Stille Nacht, traurige Nacht - demenzjournal.com

Aus der Sicht einer Betroffenen (Teil 4)

Stille Nacht, traurige Nacht

alzheimer.ch berichtet regelmässig über die an einer Demenz erkrankten Frau D. Seit einem schweren Sturz und einer Operation an der Galle ist die 86-Jährige schwer krank und bettlägerig.

Was bisher geschah

2009 vergass die damals 80-jährige Frau D. ihr Passwort für den Bancomaten. Was auch jüngeren und gesunden Menschen passiert, war das erste Symptom einer beginnenden Demenz. Zunehmend begannen sich Angehörige und Bekannte um die Frau zu kümmern, die seit vielen Jahren im Rapperswiler Südquartier lebt. 2012 wirkte die einst so lebenslustige und kontaktfreudige Frau zunehmend bedrückt und schwach. Ihre Kinder sorgten nun dafür, dass Frau D. oft besucht wurde und dass der Kühlschrank gut gefüllt war. Nach einer Abklärung beim Hausarzt und einer Beratung durch Fachleute wurden weitere Unterstützungsmassnahmen in die Wege geleitet. Bald beanspruchte Frau D. täglich den Mahlzeitendienst und zweimal täglich die Spitex. Seit dem Sommer 2014 weilte sie mehrmals wöchentlich in einer Tagesklinik für Menschen mit Demenz. Als Folge eines Schwächeanfalls wurden im Sommer die Medikamente neu eingestellt. Mit Erfolg: Frau D. durfte nochmals eine von vielen Aktivitäten und Begegnungen erfüllte Zeit erleben. Sie ging wieder allein spazieren und wirkte zufrieden und gesund. Leider endete diese gute Phase jäh mit dem Sturz vor der Haustür und den darauf folgenden gesundheitlichen Problemen.

Frau D. liegt jetzt in einem Alters- und Pflegeheim. Sie reagiert kaum mehr auf Begegnungen mit Menschen oder auf andere Anregungen. Meist sind ihre Augen zur Decke gerichtet. Dann und wann hält sie für einen Moment den Blick eines Besuchers, doch auch in diesen Momenten zeigt sich auf dem Gesicht der einst so lebensfrohen Frau keine Regung.

Weil Frau D. nicht mehr schlucken kann, haben ihr die Ärzte eine Magensonde gelegt. Nun ragt ein Schlauch aus ihrer Nase, über den sie mehrmals täglich mit flüssiger Nahrung versorgt wird. Frau D. und ihre grosse Familie verbringen eine Weihnachtszeit, wie man sie niemandem wünscht. «Ich glaube nicht daran, dass sie nochmals richtig erwachen wird», sagt ihr Sohn. «Ich gehe davon aus, dass ich sie als Mutter verloren habe.»

Dass sich Frau D.s Zustand so schnell und so stark verschlechtern würde, hätte vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten. In der Regel geht der Abbau der körperlichen und geistigen Fähigkeiten bei einer Demenz langsamer und in kleineren Schritten vonstatten. Noch im Oktober hatte Frau D. von ihrer Wohnung im Rapperswiler Südquartier aus Spaziergänge unternommen. Vielen alltäglichen Pflichten konnte sie schon damals nicht mehr nachkommen.

Doch Angehörige, Spitex, Mahlzeitendienst und Aufenthalte in einer Tagesklinik sorgten dafür, dass sie trotz grosser Gedächtnislücken weiterhin zu Hause leben konnte. 

Frau D. war sich ihrer Defizite bewusst. Schon im September hatte sie ihren Angehörigen mitgeteilt, dass es nun Zeit wäre, in ein Altersheim überzusiedeln. Sie fühle sich mit dem Haushalt und der Wohnung überfordert, sagte sie.

Also informierte sich ihre Tochter über die Heime in der Region. Zuerst wurden die beiden Heime an ihrem Wohnort in Betracht gezogen. Doch das eine davon war nicht eingerichtet für Menschen mit Demenz. Und für jenes mit einer Demenz-Station konnte sich Frau D. nicht erwärmen.

Ein paar Kilometer entfernt von Rapperswil-Jona wurde schliesslich ein geeignetes Heim mit grosser Demenzstation gefunden. «Das mit den farbigen Wänden und den grossen Fenstern» gefalle ihr, dort wolle sie hin, sagte sie nach einem Besuch. 

Bild Uli Reinhardt

Ende Oktober trafen sich Frau D. und ihre vier Kinder zum Familienrat. Man war sich schnell einig, ihren Wunsch zu erfüllen und sie auf die Warteliste des besagten Heims zu setzen. Noch vor Weihnachten sollte Frau D. umziehen, lautete der Plan.

Mitte November – Frau D. kam gerade von einem Aufenthalt in der Tagesklinik nach Hause – stürzte sie auf der Treppe vor ihrer Haustür. Eine Ambulanz brachte die 86-jährige ins Spital, wo ein Knochenriss am Schambein diagnostiziert wurde. Die sehr schmerzhafte Verletzung erfordert eine mehrwöchige Ruhezeit und viel Betreuung.

Bei Menschen mit Demenz besteht zudem die Gefahr, dass sie derartige Gebrechen immer wieder vergessen und sich zu viel bewegen – was die Schmerzen verstärkt und die Heilung verzögert. Innert zweier Tage musste nun ein Platz in einem Heim gefunden werden – doch in jenem, wo Frau D. hinwollte, gab es kein freies Bett.

Sehr viele Gallensteine

Frau D. kam in ein Heim im Zürcher Oberland, wo sie anfangs guten Mutes war, bald wieder gesund zu werden. Nach einer Woche litt sie jedoch an starken Bauchschmerzen. Wieder brachte eine Ambulanz die Dame ins Spital. Dort stellten die Ärzte fest, dass die Gallenblase voller Steine war. Normalerweise werden solche Steine laparoskopisch entfernt.

Bei dieser Methode der Schlüsselloch-Chirurgie werden die Steine mit einer Sonde, die durch Mund, Speiseröhre und Magen geführt wird, entfernt. Doch die Ärzte rieten davon ab. Die Steine in der Galle waren so zahlreich, dass in Abständen von drei Tagen vier bis sechs Eingriffe nötig gewesen wären. Dies könne man einem alten, gebrechlich gewordenen Menschen kaum zumuten, sagten die Ärzte.

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Frau D.s Kinder hatten nun schwierige Entscheidungen zu treffen. Ihre Mutter war in Folge der starken Schmerzmittel apathisch. Sie war nicht mehr in der Lage, ihren Willen zu äussern. Die Entfernung der Gallenblase ist ein schwerer Eingriff und birgt bei alten Menschen grosse Risiken. «Schmerzfrei zu sein ist das höchste Gut», sagt der Sohn.

«Es war klar, dass meine Mutter unter diesen Umständen keine Lebensqualität mehr haben konnte. Für uns stellte sich nur noch die Frage, in welchem Spital die Operation durchgeführt werden sollte.»

In der ersten Adventwoche wurde Frau D. drei Stunden lang operiert. Es sei alles gut gelaufen, liess der Arzt die Angehörigen kurz nach dem Eingriff wissen. Frau D. wachte langsam aus der Narkose auf, nach und nach kam sie wieder zu Kräften, war aber weiterhin bettlägerig.

Sechs Tage nach der Operation stellte sich eine massive Verschlechterung ihres Zustands ein. Frau D. konnte nicht mehr sprechen und wirkte abwesend. Eine MRI-Untersuchung offenbarte etliche Blutgerinnsel in ihrem Gehirn. Dadurch und in Folge der Demenz ist ihre Hirnleistung bis heute stark reduziert.

Sie kann nicht mehr sprechen und reagiert wie eingangs berichtet nicht mehr auf Anregungen. In dieser Situation steht die palliative und Leiden lindernde Pflege und Betreuung im Mittelpunkt.

Zur schweren emotionalen Belastung der Angehörigen gesellen sich handfeste rationale Herausforderungen: Die Wohnung im Südquartier muss bis Ende Januar geräumt sein. Und der Heimplatz, der bei hoher Pflegebedürftigkeit monatlich rund 10 000 Franken kostet, muss bezahlt werden.

Immerhin können Frau D.s Kinder Hilfe in Anspruch nehmen. Zum Beispiel von der Finanzberaterin der Pro Senecute, die dem Sohn aufzeigte, wie er die staatlichen Hilflosenentschädigungen und Ergänzungsleistungen beantragen kann.     

Frau D. und ihre Familie erleben in diesen Festtagen eine schwierige und traurige Zeit. Mehrmals braucht der Sohn das Wort «beelendend», wenn er vom Zustand seiner Mutter spricht. Zum Beispiel wenn es um die Körperpflege oder die «Umlagerung» geht, die bei bettlägerigen Menschen nötig ist, damit der Körper nicht wundliegt.

«Vielleicht kann sie sich im Heim wieder etwas erholen», sagt er. Und dann spricht er aus, was er eigentlich gar nicht aussprechen will: «Unsere Kinder sagen, es wäre schön, wenn das Grossmami bald für immer einschlafen könnte.» 

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