… mitten im Satz ist plötzlich alles weg - demenzjournal.com

Gipfeltreffen

… mitten im Satz ist plötzlich alles weg

«Statt mich auf den Weg zu machen, frage ich mich, ob ich es überhaupt wagen kann, weil ich Angst habe, mich zu verlieren … Weisst du, wenn ich nichts mehr allein machen kann, dann bin ich gefangen, total abhängig.» Bild PD

Gipfeltreffen sind Aktivierungs- und Gesprächsgruppen für Menschen mit Demenz. Ingrid ist Teil einer dieser Schicksalsgemeinschaften, die sich wöchentlich bei einer Therapeutin trifft. Im Interview spricht Ingrid über die Krankheit und ihre Ängste.

Die Therapeutin stellt mich der Gruppe vor und erzählt von meinem Wunsch, mit jemandem aus der Runde ein Interview zu machen. «Wer hätte Lust, mit Marcus zu plaudern?»

Ingrid fällt mir sofort auf. Sie wirkt lebendig, ihr ansteckendes, raues Lachen passt nicht zu ihrer zierlichen, attraktiven Erscheinung. Die 60-Jährige wurde vor drei Jahren mit der Diagnose Demenz konfrontiert.

Ich war bereits vor einer Woche hier, um die Details eines möglichen Gesprächs mit der Therapeutin zu klären; auch da hatte sich Ingrid spontan gemeldet, woran sie sich heute aber nicht mehr erinnert.

Wir ziehen uns in die Küche der Praxis zurück, trinken ein Glas Wasser und beschliessen, uns zu duzen.

alzheimer.ch: Wie geht es dir?

Ingrid: Eigentlich ganz gut, ich bin etwas nervös.

Mache ich dir Angst?

(Sie schüttelt den Kopf und lacht.) Das sehen wir dann … Mal schauen, ob das ein Krimi wird …

Ich bin auch nervös. Was macht eure Gruppe heute?

Im Moment schlafen einige, es ist Mittagspause, andere machen ein Spiel oder schauen sich Hefte an – so wie ich vorhin.

Wo wohnst du?

(Sie überlegt lange.) … nicht weit von hier.

Wie steht es mit deinem Gedächtnis?

(Sie zögert, es arbeitet in ihr.) Es kommt darauf an. Wenn ich im Stress bin, geht es nicht so gut. Dann muss ich mir selbst sagen: nur alles mit der Ruhe. … 

Ich will alles immer perfekt machen, und wenn es dann gerade nicht so läuft, werde ich etwas lö-lö-lö … 

(Sie greift sich an den Kopf und macht eine schüttelnde Handbewegung.) Dann sage ich mir: runterfahren, ruhig werden.

Funktioniert das?

Mhhm. (Sie nickt und flüstert.) Ich sehe es auf weite Sicht hinaus … (Sie wird lauter.) Meine Augen sind schlecht, ich habe alle Brillen ausprobiert, da hilft nichts. Mir kommen immer wieder die Tränen.  … Zum Glück besucht mich ­meine Schwester.

Wir unternehmen etwas zusammen, gehen fort , … weisst du, es kommt darauf an, wer mein Gegenüber ist. Mit ihr kann ich über alles reden. Sie nimmt mich so, wie ich bin, und fragt nicht ständig «Warum siehst du dies oder jenes nicht … ». … So etwas will ich nicht.

Wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt mit dir?

Ich bin einmal in den falschen Zug eingestiegen, in eine andere Richtung gefahren … Ich weiss nur noch «Altdorf». Diese Aussetzer begannen sich zu häufen. Ich glaube, es war meine Tochter, sie hat es auch bemerkt.

Ich ging zum Arzt, weil mir auch schwindlig war. Sie haben alles an mir untersucht … (Ihre Gedanken scheinen abzuschweifen, dann schaut sie mich traurig an.)

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Was haben sie gefunden?

(Sie sagt lange nichts, mustert mich und sagt flüsternd):… eine Demenz. Der Anfang einer Demenz, sagten sie. (Sie wird lauter.) Aber hallo, ich bin doch noch jung, das geht doch nicht! (Sie kämpft mit den Tränen.) Das komme halt vor, sagten sie mir.

Das hat mich so sehr erschreckt. Ich sehe heute noch eine meiner Töchter vor mir, wie sie im Hintergrund weint. (Sie unterdrückt ein Schluchzen.) 

Ich habe die Welt nicht mehr verstanden: warum ich? Niemand sonst in der ­Familie ist betroffen.

Und ich habe eine grosse Familie … nur meine Mutter, sie hatte auch Probleme mit den ­Augen. (Sie schweigt lange.)

Wie hast du gelernt, damit umzugehen?

Ich mache weiter, so gut es geht. Ich war immer spontan. Wohin gehen wir? Machen wir etwas zusammen? … Heute ist das anders, ich frage mich ständig: Geht das, oder geht das nicht? Merkt sie etwas?

Oder merken die anderen etwas, wenn wir zusammensitzen? Ich fange an zu reden, und mitten im Satz ist plötzlich alles weg — das ist neu, das habe ich noch nicht lange — und dann frage ich mich … häh? … was ist jetzt wieder passiert? … Das macht mir Angst.

Versuchst du es zu verbergen?

Ja, manchmal, dann sage ich einfach nichts. Die anderen müssen das doch merken? … Gut, fröhlich sein kann ich immer noch. Aber eigentlich fehlt das jetzt.

Es behindert mich vor allem beim Schreiben, da muss ich immer nachschauen, ständig Pausen machen … wegen den Augen (sie flucht leise vor sich hin). Es sind vor allem die Augen, mit dem Körper ist sonst alles okay.

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Und dein Gedächtnis, ist das noch in Ordnung?

Ja, das Gedächtnis ist gut.

Wenn ich mit dir rede, wirkst du fröhlich und lustig … 

Das ist es eben, die anderen sagen auch: Du bist ja noch fit, du lachst, und ich denke: häh? — ich bin sehr streng mit mir. In mir drin sieht es ganz anders aus.

Lebst du in einer Beziehung?

Ja, ich lebe mit meinem Freund.

Unterstützt er dich?

Ja, er hilft mir. Am Anfang hatte er schon Mühe, das habe ich sofort gespürt. Ich liess ihn so gut es ging in Ruhe damit, ich wollte nicht … (sie verliert den Faden) … 

Wart ihr schon vor der Diagnose zusammen?

Ja, ja, und er hilft mir auch beim Putzen und Einkaufen, ­manchmal gehen wir zusammen fort. Aber mit ihm rede ich nicht über die Krankheit, das macht ihm nur Angst … Und ich fürchte mich davor, dass er mich irgendwann verlassen wird (sie kämpft mit den Tränen).

Was machst du gern?

(Ihr Gesicht hellt auf, die Freude kehrt zurück.) Tanzen! Ich habe immer gern getanzt, ich war auch auf der Bühne, und alle sagten mir, wie gut ich es mache. Und Musik! Sobald ich ein Stück höre, das mir gefällt, tanze ich.

Wohnen deine Töchter in der Nähe?

Ja, eine wohnt in Wallisellen, die andere in … (sie überlegt lange) … wo war das schon wieder? … in Gossau. (Sie flüstert.) 

Siehst du, jetzt musste ich so lange überlegen, das ist so schlimm, es kommt mir einfach nicht mehr in den Sinn …

Das hätte mir jetzt aber auch passieren können …

Meinst du? Ich bin viel zu streng mit mir. Es muss immer alles sofort kommen.

Gibt es schlechtere Tage?

Ja, klar, ich merke das an den Augen. Das kommt von der Demenz, sagen die Ärzte. Ich sehe gewisse Dinge nicht, weil die Information im Hirn nicht ankommt. Und dann ist mir schwindlig.

Und wenn es dir gut geht?

Dann gehe ich ins Jazz-Tanzen oder auf den Vita-Parcours (sie strahlt). Auch im Wald bin ich gern, mit den Bäumen und den Vögeln, da kann ich einfach für mich allein sein und die Ruhe geniessen. Dort finde ich meinen Frieden … Das weiss mein Freund nicht, für ihn gehe ich einfach in den Wald und fertig.

Hast du Angst vor dem, was auf dich zukommt?

Manchmal schon. Was soll ich machen, wenn es mir schlechter geht? Dann will ich nicht mehr hier sein, das ist beschissen …(Sie schluchzt leise, wischt eine Träne ab.)

Ich will zum Beispiel ausgehen: Statt mich auf den Weg zu machen, frage ich mich, ob ich es überhaupt wagen kann, weil ich Angst habe, mich zu verlieren … Weisst du, wenn ich nichts mehr allein machen kann, dann bin ich gefangen, total abhängig … (sie sagt lange nichts, dann schaut sie mich wieder an).

Was hilft dir, wenn die Angst zu stark wird?

Wenn ich es etwas lockerer nehmen kann, locker vom Hocker, dann geht es besser. Wenn ich angespannt bin, wird es schlimmer. Wenn ich aber laut und fröhlich sein darf und alles leichter nehme, und überhaupt: fertig, Schluss damit! sagen kann – dann gelingt es mir loszulassen; tief durchatmen (sie macht es vor), einfach loslassen.

Ich darf nicht so streng mit mir sein, wenn ich etwas nicht sehe, oder nachfragen muss.

Das spielt doch keine Rolle, weil … (sie zögert, sucht nach Worten). Es ist schwierig, denn schon rege ich mich wieder auf, weil ich ein Wort nicht mehr finde …

Unsere Zeit ist um. Ich bedanke mich bei Ingrid. Das Gipfeltreffen nebenan im grossen Raum mit dem runden Tisch ist in vollem Gang, es herrscht eine aufgeräumte Stimmung. Ich verabschiede mich und bekomme noch mit, wie Ingrid die Therapeutin fragt, wer ich sei.


Die Stiftung Sonnweid und Alzheimer Zürich unterstützen die Gipfeltreffen

Im Rahmen der Gipfeltreffen kommen Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten wöchentlich für einen Nachmittag zusammen. Begleitet von Fachpersonen diskutieren sie, tauschen sich aus, bewegen sich in der Natur, spielen, rätseln oder gehen kreativen Beschäftigungen nach. Auftakt zum Treffen ist jeweils ein gemeinsames Mittagessen.

Die Gestaltung der Stunden richtet sich nach den Interessen und Ressourcen der Teilnehmenden. Das Angebot unterstützt damit die Erhaltung der Fähigkeiten und die Stärkung des Selbstbewusstseins.

Es gibt die Gipfeltreffen an sechs Orten im Kanton Zürich. Ein Eintritt in die Gruppen ist jederzeit möglich. Die Stiftung Sonnweid und Alzheimer Zürich unterstützen die Gipfeltreffen finanziell und ideell.

→ Hier erfahren Sie mehr über die Gipfeltreffen