Ein Antidepressivum gegen das Altern - demenzjournal.com

Kinotipp

Ein Antidepressivum gegen das Altern

Harry Dean Stanton hat in «Lucky» seinen letzten Auftritt. Bild PD

Der Film «Lucky» ist eine wunderbare Hommage an den berühmtesten unbekannten Schauspieler Hollywoods. Und er ist eine empfehlenswerte Therapie für Menschen, die sich vor dem Altern fürchten.

Eine Schildkröte durchquert staksigen Schrittes eine Kakteenwüste im Südwesten der USA. Derweil wacht der alte Lucky auf, dessen Hals so runzlig ist wie jener der Schildkröte. Im Bett zündet er eine Zigarette an. Dann macht er – noch ungekämmt und in Unterwäsche – Yogaübungen.

Später panzert er seinen dürren Körper mit Jeans, Cowboystiefeln, Lederjacke und Hut und geht staksigen Schrittes ins Dorf. Dort trinkt er Kaffee mit viel Milch und Zucker, löst Kreuzworträtsel und kauft Zigaretten. Nachmittags schaut er Quiz-Sendungen, löst Kreuzworträtsel oder verrichtet Gartenarbeit. Abends geht er in eine Bar und trinkt Bloody Marys.

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Jeder kennt sein Gesicht, aber kaum jemand seinen Namen: Harry Dean Stanton war der berühmteste nicht berühmte Schauspieler Hollywoods. Er war seit den 1950-Jahren in über 70 Nebenrollen zu sehen. Er spielte unter anderem in Klassikern wie «Der falsche Mann» (Regie: Alfred Hitchcock), in «Der Pate – Teil 2» (Francis Ford Coppola), «Wild at Heart» (David Lynch) und «Fear and Loathing in Las Vegas» (Terry Gilliam).

Eine Hollywood-Regel besagt, ein Film könne nicht schlecht sein, wenn Stanton mitspielt.

Der dünne Mann mit der langen Nase und den grossen Ohren starb im September 2017 im Alter von 91 Jahren. Ein Jahr vor seinem Tod hatten einige seiner Weggefährten zusammengefunden und ihm eine seiner wenigen Hauptrollen auf den Leib geschrieben.

Auch ein Kaktus braucht mal Wasser.Bild PD

Vieles ist autobiografisch im Film «Lucky». Zum Beispiel Stantons Spitzname, den er seinem Glück im zweiten Weltkrieg verdankt. Stanton leiste im Pazifik Dienst für die Navy. Als Schiffskoch musste er nie ins Gefecht. Über 70 Jahre später trifft er im Coffee Shop des Wüstenkaffs einen Veteranen. Dieser erzählt ihm, welch schreckliche Erfahrungen und Bilder ihm erspart geblieben sind.

Zigaretten und Alkohol waren Stanton wie auch die Filmfigur Lucky zugeneigt. Als skurriler Musiker überzeugte Stanton im richtigen Leben wie im Film. Ob Stanton auch Kreuzworträtsel gelöst hat, wissen wir nicht. Im Film sind die in den Rätseln gefragten Begriffe Auslöser von philosophischen Diskursen. Gleichzeitig künden sie den weiteren Verlauf von Luckys Geschichte an.

Die eingangs zu sehende Schildkröte dient als Metapher zur Figur Lucky und zu ihrem Darsteller. Sie ist – so stellt sich heraus – Luckys Freund Howard (gespielt von David Lynch) entlaufen. Laut Howard soll sie hundert Jahre alt sein und ihren Ausbruch geplant haben. Er sagt, sie sei ein bewundernswertes Geschöpf, das Liebe und Respekt verdiene. Seit ihrem Ausbruch kriecht sie demütig, anspruchslos und beinahe unbemerkt durch die Kakteenwüste. So wie Stanton durch die Filme Hollywoods geisterte.

Quelle Youtube

Nach einem Schwächeanfall und einer medizinischen Untersuchung gerät Luckys Gefühlswelt in Schieflage. Der Arzt attestiert ihm erstaunlich gute Gesundheit, sagt aber, dass er damit rechnen müsse, bald zu sterben. Dies beunruhigt und verängstigt den alten Mann. Die Hilfe einer Haushälterin und Pflegerin will er aber nicht. Als dennoch eine junge Frau bei ihm aufkreuzt, setzen sich die beiden vor den Fernseher und rauchen Joints.

Nachdem ihm die Wirtin der Bar das Rauchen untersagt hat, hält Atheist Lucky einen philosophischen Vortrag. «Eigentum ist Trugschluss», sagt er unter anderem. Er begegne seiner Vergänglichkeit und seinem baldigen Verschwinden mit einem Lächeln, sagt er und zündet – in der Bar – eine Zigarette an.

Der Film «Lucky» ist eine wunderbare Hommage an einen grossen Schauspieler. Und er ist ein empfehlenswertes Antidepressivum für Menschen, die sich vor dem Altern fürchten.


Lucky (USA 2017), Regie John Carroll Lynch, mit Harry Dean Stanton, David Lynch.