Frieden schliessen mit Demenz - demenzjournal.com

Sprache

Frieden schliessen mit Demenz

Wenn vom «Kampf gegen Demenz» die Rede ist, werden Betroffene zu chancenlosen Opfern gestempelt. Daniel Kellenberger

Im Zusammenhang mit Demenz werden oft kriegerische Methaphern benutzt: Die Krankheit ist ein «Volksfeind», der «Elend» verbreitet und deshalb «bekämpft» werden muss. Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit der Krankheit versöhnen und unsere Wortwahl überdenken.

Dies ist eine Stellungnahme, ausgelöst durch den Artikel «Die brutale Seite des Pflegenotstands» in «Der Standard» vom 6. September 2021.

Im Krieg ist vieles erlaubt, auch sprachlich. Immerhin geht es um Mobilmachung gegen das Böse. Ist deswegen auch in der medialen Darstellung erlaubt, über das Leben mit Demenz zu schreiben und sprechen wie aus einem Kriegsgebiet?

Dass die Demenz ein grosser Volksfeind ist, den es zu bekämpfen gilt, dieses Sprach- und Denkmuster ist nicht neu. Mit kriegerischen Metaphern wird die Krankheit beschrieben, die Menschen hinterrücks überfällt, Not und Elend verbreitet und alles auffrisst und hinwegrafft. Die Erwähnung der bald anstehenden Verdoppelung der Fallzahlen zeigt, wie gnadenlos der Feind ist.

Der Kampf gegen die Demenz wird glorifiziert, alle Beteiligten werden zu Opfern oder Helden.

In den letzten Jahren haben sich viele Akteurinnen und Akteure in Österreich dafür stark gemacht, dass diese Art, über Demenz zu sprechen und zu schreiben, in den Hintergrund tritt. Weil dadurch Angst verstärkt wird, weil so Lebensrealitäten holzschnittartig verzerrt und Betroffene zu chancenlosen Opfern gestempelt werden.

Im Rahmen dieser Anstrengungen wurde unter anderem ein Leitfaden für demenzsensible Sprache entwickelt. Ich werde im Folgenden alle, die mit mir für eine neue Sichtweise eintreten, als «wir» bezeichnen.

Auch das Wort «Demenz» müssen wir hinterfragen

Demenz und Sprache

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Wenn es um ein neues Verständnis von Demenz geht, orientieren wir uns an den Berichten jener, die mit dieser Erkrankung leben. Wir hören, wie sie den Alltag und ihre Einschränkung bewältigen, was sie sich wünschen und von uns brauchen für ein gutes Leben mit Demenz. Selten ist dabei die Rede von Kampf, Verwüstung und Ohnmacht. Oft ist dabei die Rede von Akzeptanz, Teilhabe und Assistenz.

Natürlich hören wir auch viele andere Stimmen und ignorieren Fakten nicht. Wir wissen, wie anstrengend und (über)fordernd der Alltag mit vergesslichen, desorientierten Angehörigen sein kann. Wir wissen, wie schwierig die Navigation im Pflegesystem ist und an wie vielen Ressourcen es mangelt.

Kampf gegen Mängel, nicht gegen Demenz

Wir wissen um die Personalknappheit in der mobilen und stationären Betreuung. Und ja, gegen diese Mängel kämpfen wir. Aus vielen Richtungen, kreativ, konstruktiv, kritisch. Es macht aber einen Unterschied, ob wir gegen Mängel im System kämpfen, gegen unlogische Abläufe und Lücken, für vielfältige Angebote und bedarfsorientierte Leistungen. Oder ob wir gegen eine Erkrankung kämpfen, die sich nur in Personen manifestiert, die unser Kampf dann miterwischt.

Statt einer Vision vom totalen Krieg, bis die Demenz besiegt ist, haben wir eine Vision von einem Friedensschluss.

Davon, dass sich die Gesellschaft mit dem Phänomen der Demenz versöhnt, sie als – wenn auch schwierige – Manifestation des hohen Alters, als eine Form der Gebrechlichkeit, als eine Beeinträchtigung neben vielen akzeptiert.

Dann könnten Menschen mit dieser Erkrankung besser unter uns leben, weil sie nicht Protagonist*innen eines gesellschaftsweiten Kampfes sind. Weil nicht mehr klarer Verstand und Leistungsfähigkeit als Ideal gegen Vergessen und Fragilität als Versagen stehen. Dann müssen sie ihre Defizite nicht mehr verbergen oder durch Aggression wegleugnen.

Dann werden auch die pflegenden Angehörigen nicht mehr isoliert (wer will schon mit in einen Krieg verwickelt werden?) und die Tätigkeit in der Altenpflege muss nicht mehr als Entweder/Oder von Heroisierung und Mitleid behandelt werden.

Die wichtige Rolle der Medien

Wie kommen wir zu so einem Frieden? Wer kann die Vermittlungsarbeit leisten? Letztlich sind wir dazu alle aufgerufen. Eine wesentliche Rolle dabei spielen aber sicherlich die Massenmedien. Sie haben den Auftrag, Wirklichkeit abzubilden – etwa den Pflegenotstand zu benennen, Lücken zu zeigen.

Aber es gibt keine Notwendigkeit, dies im Modus der Kriegsberichterstattung zu tun, Artikel über Demenz als Berichte von der Front zu verfassen, geprägt von Grauen und Entsetzen. Bei vielen anderen sozialen Themen ist eine sensible, unaufgeregte Berichterstattung ja bereits breit gelebte Praxis, von Armut über Behinderung bis zum Suizid. 

Daher möchten wir alle Medienschaffenden, alle Meinungsbildner und letztlich alle Bürgerinnen und Bürger ermutigen, sich von der Metapher des Kriegs gegen Demenz zu verabschieden. Und stattdessen den Alltag der Menschen mit Vergesslichkeit in den Blick zu nehmen.

Dann zeigt sich: Sie haben Wünsche und Bedürfnisse, ihr Leben hat Höhen und Tiefen, die zu erkunden sich lohnt.

Wir rufen auf, die Würde der Betroffenen nicht zu opfern für eine eingängige Schlagzeile oder ein flottes Sujet. Wir möchten ermutigen, mit den Menschen mit Vergesslichkeit zu sprechen und ihre Lebensrealität, ihre Wünsche und Anliegen kennenzulernen. Das ist oft ohne grosse Hindernisse möglich, manchmal braucht es ein wenig Unter­stützung, die aber gut zu organisieren ist.

Und wir wollen ermutigen, auch bei den Angehörigen nicht nur auf die Belastungen zu fokussieren, sie nicht bloss als Opfer beziehungsweise Täter in Gewaltszenarien oder als übermenschliche Helden darzustellen, sondern das Geben und Nehmen auch in der Pflegebeziehung zu erkennen.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Zu einem Zeitpunkt, an dem der assistierte Suizid möglich wird, brauchen wir einen friedlichen Umgang mit kognitiven Einschränkungen, mit Vergessen und Verlust ganz besonders, damit das Leben mit Demenz nicht zu einem Szenario mutiert, in dem Selbsttötung als bessere Alternative zu einem jahrelangen Krieg verstanden wird.

Demenz wird uns bald öfter begegnen, weil wir alle älter werden und weil immer mehr Menschen mit Vergesslichkeit sich nicht verstecken, sondern ihren Alltag weiterleben möchten. Genau deswegen braucht unsere Gesellschaft Frieden mit Demenz – damit wir nicht unsicher, abweisend, ausschliessend reagieren, sondern ihnen dieses Miteinander ermöglichen.

Die Unterzeichner dieses Aufrufs sind:


Der Titel des Artikels ist dem Buch von Sabine Bode «Frieden schliessen mit Demenz» entlehnt.