnzimmer, in denen Tannenbäume stehen, geschmückt mit Goldlametta und glänzenden Kugeln.

Kuno hätte auch gern eine solche Kugel, wenn man hineinschaut, begreift man vielleicht mehr von der Welt, denkt er. Allerdings wird man von einer Kugel nicht satt. Er überlegt, eine Maus zu fangen, aber im Schnee ist das schwierig.

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An einer Strassenecke biegt Kuno in einen Weg ein, der steil ansteigt und auf einen Hügel führt. Holunderweg heisst der Weg, Kuno ist hier noch nie gegangen. Ganz oben steht ein Haus aus roten Backsteinen. Der Garten ist voller Schnee, der Weg zum Haus nicht gefegt. Kuno kriecht durch den Zaun und entdeckt im Schnee ein paar schrumpelige Äpfel. Er schnuppert, beisst in einen Apfel und spuckt das Stück sofort wieder aus. So ein faules Ding!

Eine alte Frau kommt aus dem Haus und schlappt mit ihren Fellpantoffeln auf ihn zu.

Sie trägt eine Winterjacke, einen kurzen Rock, ihre Beine sind nackt. In ihrem Haar stecken ein paar Lockenwickler, aber nur auf der linken Seite, das sieht komisch aus, ein bisschen windschief. Erstaunt sieht sie Kuno an: «Wo hast du dich denn so lange herumgetrieben, bist einfach ausgerückt. Ich habe dich vermisst!» Kuno kennt die Frau nicht, er ist noch nie in ihrem Haus gewesen. Egal, vielleicht hat sie etwas zu fressen, also beschliesst er, sich nicht gross anzustellen.
 
Die Frau schlappt zum Haus zurück, Kuno folgt ihr. An der Haustür hängt ein rotes Schild mit fünf tanzenden Buchstaben: M e W E s. Im Haus ist es still, das gefällt Kuno. Ein kleiner Tannenbaum steht im Wohnzimmer mitten auf dem Esstisch, der Fuss steckt in einer grossen Vase. In den Zweigen hängen ebenfalls Lockenwickler und jede Menge Socken, blau, rot, gestreift, kariert, gepunktet.

An der Spitze steckt eine rote Kugel, in der sich das Wohnzimmer spiegelt. Allerdings sieht das Ganze nicht sehr stabil aus, und Kuno fragt sich, wann der Baum wohl vom Tisch poltert. Vorsichtshalber geht er auf Abstand.

Neben dem Wohnzimmer ist die Küche, Kuno sieht den Kühlschrank und steuert direkt darauf zu. Er achtet darauf, dass Frau Mewes ihn dabei sieht. «Hunger?», fragt sie. «Das ist ja klar, so lange, wie du weg warst.» Sie öffnet die Tür, und Kuno ist enttäuscht: Jede Menge von diesen komischen faulen Äpfeln, zur Gesellschaft ein paar braune Bananen, ausserdem bunte Tassen, Teller, auf einem Teller liegen ein Messer und eine Gabel. War es das?

Frau Mewes öffnet die Gemüse-Schublade und zieht ein Päckchen Räucherlachs hervor.

Dann nimmt sie den Teller mit dem Messer und der Gabel, legt den Lachs darauf und stellt ihn vor Kuno auf den Boden. Was soll er mit Messer und Gabel anfangen? Kuno zerrt mit den Zähnen an der Verpackung, endlich hat er sie auf. Den Lachs schlingt er in Windeseile hinunter. Köstlich!

Als er fertig ist, legt er sich auf den Boden, neben die Füsse von Frau Mewes, die friedlich in ihrem Sessel sitzt. Kuno gähnt zufrieden. Er mag es, dass keiner über ihn hinweg springt und keiner schreit.

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«Wo warst du eigentlich?», fragt Frau Mewes. «Du bist ein bisschen grau geworden.» Sanft streichelt sie Kunos Bauch. «In der letzten Zeit hatte ich kaum Besuch. Oder ich habe es vergessen.

Manchmal fühlt sich mein Kopf wie eine grosse Nebelwolke an.

Ich stochere darin herum, aber kann keinen klaren Gedanken finden. Sind alle verschwunden. Wo leben meine Kinder noch mal? Ich glaube in Amerika, weit weg.» Einmal, erzählt sie, ist sie mit dem Schiff über den Ozean gefahren und hat sie besucht. Dann schweigt sie, und Kuno legt sich auf ihre Füsse. «Bleib liegen», sagt Frau Mewes, «meine Wärmflasche ist schon länger weg. Vielleicht hat Frau Becker sie mitgenommen».

Frau Becker kommt jeden Tag bei Frau Mewes vorbei. Vielleicht heisst sie auch Wecker, meint Frau Mewes, jedenfalls schimpft sie häufig. «Teller gehören nicht in den Kühlschrank, Frau Mewes, Schokolade niemals auf die Heizung. Das geht nicht mehr lange gut mit Ihnen, Frau Mewes, allein in dem Haus.»

Frau Mewes sagt, dass das sehr wohl gut geht, sie fände es praktisch, wenn der Teller im Kühlschrank gleich neben dem Aufschnitt steht. Und sie liebe flüssige Schokolade, die sie direkt aus dem Papier löffeln kann. Das habe Frau Becker-Mecker wohl nicht verstanden. Kuno denkt, dass es eine gute Idee ist mit der Schokolade auf der Heizung – die nächste Schokosuppe ist seine. 

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«Ich bin froh, wenn Frau Spirali vorbeikommt mit ihren bunten Ohrringen. Immer wenn sie die Wohnung putzt, macht sie Musik an, italienische Opern, und die Arien singt sie beim Wischen und Feudeln laut mit. Manchmal singe ich auch mit: ,Uuu-na furtiii-va…’ Weiter weiss ich nicht.»

Nur gegen den Staubsauger, ergänzt Frau Mewes, kommt keiner an, auch Frau Spirali nicht. Kuno denkt, dass er auf Staubsauger plus italienische Arien plus Gesang von Frau Spirali und Frau Mewes überhaupt keine Lust hätte – viel zu viel Chaos.

Inzwischen ist es dämmrig geworden. Frau Mewes macht eine Lampe an. «Wo sind nur meine Kerzen, ich finde sie nicht», sagt sie bekümmert. In diesem Moment klopft es, dann noch mal. Frau Mewes geht zur Tür und öffnet, Kuno folgt ihr neugierig. Draussen steht ein kleiner Weihnachtsmann mit schneegepuderter Mütze, in der Hand hält er ein Seil mit einem Holzschlitten dran.

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«Frohe Weihnachten, Frau Mewes», sagt er mit heller Stimme. Dann entdeckt er Kuno. «Wie gut, dass Sie Besuch haben. Darf ich reinkommen?» – «Ist denn schon wieder Weihnachten», fragt Frau Mewes, «war doch erst gerade.»  – «Die Zeit vergeht schnell», antwortet der Weihnachtsmann fröhlich. «Ihre Tanne haben Sie sehr schön geschmückt.»

Vorsichtig nimmt der Weihnachtsmann Frau Mewes die Lockenwickler aus den Haaren und hängt sie zu den anderen Wicklern in den Baum. Der Kater sieht, dass der Weihnachtsmann unter seiner Weihnachtsmütze bunte Ohrringe trägt, das sieht lustig aus.

Vielleicht ist der Weihnachtsmann in Wirklichkeit eine Weihnachtsfrau.

Der Weihnachtsmensch geht jetzt in die Küche und legt einen Sack auf den Tisch. «Bevor es dunkel wird, möchte ich Sie zu einer Schlittenpartie einladen. Wie wär’s?» Wenig später sitzen der Weihnachtsmann und Frau Mewes auf dem Schlitten.

Kuno weiss nicht, ob er mitfahren soll, aber der Weihnachtsmensch hebt ihn einfach hoch und legt ihn Frau Mewes in die Arme. Dann zündet er zwei Wunderkerzen an, eine reicht er Frau Mewes, die andere behält er selbst in der Hand. «Gut festhalten, los geht’s!»

Zu dritt sausen sie den Hügel herunter. Der Wind bläst ihnen ins Gesicht, etwas Schnee ist auch dabei. Die Wunderkerzen sprühen kleine Funken. Frau Mewes lehnt sich weit zurück, dann sind sie schneller. Kuno hört, wie sie leise vor sich hin singt. Er findet den Fahrtwind etwas kalt, aber egal. Als sie unten angekommen sind, bremst der Weihnachtsmann mit seinen Stiefeln vor ein paar schneebedeckten Tannen ab.

Hinter den Tannen steht eine Reihe hell erleuchteter Häuser, in den Fenstern leuchten gelbe und rote Sterne.

«Noch mal!», sagt Frau Mewes entschieden, «als Kind bin ich jeden Tag gerodelt.» – «Aber nicht im Sommer, Frau Mewes», meint der Weihnachtsmann. «Vielleicht doch», meint Frau Mewes, «aber übers Wasser.»

Dreimal fahren sie noch zusammen den Hügel hinunter, dann ist es endgültig dunkel. Im Haus zündet der Weihnachtsmann die Kerzen am Baum an, ein sanfter Schein fällt auf die Lockenwickler und die Socken. Dann packt er seinen Jutesack aus: italienische Salami, Parmesankäse, Forelle, zwei Granatäpfel, Nüsse, Lebkuchen und ein Mistelzweig. Gemeinsam essen sie alles auf, bis auf den Mistelzweig. Kuno ist zufrieden, er fühlt sich voll und rund wie lange nicht mehr. Nur auf den Meerrettich, den es zu den Forellen gab, hätte er verzichten können.

Nach dem Essen hängt der Weihnachtsmann den Mistelzweig über der Haustür auf. «Der soll Ihnen Glück bringen, Frau Mewes», sagt er. «Ich glaube, es hat mich mal jemand geküsst, unter einem Mistelzweig», meint Frau Mewes, «wer war das bloss?» – «Ist vielleicht schon ein bisschen her, oder?», fragt der Weihnachtsmann.

«Kann sein. Der Kuss ist im Nebel verschwunden.»

Frau Mewes lehnt sich in ihrem Sessel zurück und schliesst die Augen. «Sie sind müde», sagt der Weihnachtsmann freundlich. «Ich muss jetzt los, aber Sie haben ja Gesellschaft.» Kuno denkt, dass es tatsächlich eine gute Idee wäre, hier zu bleiben, er mag die Ruhe im Haus, und Frau Mewes ist auch okay. Nur auf die alberne Geschichte mit dem Kuss und dem Mistelzweig hätte er gut verzichten können – Gefühlsduselei!