«Komik kann helfen, Ängste abzubauen» - demenzjournal.com

Vater hat Alzheimer

«Komik kann helfen, Ängste abzubauen»

«Nachts stand er ständig auf, zog sich an und wieder aus», sagt Hilly Martinek über ihren Vater, der Alzheimer hatte. Bild PD

Hilly Martinek schrieb mit Til Schweiger das Drehbuch zu dem Erfolgsfilm «Honig im Kopf». Jetzt hat Martinek ihr erstes Buch veröffentlicht, das an den Film anknüpft. Im Interview erzählt sie, wie weit Erfahrungen mit ihrer eigenen Familie eingeflossen sind.

alzheimer.ch: In Ihrem neuen Buch treffen wir viele Figuren aus «Honig im Kopf» wieder. Ist das Buch eine Fortsetzung des Films?

Hilly Martinek: Nein, die Perspektive ist ganz anders. Der Film ist ja überwiegend aus der Sicht der kleinen Tilda erzählt, die ihre Erlebnisse mit Amandus, ihrem an Alzheimer erkrankten Grossvater, schildert. Hätte ich diese Perspektive jetzt eins zu eins übernommen, wäre es ein Kinderbuch geworden.

In «Marmelade im Herzen» ist Tilda eine erwachsene Frau, die zurückblickt auf die Vergangenheit mit ihrem Opa und gleichzeitig Angst hat, ihr Vater Niko könne jetzt ebenfalls an Alzheimer erkrankt sein.

Im Buch wird nicht ganz deutlich, ob Niko, der erste Anzeichen von Vergesslichkeit zeigt, an Alzheimer erkrankt ist. Man hat beim Lesen das Gefühl, dass ein Damoklesschwert über ihm schwebt.

Das ist richtig. Es gibt eine Szene, in der Niko sein Sakko nicht mehr findet. Später entdeckt er den Zettel von der Reinigung und erinnert sich, dass er das Sakko dort abgegeben hat. Man kann diese Szene in beide Richtungen auslegen: Vergesslichkeit des Alters oder beginnender Alzheimer. Ich habe das bewusst offengelassen.

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Ihr eigener Vater war Mitte 50, als er an Alzheimer erkrankte, Ihre Erfahrungen sind in den Film und das Buch eingeflossen. War die Diagnose bei ihm von Anfang an klar?

Nein, die Krankheit hat sich langsam eingeschlichen, auffällig waren zunächst vor allem ein paar kleine Gedächtnislücken und Wortfindungsstörungen. Die wirkliche Diagnose kam erst ein paar Jahre später. Ich war Mitte 20, als er krank wurde, und wollte es zunächst nicht wahrhaben, dass er Alzheimer haben könnte. Ich habe schliesslich darauf gedrängt, dass er zur Gedächtnissprechstunde geht.

Mein Vater hat auf den Arzt zunächst einen guten Eindruck gemacht, konnte ihm sogar vorspielen, alles sei einigermassen in Ordnung.

Nach genaueren Untersuchungen war die Diagnose aber klar. Den Moment werde ich nie vergessen, das war schrecklich. Auch deshalb, weil mein Vater neben mir und meiner Mutter sass. Er hat insgesamt zehn Jahre mit der Krankheit gelebt, bis er 2012 starb.

Quelle Youtube

Sie war sehr stark und hat ihn bis zum Schluss gepflegt. Aber es hat sie viel Kraft gekostet, sie machte praktisch einen 24-Stunden-Job. Nachts stand er ständig auf, zog sich an und wieder aus. In der letzten Phase seiner Krankheit wurde er manchmal aggressiv. Natürlich war sie auch mal wütend und frustriert.

Konnten Sie Ihre Mutter ein Stück weit entlasten?

Einmal musste meine Mutter ins Krankenhaus, und ich sollte in der Zeit auf Papa aufpassen. Ich habe dann meine Kinder gebeten, dazu zu kommen und bei Opa zu schlafen. Als sie bei ihm waren, wurde er plötzlich viel aktiver. Er hat sogar Frühstück gemacht und Kaffee gekocht.

Zwar hat er den Kaffee dann vermasselt, aber er hat es immerhin versucht.

Vorher hatte er so etwas überhaupt nicht mehr gemacht, weil meine Mutter alles übernommen hatte.

Wie ist Ihr Vater mit seiner Krankheit umgegangen?

Natürlich war es schlimm für ihn zu merken, dass er vieles nicht mehr konnte. Er war immer sehr zupackend gewesen, hatte vor allem beruflich im Mittelpunkt gestanden. Aber er war ein sehr humorvoller Mensch, so wie Amandus im Film. Jemand, der Ängste und überhaupt Gefühle mit Humor überspielt. Auch während der Krankheit hat er sich seinen Humor lange bewahrt…

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Der Film «What They Had» erzählt die Geschichte einer Demenzerkrankung in der Familie Everhardt. Er tut es auf versöhnliche und äusserst kunstvolle Weise. weiterlesen

… und der Familie die Situation dadurch leichter gemacht.

Genau. Manche Veränderungen an ihm fand ich sogar positiv. Vor seiner Krankheit hatte er immer feste Regeln gehabt: Von 12 bis 14 Uhr ist Mittagspause, um 20 Uhr sind die Fernsehnachrichten. Oder: Man stört nicht unangemeldet andere Leute. Als er krank wurde, hat sich das total geändert. Er kam einfach spontan zu uns ins Ferienhaus, das wir in der Nähe meiner Eltern gemietet hatten.

Er fühlte sich wohl bei uns, feste Regeln galten nicht mehr.

Ich habe ihn teilweise wärmer erlebt als früher. Ich habe ihn häufiger in den Arm nehmen können – es war schön, so miteinander zu sein.

Der Hirnforscher Gerald Hüther schreibt in seinem viel diskutierten Buch «Raus aus der Demenz-Falle!», dass ein aktiver Lebensstil, das Gefühl, gebraucht zu werden, die beste Prävention gegen die Krankheit ist. Wie weit haben Sie sich mit seinen Ideen auseinandergesetzt?

Til Schweiger und ich haben Gerald Hüther sogar persönlich gesprochen, als wir für den Film recherchierten. Ich finde Hüthers Theorie sehr einleuchtend, und deshalb ist sie auch in den Film eingeflossen. Amandus war einmal ein angesehener Landarzt gewesen. Als er schliesslich nicht mehr praktizieren konnte, hat er sehr darunter gelitten, keine Aufgabe mehr zu haben.

Neu erschienen: Hilly Martineks Buch.Bild PD

Hat Ihr Vater ähnliche Erfahrungen gemacht?

Er war lange Samtgemeindedirektor gewesen, stellte bei uns auf dem Dorf also etwas dar. Er musste dann seinen Beruf aufgeben, weil er zwei Herzoperationen hatte. Ausserdem hat er deutlich zu viel getrunken und musste auch auf den Alkohol verzichten.

Um überhaupt noch etwas zu machen, hat er mit dem Pferdewagen Touristen durch das Watt kutschiert. Das hat ihm Spass gemacht, trotzdem war es sicherlich ein riesiger Bedeutungsverlust für ihn.

Konnte er noch ins Watt fahren, als er krank wurde?

Das ging, weil die anderen Kutscher sich ganz toll um ihn gekümmert haben. Sie wussten, dass er krank war, und haben ihn in ihre Mitte genommen, um ihn zu schützen. Irgendwann ging es dann aber nicht mehr.

Ein grosses Thema im Film und im Buch ist die Frage, ob und wann Menschen mit Demenz ins Heim kommen sollten. Was ist Ihre Meinung?

Es gibt eine wichtige Szene im Film, in der der Arzt sagt, man könne im Grunde nichts falsch machen. Es ist weder falsch, einen Patienten ins Heim zu geben, noch ist es falsch, ihn zu Hause zu behalten. Jeder muss das für sich entscheiden. Meine Mutter wollte meinen Vater nicht weggeben, weil sie Angst hatte, er würde es nicht verkraften, wenn ihm sein Zuhause genommen wird.

Eine Freundin von mir lebt mit ihren dementen Eltern in einem Haus. Ich habe ihr Mut gemacht und gesagt, dass sie die Pflege nicht allein bewältigen muss. Sie hat jetzt eine gute Lösung mit mehreren Pflegekräften gefunden.

Emma Schweiger, Till Schweiger und Didi Hallervorden in «Honig im Kopf».Bild PD

In Ihrem Buch deutet sich die Perspektive an, dass Niko, sollte er wirklich krank sein, später in ein Mehrgenerationenhaus einzieht und dort von den Bewohnern mit betreut wird.

Auch das könnte ein Modell der Zukunft sein. Ich möchte den pflegenden Angehörigen zeigen, dass ganz unterschiedliche Lösungen denkbar sind. Viele erkranken irgendwann selbst, weil sie die Belastung nicht mehr aushalten. Soweit sollte es möglichst nicht kommen.

Ist das Thema Alzheimer nach wie vor tabuisiert, weil die Menschen – häufig auch die Angehörigen – nicht offen darüber reden?

Auf jeden Fall. Als mein Vater krank wurde, kamen immer weniger Leute vorbei, sie hatten Berührungsängste. Früher hatten Nachbarn und Freunde einfach geklingelt, das war auf dem Dorf so üblich. Insofern war die Pflege für meine Mutter auch mit Einsamkeit verbunden.

Meinen Sie, «Honig im Kopf» und jetzt das Buch können helfen, Tabus abzubauen?

Ich hoffe es. Als der Film herauskam, habe ich auf der Strasse, auf Partys über nichts anderes mehr geredet als über Demenz. Mir wurde ständig gesagt, wie gut es ist, dass wir das Thema so offen behandelt habe. Jeder, mit dem ich sprach, hatte jemanden in der Familie oder im Freundeskreis, der erkrankt war. 

Aber wo sind diese Menschen denn alle? Werden die versteckt?

Demenz gehört zu unserer Gesellschaft und ist ein Stück Normalität geworden. Deshalb muss man auch offen darüber sprechen können. Viele Menschen haben Angst vor der Krankheit, weil sie schleichend verläuft, das Gehirn immer mehr zerstört. Aber je mehr wir darüber reden, umso mehr verlieren wir unsere Ängste.

Der Film hat viele komödiantische Elemente, die auch im Buch aufgenommen werden. Darf man die Krankheit mit Humor behandeln?

Klar. Es ist ja oft komisch, was Menschen mit Demenz machen oder erzählen. Mein Vater hat plötzlich Pferde in den Bäumen gesehen oder eine ganze Armee bei uns im Hof. Wir haben darüber gelacht, auch mit ihm zusammen, das war für uns alle eine Erleichterung – vor allem auch für meine Kinder. Ich bin froh, wenn Komik helfen kann, Ängste abzubauen.


Hilly Martinek wurde 1977 in Cuxhaven geboren. 2002 begann sie zusammen mit ihrem Mann Krystian, Drehbücher für das Fernsehen zu schreiben (z. B. die Reihe «Traumhotel»). Mit dem Schauspieler Til Schweiger verfasste sie das Drehbuch für den Kinofilm «Honig im Kopf» (2014), der von Millionen Zuschauern gesehen wurde, «Marmelade im Herzen» ist ihr erster Roman (320 Seiten, Penguin Verlag). Hilly Martinek lebt mit ihrer Familie in Hamburg.