Er weiss selbst, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Immer wieder hat er diese Ausfälle. Er ist irritiert, alarmiert, manchmal auch ein bisschen amüsiert. «Oft weiss ich nicht mehr, was ich eigentlich weiss. Ich spüre, da ist etwas, kann es aber nicht greifen – als ob etwas in mir ins Leere fassen würde.»  

So versucht der Vater seinem Sohn zu erklären, dass er sich selbst immer mehr abhanden kommt. Lange Jahre hatten beide nur ein lockeres Verhältnis zueinander, aber jetzt besucht der Sohn seinen alten Vater regelmässig. Eine Nähe entsteht, die es so vorher nicht gab.

«Ich kann’s schwer erklären, aber ich weiss oft gar nicht, was ich will. Ich weiss, dass ich etwas vorhabe, etwas möchte – dann aber weiss ich nicht mehr, was.»
«Du lebst im Moment, Papa, im Hier und Jetzt und immer nach Gefühl. Das hat auch sein Gutes.»

Dass der Vater den eigenen Sohn «Freund» nennt, spricht für sich. Er kann sich anvertrauen, und der Sohn geht geduldig auf seine immer gleichen Fragen ein – meist zumindest. «Wo lebst du noch mal?», fragt der Vater den Sohn wiederholt. In anderen Momenten hilft der Sohn dem Vater auf die Sprünge, wenn er vergeblich in der eigenen Biografie herumstochert.Bild 1

Das neue, autobiografisch geprägte Buch des Schriftstellers David Wagner, «Der vergessliche Riese», ist im Ton zurückhaltend, behutsam, manchmal auch humorvoll. Emotionen werden angedeutet, aber nicht ausgebreitet.

Als Leser dieses Buches, das mit dem Bayerischen Buchpreis 2019 ausgezeichnet wurde, kann man sich selbst ein Bild von dieser Vater-Sohn-Beziehung machen, in der sich zwei Männer vorsichtig tastend, bisweilen zärtlich aufeinander zubewegen. Der Erzähler ist das Alter Ego von David Wagner.

Früher hatte sich dieser Mann mit dem rosigen Gesicht und den längeren weissen Haaren, 1943 geboren und mittlerweile 71 Jahre alt, nicht sonderlich für den Sohn interessiert. Davids Mutter ist früh gestorben, darauf heiratete der Vater zum zweiten Mal und ging in dieser neuen Ehe auf.

Auch als der Sohn selbst Vater wurde, blieb das Verhältnis distanziert. Den Sohn hat das schwer getroffen, aber jetzt findet er den Mut, das offen anzusprechen. Der Vater wiederum kann sich an Details kaum erinnern.

Das Vergessen kann also auch segensreich sein – wie der Sohn klipp und klar konstatiert. Dass er darüber nicht bitter geworden ist, sondern grossherzig auf den Vater zugehen kann, ist ein Zeichen von Souveränität und Menschlichkeit.

Soll ich es ihm nicht einfach sagen? Papa, wir fahren nicht zurück nach Meckenheim. Wir fahren nicht zurück zu deinem Teich, deinem Gartenschlauch, dem Rasen und dem Holz, das du gehackt hast. Nicht zurück zu deinem Kamin.

Gelegentlich kommt der Sohn allerdings in die Bredouille. Wie sollen er und seine Schwestern dem Vater beibringen, dass er nicht mehr allein in seinem Haus in Meckenheim bei Bonn leben kann? Die «Pflegeheimvilla» am Rhein, in die er ziehen soll und wo er schon mal Urlaub gemacht hat, ist schon gefunden.

Der Sohn greift zu einem Trick: Tagsüber unternimmt er mit dem Vater einen Ausflug, wie sie es häufig zusammen machen, nur dieses Mal endet der Ausflug im Pflegeheim – was der Vater vorher nicht weiss. Warum kann der Sohn nicht mit dem alten Mann auf Augenhöhe sprechen? Wie viel Offenheit ist möglich oder sogar nötig? Wie viel Widerstand muss er befürchten? Der Sohn kommt sich wie ein Verräter vor.

Nähe und Abstand, Einfühlung und Abgrenzung: In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Sohn.

Der Vater wiederum ist vor allem dankbar für die Besuche des quasi wiedergefundenen Sohnes. Immer wieder erleben wir anrührende Momente zwischen den beiden Männern, zum Beispiel wenn der Sohn nach einem gemeinsam verbrachten Tag die Hand des Vaters nimmt, «die sich nun wieder wie eine Kinderhand anfühlt, dabei war es mal die grösste Hand der Welt».

So drehen sich die Rollen um, der Vater ist zum Kind geworden und bedürftig.

Der Sohn im Buch (und damit auch David Wagner) erlebt dieses neue Verhältnis zum Vater als bereichernd. Davon hat der Autor vor Kurzem in einem Radio-Interview ausführlich erzählt. «Weil dieses Vergessen und dieses Verändern, sagen wir mal, dieser Schrumpfungsprozess in gewisser Weise, der innerhalb dieses Vaters stattfindet, ihn auch immer weicher, immer lieber macht».

So sei der Sohn «dann auf einmal wahnsinnig gerne mit ihm zusammen». Die späte Vater-Sohn-Annäherung ist für den Autor «ein Geschenk und ein Staunen».

Seine Stimme ist die von früher, sie hat sich kaum verändert. Sie klingt noch immer so, als sage er nur kluge Sachen. Früher, im seltsamen Früher, wo liegt dieses geheimnisvolle Land, wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Grösste.

Als der Vater Kind war, hat er auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses einen Zwerg gespielt, in Richard Wagners Oper «Das Rheingold». Später ist er für den Sohn ein grosser, bewunderter Riese geworden.

Mittlerweile ist der Riese vergesslich geworden. Aber an die Begebenheit aus der Kindheit, an seinen Auftritt als Zwerg, bei dem er jedes Mal einen Purzelbaum schlagen musste, kann sich der Vater noch gut erinnern.