«So zu tun, als wäre ich normal, ist meine Art, mein Leiden zu ignorieren, es von oben herab zu behandeln. Aber es ist auch meine Art, diese gewisse Schmach zu verbergen, als die ich es unwillkürlich empfinde. Anfangs merkte niemand etwas.» (Auszug aus dem Buch)

alzheimer.ch: Frau Remy, Ihr Buch ist ein ungewöhnliches Projekt: Eine Alzheimer-Patientin und eine Journalistin erarbeiten gemeinsam einen Text. Wie kann man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?

Jaqueline Remy: Wir haben 2017 sieben Monate lang Gespräche geführt, uns einmal oder zweimal die Woche getroffen. Ich habe die Gespräche auf Band aufgenommen und dann abgeschrieben und redigiert. Ich wollte insgesamt nicht zu viel Zeit vergehen lassen, weil ich Angst hatte, dass es Eveleen zunehmend schlechter gehen würde.

Eveleen Valadon

Eveleen Valadon ist Französin mit britisch-irischen Wurzeln, war verheiratet und hat drei Kinder. Sie leitete eine Presseagentur in Paris, unterrichtete Englisch und ist eine vielfach ausgestellte Malerin. In ihrem persönlichen und eindringlichen Buch «Meine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge» erzählt sie begleitet von der Journalistin Jacqueline Remy von ihrem Leben mit Alzheimer.

Wie haben Sie sich in der Rolle der Co-Autorin gefühlt?

Eveleen kann selbst nicht mehr schreiben, insofern habe ich eine starke Verantwortung empfunden. Ich war beherrscht von dem Gedanken, sie auf keinen Fall verraten zu wollen, indem ich zu viel oder zu wenig sage. Deshalb war es mir auch wichtig, dass ihre Kinder das Buch lesen und mir grünes Licht geben.

Wie weit konnte sich Frau Valadon auf das Projekt einlassen?

Das war ganz unterschiedlich. Durch unsere Arbeit, durch meine Fragen, hat sie sich intensiv mit ihrer Krankheit beschäftigt, ist darin förmlich eingetaucht. Plötzlich hat ihr das Angst gemacht, und sie liess mir durch ihre Tochter ausrichten, das Buch nicht fortsetzen zu wollen.

Wir haben dann tatsächlich aufgehört, und ich habe auch nicht versucht sie zu überreden, sondern ihre Angst respektiert.

Später hat sie mich angerufen und sich entschuldigt, sie wolle die Arbeit doch fortsetzen. Im Grunde war sie nämlich stolz darauf, das Buch mit mir zu machen.

Das Buch ist jetzt auf deutsch erschienen.Bild PD

Glauben Sie, hat ihr das Buch letztlich geholfen, die Krankheit besser anzunehmen?

Ja. Das Buch hat ihr die Würde zurückgegeben und ihr ermöglicht, offen über ihre Krankheit zu sprechen, sich nicht mehr schämen zu müssen. Vor dieser Arbeit hatte sie grosse Probleme, einigen ihrer Freundinnen die Wahrheit zu sagen.

Sie hat sehr darunter gelitten, wenn sie etwas vergass; Dokumente zum Beispiel, ihr Portemonnaie, im Café oder im Krankenhaus. Im Bus ist sie einmal sogar bestohlen worden, das hat sie sehr mitgenommen.

Der Schmerz darüber war vor allem psychologisch, sie fühlte sich gedemütigt, die Krankheit machte ihr Komplexe, wie sie sagte.

Eveleen ist ein geistig reger Mensch mit ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten. Half ihr das, die Krankheit besser zu verarbeiten?

Für Eveleen ist es sicher schwerer als für andere, über bestimmte Fähigkeiten nicht mehr zu verfügen, das betrifft besonders das Lesen und Schreiben.

Als wir uns kennen lernten, versuchte sie, das vor mir zu verstecken, weil sie sich vermindert und erniedrigt fühlte.

Ich habe sie als sehr hellsichtig in Bezug auf die eigene Krankheit erlebt, sie fühlte sich oft verloren und war sich dessen bewusst – genau darunter hat sie gelitten.

«Mein Leben besteht darin, meinem Gedächtnis nachzulaufen. Die Worte entziehen sich mir, meine Erinnerungen verflüchtigen sich, und ich renne, um sie wieder einzuholen.» (Auszug aus dem Buch)

Ist sie ein optimistischer Mensch, trotz ihrer Krankheit?

Eveleen hat Humor und eine gewisse Leichtigkeit, aber ich empfinde sie nicht als optimistische Person. Sie versucht Haltung und Würde zu bewahren. Das hilft ihr, den Kampf aufzunehmen ­– sie begegnet ihrer Krankheit wie einem Kampf.

Sie ist nicht jemand, die jammert oder erduldet, und wenn, dann nur selten. Eveleen kämpft mit den Waffen, an die sie glaubt: Sie schläft so viel wie möglich, sie hört Musik. Sie ist überzeugt, dass das hilft den Krankheitsverlauf zumindest zu verlangsamen. Im Übrigen ist sie ein sehr angenehmer Mensch, nur eben ein bisschen verwirrt.

«Der Nebel ergreift Besitz von meinem Geist. Die ganze Zeit laufe ich meinen Schmetterlingen hinterher. Das klingt hübsch und poetisch, aber in Wahrheit ist es sehr hart. Früher hatte ich eine Art Stolz, der mich dazu bewog zu schweigen. Aber das isoliert mich auch von den anderen. Ich habe mich selbst von vielen Menschen abgeschnitten.» (Auszug aus dem Buch)

Was hat Sie bei ihr besonders angerührt?

Da gab es verschiedene Situationen. Ich war zum Beispiel sehr bewegt, als sie mich anrief, um mir zu sagen, dass sie nun doch mit mir an dem Buch weiterarbeiten möchte.

Ich war auch gerührt, als sie eines Tages ihre Hemmungen überwand und mir gestand: «Wenn ich abends meinen Kühlschrank öffne, begreife ich nicht, was ich da vor mir sehe. Ich bin verloren.» Das war ein schreckliches Geständnis, das mir die Tränen in die Augen trieb.

Eveleen Valadon ist immer sehr gern zur Kunsttherapie gegangen. Wie weit kann Kreativität helfen, das Leid besser zu ertragen?

Ich glaube, dass solche Therapien sehr hilfreich sind, denn für die Kranken bedeuten sie Orientierungspunkte. Sie helfen ihnen, das auszudrücken, was sie im Grunde ihres Herzens bewegt. In Eveleens Wohnung hängen überall Bilder, die sie früher einmal gemacht hat. Leider kann sie jetzt nicht mehr malen.

«Man muss sich um den Kranken kümmern, weil er ein bisschen wie ein Kind ist, man darf ihn aber nicht wie ein Kind behandeln, denn das wäre verletzend. Es braucht viel, viel, viel Geduld.» (Auszug aus dem Buch)

Was können andere Alzheimer-Patienten von Eveleen Valadon lernen?

Sie können hoffentlich lernen, dass man zwar krank und um einen Teil seines Gedächtnisses beraubt sein kann, aber gleichzeitig auch darüber sprechen und andere teilhaben lassen kann.

Das Buch kann anderen Mut machen, offen mit ihrer Krankheit umzugehen. Statt so zu tun als ob, also eine Normalität vortäuschen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Auch für die Angehörigen kann diese Offenheit hilfreich sein.

Was können Angehörige noch von Eveleen Valadon lernen?

Sie lernen, dass es sehr wichtig ist, den erkrankten Menschen zu unterstützen, ihn aufzufangen, ihm Zeit zu widmen, sofern sie das ermöglichen können. Menschen mit Demenz wollen ernst genommen werden, sie wollen weder wie Objekte, noch wie Kinder behandelt werden.

Für Eveleen war es immer wichtig, dass sie gut aufgefangen ist, von ihren Kindern, die sie lieben, von ihrem aufmerksamen Ex-Mann, ihrer Logopädin, der Kunsttherapie.

«Wenn mir der Mut sinkt, denke ich an die Menschen, die verzweifelte Situationen durchleben, wie die Flüchtlinge oder diese Urlauber, die kürzlich unter eine Lawine gerieten. Dieser Gedanke, solidarisch zu bleiben, sich das Mitgefühl für den Nächsten zu bewahren, geht mir immer durch den Kopf, ich kann mich nicht beklagen. Ja, ich habe Glück. Vor allem habe ich das Glück, ein Buch über meine Krankheit zu schreiben. Dieses Angebot war wie ein Geschenk für mich, trotz aller Anstrengungen, die diese Arbeit mir abverlangt.» (Auszug aus dem Buch)

Hat sich ihr eigenes Bild von der Alzheimer-Krankheit durch die Gespräche mit Eveleen verändert?

Ich hatte sicherlich eine festgefahrene Vorstellung von Menschen mit Demenz, die komplett ihr Gedächtnis verlieren, aggressiv sind und ihre Nächsten verbal angreifen. Das ist ein reduziertes, ungerechtes Bild, das auf die Endphase der Krankheit zutreffen mag, aber auch nicht für alle Patienten gilt. Viele von ihnen sind bis zum Schluss sehr liebenswürdig.

In meiner Familie gab es jemanden, der an Alzheimer erkrankt war. Allerdings versuchte er, seine Krankheit zu verbergen, und später war es dann zu spät, mit ihm darüber zu sprechen, er erkannte mich nicht mehr.

«Es gibt keine körperlichen Symptome wie Husten oder Kopfschmerzen. Man sieht nichts. Es ist wie eine Entgleisung, aber eine, die man bewusst erlebt. Man sieht sich dahintreiben. Man ist ich und eine andere. Es gleicht einer Verdoppelung der Persönlichkeit.» (Auszug aus dem Buch)

Haben Sie in den Gesprächen mit Eveleen manchmal Probleme gehabt, geduldig zu bleiben, wenn sie sich häufig wiederholte?

Eigentlich nicht. Natürlich hat sie manchmal zehnmal dieselbe Anekdote erzählt. Wir hatten aber vorher ausgemacht, dass ich ihr das auch sagen soll. Sie wirkte dann erstaunt, lächelte und entschuldigte sich mit ihrem Mantra: 

«Meine Gedanken sind wirklich Schmetterlinge!» Meine Offenheit beruhigte sie, weil sie sich respektiert fühlte.

Video: «Mes pensées sont des papillons», mit Jaqueline Remy 

Quelle Radio RCJ/YouTube