Es ist die Einsamkeit, die ihr zu schaffen macht. Olive Kitteridge hat einen Herzinfarkt hinter sich. Jetzt ist sie wieder daheim, in dem viel zu grossen Haus, das sie gemeinsam mit ihrem verstorbenen zweiten Ehemann Jack bewohnt hat. Das Alleinsein sitzt ihr im Nacken, in jedem Zimmer des Hauses.

Es war, als hätte sie – ohne sich dessen bewusst zu sein – ihr Leben lang vier stabile Räder unter sich gehabt, und jetzt plötzlich eierten sie alle vier und drohten jeden Moment abzufallen. Sie wusste nicht mehr, wer sie war oder was aus ihr werden sollte.

Olive Kitteridge ist die Hauptfigur in Elizabeth Strouts neuem Roman «Die langen Abende», der in Crosby, einer Kleinstadt an der Küste von Maine spielt. Die Lehrerin im Ruhestand, die so wunderbar bärbeissig sein kann, war schon einmal Hauptfigur der amerikanischen Autorin, im Roman «Mit Blick aufs Meer». Für das Buch, verfilmt als Mini-TV-Serie mit Frances McDormand, bekam Strout 2009 den Pulitzer Preis.

Elizabeth Strout.Bild Leonardo Cendamo

Jetzt ist Olive zurück: gealtert, gelegentlich verzweifelt, aber dann auch widerborstig und ausgestattet mit dem Talent, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Sie weiss, dass sie bisweilen Mitleid bei anderen auslöst, und genau das hasst sie. Aber eben diese Fähigkeit zur Selbstreflexion rettet sie davor, in grenzenloses Selbstmitleid zu verfallen.

Zu ihrem Sohn Christopher und dessen Familie hat die alte Frau ein distanziertes Verhältnis, und das ist zum Teil ihre Schuld: Sie hat sich nie sonderlich um ein herzliches Verhältnis zu ihm bemüht. Als er jetzt samt Familie die Mutter besucht, überwiegen Fremdheit und Beklommenheit.

Aber es gibt auch Momente, in denen Olive zufrieden ist, wenn nämlich ihr Sohn aus seinem Leben erzählt und überhaupt mit ihr redet. Selbst wenn er nur das Alphabet aufsagen würde, wäre Olive glücklich, schreibt die Autorin in ihrer wunderbar lakonischen Art.

«Wenn man alt ist», sagte Olive zu Andrea, «dann wird man unsichtbar. Das ist eine Tatsache. Und in gewisser Weise hat das etwas Befreiendes.»

Später, Olive ist müde und körperlich immer mehr angeschlagen, kommt sie in ein Seniorenheim. Eigentlich hatte sie sich immer dagegen gesperrt, die Bewohner kamen ihr so unendlich alt vor. Doch dann schickt sie sich in das Unausweichliche und lebt damit, die meisten Mitbewohner ziemlich beschränkt zu finden.

Dass sie nicht depressiv wird, sondern die Fäden ihres Lebens in die Hand nimmt, so gut es geht, liegt an ihrer unverwüstlichen Resilienz. Was ihr hilft, ist eine elektrische Schreibmaschine, die ihr Sohn ihr besorgt hat. Damit schreibt sie Erinnerungen aus ihrem Leben auf. Die Maschine mit ihrem Surren und Klicken macht Olive glücklich, in diesen Momenten ist sie ganz bei sich.

Elizabeth Strout, Jahrgang 1956, hat eine wunderbare Hauptfigur geschaffen, die trotz oder wegen ihrer Grantigkeit Mut macht, das Abenteuer Alter anzugehen: mit Pragmatismus, Selbstreflexion und Sarkasmus – was freilich vor gelegentlicher Verzweiflung nicht schützt. Olive Kitteridge möchte man gern persönlich kennenlernen. Entweder würde sie einen mögen, oder man fällt bei ihr komplett durch.

Viele Geschichten sind ineinander verwoben, in denen Olive manchmal nur am Rand auftaucht. Auch die Nebenfiguren sind bissig-liebevoll gezeichnet im ausufernden Plot. Die Autorin besitzt so viel Klugheit und Menschenkenntnis, dass man süchtig werden kann nach diesen Geschichten aus der amerikanischen Provinz. Die grösste Stärke der Autorin aber sind ihr feiner Humor und die untergründige Ironie. Wie ist es, wenn man als Paar 42 Jahre verheiratet ist und seit 35 Jahren so gut wie gar nicht miteinander spricht?

Die Lösung, die ein Paar, Fergus und Ethel MacPherson, gefunden hat, ist ebenso genial wie absurd: In ihrem Wohnzimmer und im Esszimmer haben sie auf dem Boden mit gelbem Isolierband eine Trennlinie gezogen, die die Räume in jeweils zwei Hälften teilt. Auch am Esstisch hat jeder der MacPhersons seine eigene Hälfte. Langzeit-Ehen machen erfinderisch.

«Du bist so eine grauenvoll schwierige Frau, aber verflixt und zugenäht, ich liebe dich. Wenn’s dir also nicht allzu viel ausmacht, Olive, könntest du bei mir bitte nicht ganz so olive-ig sein…? Weil ich dich liebe und uns nicht mehr viel Zeit bleibt.» (sagt Jack, Olives zweiter Ehemann, zu ihr)