alzheimer.ch: Herr Caviezel, wie muss man sich das vorstellen, wie gelangen Sie an diese Bilder?

Kurt Caviezel: Es findet grundsätzlich alles live statt. Woher eine Übertragung kommt, weiss ich meistens nicht, d.h. es ist nicht immer klar ersichtlich, wo sich die Kamera, deren Bilder ich gerade betrachte, befindet.

Recht am eigenen Bild

Immer öfter werden Überwachungskameras dazu eingesetzt, um angeblich die Sicherheit von pflegebedürftigen Menschen zu gewährleisten. Wenn diese Bilder relativ einfach von Unbeteiligten eingesehen werden können, verstösst dies gegen das Persönlichkeitsrecht. Deshalb begrüsst alzheimer.ch die Diskussion, die Kurt Caviezels Projekt «Survelliance Report» auslöst. Vielleicht wird sie dazu beitragen, dass solche Bilder und damit auch die Rechte der betroffenen Menschen künftig besser geschützt werden (siehe Michael Schmieders Kommentar am Ende des Interviews).

Es könnte in der Nachbarschaft sein oder genauso gut auf einem anderen Kontinent. Die meisten dieser Kameras stellen nur Einzelbilder ins Netz, die dann alle paar Sekunden erneuert werden, das alte Bild wird durch das neue überschrieben.

Will heissen, der Zufall spielt eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit?

Ich helfe dem Zufall etwas auf die Sprünge, indem ich das Thema meiner Suche eingrenze. Was man dann zu sehen bekommt, ist rein zufällig. Der Zufall spielt vor allem eine wichtige Rolle beim Aufspüren der Kameras im Internet.

Einmal gefunden, ‘verschlagworte’ ich diesen Feed mit mehreren Begriffen. Wenn ich später beispielsweise ‘Demenz’ eingebe, finde ich die Bilder dieser Kamera relativ leicht wieder.

Sie haben sich also mehr als 10’000 Kamerafeeds irgendwo notiert? Das ist ein unglaublicher Arbeitsaufwand ….

Es sind mittlerweile etwa 40 – 50’000 Bookmarks, die ich gesetzt habe. Aber das wechselt laufend. Während Kameras im öffentlichen Raum relativ beständig sind, haben Online-Feeds aus Privat- oder Geschäftsräumen oft eine viel kürzere Lebensdauer.

Es gibt aber Kameras, die tatsächlich seit zwanzig Jahren den ewig gleichen Bildausschnitt zeigen und die ich regelmässig aufsuche.

Die Bilder der Demenzbetroffenen aus der Serie «Surveillance Report» sind relativ verpixelt, wurden sie von Ihnen nachbearbeitet?

Die meisten Überwachungskameras haben eine geringe Auflösung, etwa 640 x 480 Pixel, sind also nur ein winziges Datenwölkchen im Netz. Für Ausstellungen habe ich solche Aufnahmen schon auf 1,5 x 3 Meter aufgeblasen, mit Hilfe von Software ist das durchaus möglich.

Das ergibt eine eigene Ästhetik. Dennoch bleibt im Bild ersichtlich, woher die Aufnahmen stammen: Von einer Kamera mit geringer Auflösung. Je näher man am Bild steht, desto mehr löst es sich auf.

Haben Sie die Menschen, die Sie abbilden, um Erlaubnis gefragt? Das Recht am eigenen Bild und das Recht auf Privatsphäre tangieren sie mit dieser Arbeit ja beträchtlich?

Ich kenne diese Leute nicht, ich weiss nicht einmal aus welchem Kontinent oder Land sie stammen. Ich habe keinerlei Kontakt aufgenommen. Natürlich habe ich mich genau darüber informiert, was man darf und was nicht.

Als anerkannter Künstler mit verzeichneten Werken darf man sich hinsichtlich des Datenschutzes relativ viel erlauben, viel mehr jedenfalls als eine Privatperson oder ein Journalist. Die Kunst bietet hier also einen gewissen Freiraum, es genügt die künstlerische Intention. Ich darf mir das also erlauben, Sie hingegen nicht.

Der amerikanische Künstler Richard Prince hat das auf die Spitze getrieben, indem er Instagram-Selfies von irgendwelchen Menschen mit dem Handy fotografiert, grossformatig aufgeblasen und für 100 000 Dollar verkauft hat.

Er hatte anschliessend mehrere Gerichtsverfahren am Hals, die er allesamt gewonnen hat. Er sei als Künstler bekannt und habe die Fotografien in eine Serie eingebettet. Damit sei sein Verhalten erlaubt, argumentierten die Gerichte. (Lesen Sie hier einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung zum Thema)

Vom Recht hin zur Ethik: Hatten Sie keine Skrupel, diese Bilder so zu zeigen?

Als ich die Bilder das erste Mal sah und erfuhr, dass es sich hier um Demenzbetroffene handelt, hatte ich meine Zweifel, ob ich das überhaupt zeigen kann.

Ich habe lange hin und her überlegt und über Jahre diese Bilder eingesammelt, mit dem Gedanken, vielleicht irgendwann einmal etwas damit zu machen.

Ich kam dann zum Schluss, dass nicht ich es bin, der diese Bilder gemacht hat, sie standen ja bereits im Netz, ohne mein Zutun. Ich bin eigentlich nur der Überbringer der Botschaft.

Woher wussten Sie eigentlich, dass diese Bilder Menschen mit Demenz zeigen?

Diese Bilder im Netz sind meistens einer Institution zugeordnet. Es sind Bilder aus Demenzstationen auf der ganzen Welt. Es hat auch private Feeds darunter. Auf den entsprechenden Webseiten fand ich die nötigen Informationen dazu. So konnte ich das eruieren und verifizieren.

Woher kommt die Faszination, ausgerechnet mit Menschen mit Demenz eine solche Foto-Serie zu kreieren?

Ich fand es passt gut. Beim Thema Demenz geht es um das Vergessen. Indem ich diese Bilder zeige, will ich dazu beitragen, dass diese Menschen in der Öffentlichkeit nicht in Vergessenheit geraten.

Fotografie ist dazu da, einen bestimmten Moment für die Ewigkeit zu erhalten, bei Menschen mit Demenz verblassen solche Momente des Lebens.

Und ich wollte zeigen, dass die meisten nicht einmal wissen, dass sie ständig überwacht werden. Dieses Spannungsfeld finde ich hochinteressant.

Und im Zusammenhang mit der Kunst?

Ich schaue durch das Internet auf die reale Welt hinaus. Dieser Gedanke fasziniert mich, übrigens auch bei den anderen Themen, die ich auf diese Weise beackere.

Ich nutze dieses Medium, um zu zeigen, was man überall auf der Welt sieht und hoffe den Betrachter dazu zu bringen, Fragen zu stellen. Ich liefere keine Antworten.

Die ganzen Diskussionen um Privatsphäre und Datenhoheit sind heute eminent wichtig, denn viele wissen nicht, wie gross die Datenspur ist, die sie hinterlassen. Für das Recht auf Privatheit und das Anrecht auf die eigenen Daten lohnt es sich zu kämpfen in der heutigen Zeit.

Danke für das Gespräch und die Gelegenheit, Ihre Fotoserie unseren Leserinnen und Lesern zu zeigen, auch wir sind hier nur Überbringer der Nachricht …

→ Kurt Caviezels Webseite