«Je älter man wird, desto jünger fühlt man sich» - demenzjournal.com

Altern

«Je älter man wird, desto jünger fühlt man sich»

Wer eine positive Vorstellung hat vom Altern lebt gesünder und länger. Bild unsplash Clem Onojeghuo

Altersforscherin Jana Nikitin weiss, wie wir gesund altern können. Selbsterfüllende Prophezeiungen, dass wir im Alter immer kränker und hinfälliger werden, sind sehr schädlich.

alzheimer.ch: Frau Nikitin, ist etwas an dem Vorurteil dran, dass Menschen im Alter grantiger werden und in Ruhe gelassen werden wollen?

Jana Nikitin: Es gibt keine empirischen Hinweise, dass Grantigkeit mit dem Alter zunimmt. Die Persönlichkeit wird im höheren Alter eher reifer, das heisst die emotionale Stabilität wächst, die Menschen sind verträglicher und haben ein grösseres Vertrauen in andere.

Allerdings gilt das nicht für das hohe Alter, in dem das Wohlbefinden tendenziell sinkt. Die Menschen sind oft gebrechlich und erschöpft, leiden unter Verlusten von Partnern und Freunden, müssen sich mit dem nahen Tod auseinandersetzen. Das heisst aber nicht, dass sie automatisch grantiger werden.

Woran liegt es, dass Menschen in der Phase des frühen Alters ausgeglichener werden?

Sie wissen, dass ihre verbleibende Zeit kürzer wird, dadurch schauen sie vermehrt darauf, wie sie ihre Zeit sinnvoll ausfüllen. Das führt zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das Positive. Sie möchten sich hier und jetzt wohl fühlen und tun alles dafür.

Mehrere Studien zeigen, dass ältere Menschen positive Informationen stärker registrieren und erinnern als Jüngere und tendenziell negative Informationen weniger stark wahrnehmen.

Ein gesunder Pragmatismus?

Das kann man durchaus so nennen. Dazu gehört auch, dass Ältere aufgrund ihrer Lebenserfahrung differenziertere Strategien haben, mit schwierigen Situationen umzugehen. Sie haben schon einige Krisen gemeistert und deshalb ein grösseres Repertoire an Verhaltensweisen, sie können ihre Gefühle besser steuern.

Zur Person

Prof. Dr. Jana Nikitin wurde 1973 in Prag geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat in der Schweiz studiert und an den Universitäten Zürich und Basel als Entwicklungspsychologin gearbeitet. Heute leitet sie an der Universität Wien den Arbeitsbereich Psychologie des Alterns.

Ein Beispiel?

Eine gelungene Emotionsregulierung kann sich in familiären Konflikten auszahlen, denken Sie zum Beispiel an eine Auseinandersetzung mit der Schwiegertochter. Ältere Menschen können oft gut unterscheiden, ob es besser ist, einen Konflikt erst mal ruhen zu lassen, oder ob der Moment gekommen ist, ein Problem anzusprechen. Jüngere Menschen verhalten sich da eher konfrontativ.

Normalerweise werden die sozialen Beziehungen weniger, wenn Menschen älter werden. Wie sehr leiden sie darunter?

Das Schrumpfen der Netzwerke wird von ihnen einerseits als Verlust wahrgenommen. Aktuelle Forschungen zeigen aber, dass diese Entwicklung oft aktiv von den Älteren betrieben wird. Das heisst: Oberflächliche Beziehungen werden aufgegeben, die Senioren konzentrieren sich eher auf enge familiäre Bande, Freundschaften oder gute Nachbarschaftsbeziehungen.

Auch das ist eine Art Pragmatismus: Warum soll ich mich mit Leuten, die ich kaum kenne, herumschlagen?

Lohnt es sich überhaupt, da zu investieren? Es stimmt also keinesfalls, was oft behauptet wird, dass sich Ältere immer mehr zurückziehen, ihre Sozialkontakte abbrechen. Sie schauen nur genauer hin, welche Kontakte ihnen wichtig sind.

Jana NiktinBild PD

Welche Erwartungen haben ältere Menschen an ein Treffen, was darf sein, was nicht?

Im Alter ist der Wunsch stärker, dass ein Treffen, zum Beispiel das Kaffeetrinken mit der Enkelin, harmonisch abläuft. Da spielt auch eine Angst der Älteren hinein, etwas zu vermasseln, den anderen zu verprellen. Deshalb achten viele darauf, in der Familie, etwa bei den Kindern, nicht zu viele Ratschläge zu geben, das geht oft nach hinten los. Ratschläge können ja bekanntlich Schläge sein.

Alte Menschen sind häufiger allein. Wann wird das Alleinsein als positiv empfunden, wann ist es eine Belastung?

Zunächst einmal erleben Ältere das Alleinsein tendenziell etwas positiver als jüngere Menschen. Das liegt daran, dass sie freier in der Gestaltung ihres Alltags sind, entscheiden können, wann sie allein sein wollen. Zudem verbinden Senioren mit dem Alleinsein oft positive Dinge, sie können reflektieren und runterfahren, sich entspannen.

Das Alleinsein, das man von sich aus sucht, wird deutlich positiver erlebt als das Alleinsein, dem man nicht ausweichen kann, das sich so ergibt. Wenn jemand starke gesundheitliche Einschränkungen hat und deshalb viel allein ist, erhöht sich das Risiko, dass er sich einsam fühlt. Einsamkeit wiederum bedeutet ein hohes gesundheitliches Risiko und erhöht die Wahrscheinlichkeit, früher zu sterben.

Auch viele Menschen mit Demenz leiden unter Einsamkeit. Was sagen Sie zu dem Vorurteil, dass diese Menschen eh verwirrt sind und von ihren sozialen Kontakten kaum noch etwas mitbekommen?

Es ist ein Trugschluss zu denken, dass sie von ihrer Umgebung wenig mitbekommen. Emotional sind Menschen mit Demenz ja nicht verkümmert, sondern immer noch sehr empfänglich, vor allem für positive Ansprache. Das können Lieder aus ihrer Jugend sein, die in ihnen gute Gefühle auslösen. Für Angehörige ist es schön, wenn sie auf diese Weise Kontakt zu ihnen herstellen können.

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Ansonsten ist es sehr tröstlich zu wissen, dass sich die emotionalen Strukturen bei uns Menschen nicht nur ganz früh entwickeln, sondern auch am längsten intakt sind. Dieses Potential sollte man unbedingt nutzen, auch und gerade bei den Menschen mit Demenz.

Wie schädlich ist es, wenn ältere Menschen ein negatives Verhältnis zum Älterwerden haben – und sich davon nicht abbringen lassen?

Negative Altersbilder können zu einer erhöhten Sterblichkeit führen. Viele Menschen werden Opfer einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Wenn sie glauben, sie würden im Alter kränker und hinfälliger, kann das auch eher passieren. Sie nehmen diese negativen Bilder als gegeben hin, setzen dem nichts entgegen, zum Beispiel durch ausreichende Bewegung.

Andererseits gibt es viele Ältere, die sich deutlich fitter fühlen als die Senioren früherer Generationen. Sie erleben sich jünger, als sie biologisch sind, 70-Jährige meinen, sie fühlten sich wie 60, 80-Jährige wie 70.

Stimmt. Das ist eine Strategie, gegen die bestehenden Altersbilder anzugehen. Je älter man wird, umso jünger fühlt man sich. Mit anderen Worten: Die anderen sind alt, nur ich nicht. (lacht) Man grenzt sich also bewusst von den anderen ab.

Untersuchungen zeigen allerdings, dass negative Altersbilder in der Öffentlichkeit in den letzten 100 Jahren deutlich zugenommen haben. Und das, obwohl wir als Gesellschaft immer älter werden.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Woher kommt es, dass die Altersbilder negativer geworden sind?

Gute Frage! Ein Grund liegt wohl darin, dass sich unsere Ideale bezüglich der Attraktivität von Menschen verändert haben. Früher haben Weisheit und Lebenserfahrung das Bild vom Alter geprägt und damit das Alter wertvoll gemacht. Heute sind Werte wie körperliche Anziehung, schnelles Denken, Erfolg wichtiger, die eben nicht mit dem Alter verbunden werden.

Ein anderer Aspekt ist der Kampf um Ressourcen wie etwa Wohnraum und Energie.

In unserer Gesellschaft gibt es heute deutlich mehr ältere Menschen als früher. In vielen Köpfen spukt die Meinung herum: Ältere sollen nicht so viele Ressourcen verbrauchen, weil sie ja auch nicht mehr viel zur Gesellschaft beitragen. Dadurch, dass die Ressourcen knapper geworden sind, sind auch die Altersbilder negativer geworden.

Es geht also um Verteilungskämpfe?

Genau. Ich halte diese negativen Bilder vom Alter allerdings für sehr gefährlich. Damit verpassen wir die Kompetenzen, die ältere Menschen immer noch beisteuern können. Für Ältere ist es befriedigend, wenn sie anderen helfen, sich etwa um die Enkel kümmern können. Das Gefühl, gebraucht zu werden, noch etwas wert zu sein, selbst wenn man alt und gebrechlich ist, trägt erheblich zum Wohlbefinden bei.

Je älter wir werden, umso mehr müssen wir uns mit dem Tod auseinandersetzen. Wie kann die Konfrontation gelingen?

Zum einen hilft es, wenn wir in der Rückschau das eigene Leben so interpretieren können, dass es gut gelungen ist, dass wir es als kohärente Geschichte empfinden, trotz der Verluste, die wir wahrscheinlich erlitten haben.

Ein positives Narrativ würde zum Beispiel sein: Ich habe in meinem Leben etwas gelernt, habe mich weiter entwickelt.

So eine optimistische Deutung gelingt normalerweise eher Leuten, die eine hohe Lebenszufriedenheit haben. Ihnen fällt es dann auch leichter, dem Tod entgegen zu treten. Zum anderen ist es hilfreich, wenn wir uns auf die Tatsache einlassen, dass wir mit dem Älterwerden von anderen abhängig sein können. Diejenigen, die diese Abhängigkeit zugeben, können sich normalerweise besser auf den Gedanken an den Tod einstellen.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Welche Erfahrungen haben Sie mit einem älteren Menschen gemacht, die Sie besonders geprägt hat?

Ich denke an meine Tante, die bis zum Alter von 85 total gesund, fröhlich und sozial integriert war. Ich habe sie als witzig, warmherzig und ein bisschen kantig erlebt. Sie hat das Leben nie ganz ernst genommen, das Älterwerden nicht gross zum Thema gemacht, sondern sich mit anderen Sachen befasst.

Am Ende ist sie von einem Tag auf den anderen gestorben und musste nicht leiden. Meine Tante ist für mich ein Vorbild, wie man gelassen ins Alter hineingehen kann. Sicherlich hat ihr auch der Humor geholfen, das Alter anzunehmen.

10 Tipps, wie gutes Altern gelingen kann

  • Soziale Kontakte pflegen, auch ausserhalb der Familie. Wahlverwandtschaften können ebenfalls sehr anregend sein.
  • Ein soziales Engagement suchen, sofern die Kapazitäten ausreichen, etwa ein Ehrenamt.
  • Regelmässige Bewegung, zum Beispiel schnelles Gehen, auch zu zweit oder in einer Kleingruppe.
  • Möglichst ausgewogen und vielseitig ernähren, mit frischem Obst und Gemüse, Fisch, Nüssen, Hülsenfrüchten; Weissmehl, Zucker und Fleisch eher reduzieren.
  • Ausreichend trinken, selbst wenn im Alter das Durstempfinden nachlässt; eineinhalb bis zwei Liter Flüssigkeit am Tag sollten es schon sein.
  • Regelmässig zu Vorsorgeuntersuchungen (z. B. Darmspiegelung) gehen; Blutbild und Blutdruck regelmässig vom Arzt kontrollieren lassen.
  • Gesellschaftliche und politische Entwicklungen verfolgen, im Internet, Fernsehen oder in der Tageszeitung.
  • Neues lernen, zum Beispiel, wenn möglich, ein Musikinstrument oder eine Fremdsprache.
  • Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen pflegen, etwa die Lektüre von Romanen, Sudokus, Stricken oder Yoga.
  • Nicht beirren lassen von negativen Alterszuschreibungen, etwa dass Ältere angeblich immer langsamer und vergesslicher werden. Stattdessen die Fähigkeiten und Kompetenzen, die man hat, bewusst ausschöpfen.

Auf der Website der Universität Wien findet man aktuelle Erkenntnisse aus der Altersforschung. Hier ist es auch möglich, schriftlich Fragen zum Thema Altern zu stellen, die Antworten werden (anonym) auf der Webseite veröffentlicht.