alzheimer.ch: Sie leben seit mehr als zwei Jahren mit einer 85-jährigen Frau zusammen, die unter Demenz leidet, mit der Sie aber nicht verwandt sind. In Ihrem Buch nennen Sie sie Martha. Wie ist es zu der WG gekommen?

Martina Bergmann: Ich habe zunächst 2013 Marthas Lebensgefährten Heinrich kennengelernt, er war Kunde in meiner Buchhandlung. Dann habe ich ihn zu Hause besucht und dort auch Martha kennenglernt. Sie war damals schon krank, und er ist sehr rücksichtsvoll mit ihr umgegangen.

Er hatte für Marthas Krankheit einen sehr hübschen Begriff gefunden: Sie sei in einer «poetischen Verfassung», sagte er. Ich fand die beiden sehr sympathisch und habe sie ein bisschen unterstützt, für sie eingekauft und gekocht. 2016 starb Heinrich an Krebs. Martha brauchte Hilfe, und ich bin zu ihr gezogen.

Ein ungewöhnlicher Schritt. Sie hatten ja auch Ihr eigenes Leben, Ihre Buchhandlung, den kleinen Verlag, in dem Sie Bücher herausgeben.

Für mich war das gar nicht so ungewöhnlich. Ich habe keine Kinder, und ich mochte Martha sehr – das war wohl das Entscheidende. Schon am Anfang war ich beeindruckt von Marthas Courage, trotz ihrer Einschränkungen.

Ausserdem ist sie sehr ehrlich, das gefällt mir, auch vor ihrer Krankheit war sie offenbar schon so.

Wie haben die Nachbarn auf die WG reagiert?

Es gab immer wieder Stress. Wir leben hier in Ostwestfalen auf dem Land, da wird gern getratscht. Am Anfang, als ich Heinrich und Martha geholfen habe, tuschelten einige, ich sei ja nur auf Heinrichs Erbe scharf. Jemand anderes hatte Martha gesteckt, ich wolle sie ins Heim bringen.

Ich bin schliesslich mit Martha weggezogen, weil das Gerede mich wirklich terrorisiert hat. Dort, wo wir jetzt wohnen, ist es viel besser. Ich bin gleich am Anfang zu den Nachbarn hingegangen und habe ihnen Martha vorgestellt: «Das ist die Oma, die ist ein bisschen durcheinander, und wenn Sie etwas nervt, rufen Sie mich an.» Das funktioniert auch.

Sie leben seit 2016 mit Martha zusammen. Was bereichert Sie in der Beziehung?

Martha hat meist gute Laune. Sie hat ganz viel Freude an Dingen, die ich auch gern mache. Eine Zeitlang haben wir viel zusammen genäht, das heisst, sie hilft ein bisschen, sucht die Stoffe aus. Von sich aus würde sie das nicht tun, und allein würde ich es auch nicht machen. Aber gemeinsam macht es Spass. Wenn ich abends nach Hause komme, ist es schön, dass jemand auf mich wartet. Martha reisst dann jedes Mal stürmisch die Haustür auf, wenn sie mich vom Fenster aus gesehen hat.

In welchen Momenten sind Sie von Martha genervt?

An der Person nervt mich grundsätzlich nichts, ich mag Martha wirklich sehr. Es nerven mich Verhaltensweisen im Alltag, wenn sie zum Beispiel immer das ganze Apfelgelee aufisst, und für mich ist morgens nichts mehr da. Oder sie gibt nachts ihrer Katze die ganze Milch zu trinken, und ich muss zum Frühstück schwarzen Kaffee trinken. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten.

Zur Person

Martina Bergmann, 1979 in Ostwestfalen geboren, studierte Geisteswissenschaften. Die ausgebildete Buchhändlerin betreibt in Borgholzhausen (Westfalen) eine Buchhandlung. Zudem hat sie einen eigenen Verlag und schreibt regelmässig Kolumnen für das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. «Mein Leben mit Martha» ist ihr erster Roman.

Wie kommen Sie mit der Doppelbelastung – die Buchhandlung und die Betreuung von Martha – klar

Ich bin beruflich in einer privilegierten Lage, weil ich selbständig und dadurch einigermassen flexibel bin. Natürlich habe ich in meinem Job Stress, aber wenn ich mit Martha zusammen bin, ist der Druck weg. Ich versuche ganz bewusst, die Belastung in meiner Buchhandlung zu lassen. Meistens klappt das, und diese Trennung ist auch für mich sehr entspannend.

Tagsüber kommt regelmässig ein Pflegedienst. Wie kommt Martha mit den Pflegekräften klar?

Sie kann schon sehr deutlich zeigen, wenn sie jemanden nicht mag. Natürlich würde sie lieber von mir geduscht werden und nicht von irgendwem. Ich habe ihr dann schon mal gesagt: «Ich mache hier für dich einen riesigen Aufstand, da hätte ich gern mehr Entgegenkommen.» Das klappt dann auch. Natürlich sind immer auch der Hausarzt, das Pflegeteam und die zuständige Behörde mit im Boot und unterstützen uns, soweit sie können. Ich denke, Martha hat die für sie bestmögliche Wohnsituation.

In einem Heim würde jemand wie Martha, die sehr viel individuelle Zuwendung gewohnt ist, vermutlich schwer zurecht kommen.

Das denke ich auch. Sie ist promovierte Soziologin, eine unkonventionelle Intellektuelle, die sich nicht gern etwas sagen lässt. Ausserdem würde es Martha ängstigen, wenn sie mitkriegt, wie sehr die anderen Patienten um sie herum abbauen. Sie hat viele Antennen, was ihre Umgebung angeht.

Haben Sie manchmal Angst, dass Sie die Situation nicht mehr bewältigen können, wenn Marthas Krankheit weiter fortschreitet?

Nein. Wenn sie allerdings eines Tages anfängt, von zu Hause abzuhauen, müssen wir eine neue Wohnlösung finden. Im Moment ist es kein Problem, dass sie tagsüber oft allein ist. Sie war in ihrem Leben immer eine Einzelgängerin, und warum sollte sie im Alter ihren Charakter ändern?

Malen Sie sich manchmal aus, was alles zu Hause mit Martha passieren könnte, wenn Sie nicht da sind?

Ach was, genauso gut könnte ich eine Treppe herunterfallen. Es gibt ein paar Dinge, auf die ich sehr genau achte: Wenn ich weg bin, ist der Herd ausgestellt und lässt sich auch nicht anschalten. Das Bügeleisen ist weggeschlossen, im Haus liegt kein Geld herum.

Ich glaube übrigens, dass in unserer Gesellschaft die Nervosität gegenüber Menschen mit Demenz sehr gross ist: Die Leute haben Angst, die Patienten würden abhauen, könnten etwas Schlimmes anrichten. Ich bin da viel gelassener. Bei uns auf dem Land würde Martha im Übrigen nicht weit kommen, es gibt keine U-Bahnen oder Busse wie in der Stadt. Alles ist sehr überschaubar.

Bis jetzt ist nichts Schlimmes passiert?

Nichts Gravierendes. Einmal hat Martha für mich bei einem Haustürverkäufer eine Kreuzfahrt gebucht. Das liess sich aber schnell rückgängig machen, ich musste nur meinen Betreuerausweis vorzeigen. So was spricht sich natürlich rum: In dem Haus wohnt eine tüddelige Oma…

Zerren solche Vorfälle an Ihren Nerven?

Ich kann das gut wegtun. Ich habe ein sehr gutes soziales Netz, das mir hilft: Meine Eltern wohnen in der Nähe, laden Martha auch zu Weihnachten ein. Ausserdem habe ich Geschwister, Freundinnen und kenne die Inhaber der kleinen Läden bei uns. Da kann ich auch mal gut etwas lassen.

Was glauben Sie, warum Martha so gern mit Ihnen zusammenlebt?

Wenn andere Leute sie darauf ansprechen, sagt sie gern: «Martina ist eben nicht so bescheuert.» Sie meinst damit: nicht so kleingeistig.

Martha ist sehr offen und tolerant. Wir sind wahrscheinlich beide eher unkonventionell.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie ein Buch über Ihre Beziehung zu Martha geschrieben haben?

Die Verlegerin Julia Eisele hat mir einen Buchvertrag angeboten, und ich durfte das Thema aussuchen. Ich hatte Lust, dieses Buch zu schreiben.

Inwieweit ist es autobiografisch?

Es ist ein Roman, das heisst in Teilen autobiografisch, in Teilen habe ich Dinge verändert oder dazu erfunden.

Hat Martha das Buch lesen können?

Ich habe es ihr von vorn bis hinten vorgelesen, bevor es in Druck ging. Manches habe ich aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre bewusst rausgelassen.

Für die pflegenden Angehörigen, sie sich um einen Menschen mit Demenz kümmern, ist der Alltag oft sehr hart, sie fühlen sich schnell überfordert. In Ihrem Buch schildern sie das Zusammenleben mit Martha überwiegend als bereichernd. Befürchten Sie den Vorwurf, Sie würden da etwas beschönigen?

Ich versuche im Buch immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Situation von Martha und mir aussergewöhnlich ist, nicht repräsentativ. Es ist klar, dass so ein Zusammenleben nur unter ganz bestimmten Bedingungen funktionieren kann.

Wollen Sie mit dem Buch anderen Menschen Mut machen, solche Lebensgemeinschaften einzugehen?

Ich will keine Empfehlungen geben, sondern einfach meine Geschichte erzählen. Jeder nimmt sich davon, was er will. 

Auszüge aus dem Buch

Die Vergangenheit ist Martha nah, sie hat sie immer dabei. Martha springt zwischen den Zeiten wie der Grashüpfer bei Biene Maja zwischen grünen Halmen.

Martha albert herum, sie ist frech vor Lebensleichtigkeit. Ich mochte das immer gern leiden, dieses fröhliche Blubbern. Wie Schaumbad für die Ohren, aber manchmal mit einem Körnchen Sand.

Martha kann sich stundenlang beschäftigen, wie eine Murmel, die langsam durch eine Murmelbahn rollt. Von links nach rechts, durch das kleine Loch im Holz, plumps, nächste Bahn. Von rechts nach links, plumps, weiter. Ich sehe abends an den Spuren ihrer Tätigkeit, wo sie herumgekullert ist.

Martha ist alt, aber das ist keine Krankheit. Und Martha ist verschaltet. Ich stelle mir ihr Gehirn so vor wie einen Sicherungskasten mit hunderttausend Einheiten. Einige sind angelaufen, zwei sind rostig. Sie sind ja auch schon lange in Gebrauch, über achtzig Jahre. Etwas Verschleiß scheint mir nicht ungewöhnlich. Ein paar sind an der falschen Stelle. Da sie ein Muster bilden, rund und eckig in einer aparten Folge, hat Martha sie wahrscheinlich selber umgesteckt.