«Aus der Schublade wird ein Schrank» - demenzjournal.com

Demenz und Sprache

«Aus der Schublade wird ein Schrank»

Katharina Klee im Einsatz für Promenz. «Hier fällt das Wort nie», sagt sie. «Es wird nicht bewusst vermieden, es ist einfach nicht nötig.» Dragan Dok, Promenz

Müssen wir das Wort «Demenz» aus unserem Wortschatz streichen, weil es respektlos und unzutreffend ist? demenzjournal unterhielt sich mit der Journalistin und Promenz-Aktivistin Katharina Klee über Haltung, Schubladen, Scham und Gendersprache.

Demenz kommt aus dem Latein, wörtlich übersetzt bedeutet es «ohne Geist», «ohne Verstand» oder «ohne Denkkraft». Es steht auch für Wahnsinn, Torheit, Unvernunft.

demenzjournal: Menschen als «geistlos» zu bezeichnen, ist respektlos und nicht zutreffend – vor allem im frühen Stadium der Krankheit. Warum benutzen wir dieses Wort trotzdem?

Katharina Klee: Am Anfang stand wohl der gute Wille. Man wollte erklären, wieso alte Menschen schrullig werden, davonlaufen und sich komisch verhalten. Senil war so ein Wort dafür. Ich glaube, dass man durchaus den Willen hatte, die Krankheiten mit diesem Wort in eine hilfreiche Öffentlichkeit zu bringen.

Hat die unzutreffende Bezeichnung auch damit zu tun, dass wir über die Krankheit nach wie vor relativ wenig wissen? Besonders bei Alzheimer tappt die Wissenschaft nach wie vor im Dunkeln.

Man wollte dem Feind einen Namen geben, ihn in eine Schublade packen und kontrollierbar machen. Das Gefährliche an der Krankheit ist der Ursprung dafür, dass wir mit diesem Wort leben müssen. Es gibt ein anderes furchtbares Wort: Krebs.

Als bei meiner Mutter Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde, fiel der Ausdruck «Krebs» ganz selten. Es war die Rede von der schlimmen Krankheit, von Pankreas, von Karzinom – sogar die Ärzte tun sich schwer mit dem Wort Krebs.

Warum wird Demenz oft und Krebs selten verwendet?

Weil Demenz ein anderes Image hat. Die Gesellschaft erwartet von dir, dass du den Kampf gegen den Krebs aufnimmst. Gegen Demenz können wir kaum etwas unternehmen. Wir wissen nichts, wir haben kaum Hoffnung.

Wenn von Demenz die Rede ist, sehen die Leute meist nur die letzte Phase: Menschen, die niemanden mehr erkennen, nichts mehr können, die inkontinent und «ohne Geist» sind. Das liegt wohl auch daran, dass wir dieses Wort verwenden. Die Öffentlichkeit nimmt die überwiegende Mehrheit der Erkrankten, die weder geistlos noch inkontinent sind, kaum wahr.

Wegen dieser Bezeichnung und den damit verbundenen Bildern ist die Krankheit schambehaftet. Wir wissen ja heute, dass die Krankheit 10 oder 20 Jahre vorher beginnt. Aber die Leute versuchen, sie so lange wie möglich geheim zu halten. Das ist logisch, weil sie wissen, was sie verlieren könnten. Zum Beispiel den Führerschein. Und Demenz hat ja auch was mit Alter zu tun.

Katharina Klee

Katharina Klee ist akademische Psychosoziale Beraterin auf systemischer Basis. Sie war Radio- (Radio CD, Antenne Wien) und TV-Journalistin (ORF Schiejok Täglich), Pressesprecherin, Moderatorin und Trainerin für die Gewerkschaft HGPD (Hotel, Gastgewerbe Persönlicher Dienst), später Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft «vida». Chefredakteurin des Magazins „Arbeit&Wirtschaft», das von ÖGB und AK herausgegeben wird. Sie arbeitet als Beraterin, Kommunikationstrainerin und Moderatorin. Bei PROMENZ ist sie seit 2018 unter anderem als Unterstützerin im Ehrenamt tätig.

Seit März 2020 betreibt sie als Virtin Katharina das «Café Promenz – Online mit Anfängergeist». Drei Mal pro Woche treffen sich dort Menschen mit und ohne Vergesslichkeit zwischen 16 und 17 Uhr. Das virtuelle Stammlokal bietet neben Daumen-Yoga eine eigenen Nachrichten Kolumne, viel Musik und noch mehr Humor. Eine Diagnose ist keine Teilnehmebedingung. alzheimer.ch wird demnächst ausführlich über das Café Promenz berichten.

Sobald einen das Wort umgibt, wird man abgestraft …

Ja, man wird aus der Gesellschaft gekickt.

Auf der anderen Seite hört man immer wieder von den Vorteilen eines Outings. Der offene Umgang mit der Krankheit nimmt Druck weg und ermöglicht Unterstützung.

Für eine Volksschullehrerin ist es schwierig zu sagen: «Ich habe Demenz und brauche Unterstützung.» Es ist schwierig, Hilfe anzunehmen, das kennen wir doch alle. Es ist grossartig, wenn es funktioniert wie bei Beni Steinauer.

Beni Steinauer pflegt einen offenen Umgang mit der Diagnose

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Aber er hat als Homosexueller eine Outing-Erfahrung hinter sich und weiss um die Nachteile, die sich daraus ergeben können. LBTQ ist ein gutes Beispiel: Ein 85-jähriger Teilnehmer des Café Promenz hat erklärt, dass die Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen steht. Er hat vorgeschlagen, man könnte auch für Demenz eine Abkürzung verwenden.

Quelle Youtube

Aus «Menschen mit neurokognitiven Veränderungen» würde dann MNKV?

Warum eigentlich nicht? Abkürzungen wie LBTQ oder PoC für People of Colour kommen aus dem englischsprachigen Raum. Sie signalisieren Diversität, die Vielfalt – aus der stigmatisierenden Schublade wird ein Schrank.

Wir wissen noch so wenig über neurokognitive Veränderungen, ihre Ursachen, ihre Behandlung.

Ich halte es da mit Tom Kitwood und dem person-zentrierten Ansatz. Ich habe mittlerweile einige Menschen mit der Diagnose einer demenziellen Erkrankung kennengelernt. Nicht nur im Frühstadium der Krankheit – auch in späten Phasen.

Vielleicht mag sie der Verstand verlassen oder der Zugang zu unserer Welt, ihre Uhren gehen anders. «Ohne Geist» habe ich sie nicht erlebt. Im Café Promenz haben wir Menschen in verschiedenen Stadien der Krankheit, dort fällt das Wort nie. Es wird nicht bewusst vermieden, es ist einfach nicht nötig.

Wer bin ich? Nimmt mich noch jemand ernst? Das Wort Demenz trägt bei zur Stigmatisierung und Ausgrenzung.Dragan Dok, Promenz

Damit man ein Wort abschaffen kann, braucht man Alternativen. Welche hast du zu bieten?

Ich habe keine Alternativen, aber ich biete den Impuls zum Überlegen. Wir werden noch eine Zeit lang mit dem Wort leben müssen, aber wir sollten es nicht nach vorne heben. In unseren Foldern kommt es nicht vor.

Jetzt fand unsere Werbeagentur, in unserem Folder sollten die Worte Demenz, Alzheimer und Vergesslichkeit stehen, weil sonst die Leute nicht wissen, worum es bei uns geht. Das glaube ich aber nicht. Aus Promenz und Vergesslichkeit können sich die meisten etwas zusammenreimen, müssen es aber nicht.

Demenz als Schimpfwort und Inbegriff für Unzurechungsfähigkeit

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Wenn wir auf demenzjournal das Wort «Demenz» nicht mehr verwenden, versteht und findet uns niemand mehr. Dann kommt unser unterstützendes Wissen nicht mehr unter die Leute. Auch wer Hilfe sucht, wird das Wort als erstes in die Suchmaschine eingeben.

Wir können nicht von heute auf morgen auf das Wort verzichten. Aber wir können es, wenn immer möglich, auflösen. Für mich sind zum Beispiel Menschen mit Vergesslichkeit wie die letzten Leute an der Bar. Da gibt’s welche, die sind klarer, da gibt’s welche, die hatten zu viele Klare. Auch wenn der Herr Doktor zu viele Klare hatte, ist er noch immer der Herr Doktor.

Bei Promenz verwendet ihr oft «Menschen mit Vergesslichkeit». Auch das wird der Krankheit nicht gerecht, weil der Vergesslichkeit nur eines von vielen Symptomen ist.

Wenn wir «Menschen mit Vergesslichkeit» verwenden, ist es zwar nicht ganz korrekt – aber die Leute wissen, worum es geht. Schauen wir, was mit dem «N-Wort» passiert ist: Bei uns gab es «Die zehn kleinen Negerlein». Mittlerweile benutzen alle ein ergänzendes Wort dafür.

Das Wort «Nigger» – entschuldige bitte, dass ich es jetzt verwende – ist ein gutes Beispiel für einen Bedeutungswechsel: Es wurde einst von Unterdrückern, Rassisten und Sklavenhaltern kreiert und gebraucht. Mittlerweile haben es die Nachfahren dieser Sklaven vereinnahmt und zu einem identitätsstiftenden Enpowerment-Wort gemacht. Mit dem Wort «Demenz» scheint das nicht zu funktionieren. Wäre es mit «verstandslos» oder «geistlos» möglich? Oder, wie der Promenz-Vorstand Andreas Trubel vorgeschlagen hat, mit «Volltrottel»? Er bezeichnet sich manchmal so und will damit provozieren. Andreas will nun ein Theater mit «Volltrotteln» auf die Bühne bringen. Bringt das etwas?

Ich glaube nicht. Das Wort «Nigger» darf nur ein «Nigger» sagen. Das Wort «Krüppel» darf nur ein «Krüppel» sagen, und die anderen nicht. Wenn ich zu den Promenz-Treffen gehe als Unterstützerin, ziehe ich immer das Armband und den Button an. Da überlege mir schon manchmal, ob ich damit gesehen werden will – auch wenn nur Promenz draufsteht.

Die Macht der Sprache liegt im Subtilen

Kommunikation

«Sprache ist geistige Medizin»

Sandra Mantz ist Altenpflegerin und Kommunikations-Coach. Sie trainiert Pflegekräfte, mit Patienten und Angehörigen einen sensiblen Dialog auf Augenhöhe zu führen. weiterlesen

Im Zusammenhang mit der Genderfrage wird auch viel über Sprache diskutiert. Obwohl ich für vollständige Gleichberechtigung bin, tue ich mich schwer mit der gendergerechten Sprache. Es fing an mit den Pflegenden und Betreuenden, dann kamen die Bewohnenden, bald haben wir auch die Malenden, Kochenden und Autofahrenden. Ich kann diese «Endens» nicht mehr hören.

Es ist ganz essenziell, ob ich sage «nenne mir zehn Dichter» oder «nenne mir zehn Dichterinnen», deshalb brauchen wir eine gendergerechte Sprache. Mir gefällt die Doppelpunktlösung, also «Dichter:innen».

Solche Satzzeichen sind doch Stolpersteine!

Das ist nur eine Ausrede. Wir können einen Text lesen und verstehen, obwohl nur der erste und letzte Buchstabe richtig und der Rest des Wortes durcheinandergelöffelt ist. Unser Hirn ist so cool! Die Diskussion köchelt jetzt schon 25 Jahre.

Die Diskussion hilft uns, zu überdenken, was gerecht oder ungerecht ist.

Mittlerweile haben wir sogar Vornamen, die nicht sofort verraten, wessen Geschlechts jemand ist. Auch deshalb ist es notwendig, dass wir gendern. Auf meiner ersten beruflichen Visitenkarte stand noch «Redakteur».

Wirklich?

Die musste eingestampft werden, weil ich es nicht akzeptierte. Damals hiess es auch, gendern gehe beim Radio nicht, wir hätten keine Zeit dazu. Heute macht unser ZIB-Anchorman und Starreporter Armin Wolf die wunderbare Pause – er sagt «Lehrer innen». Wir haben so viel gelernt!

Wir haben sogar das Wort Demenz gelernt, statt senil, schrullig oder verkalkt zu sagen. Also können wir nicht sagen, dass wir das Gendern nicht lernen können. All diese Diskussionen, die so mühsam sind, bringen etwas in Gang. Deshalb sollten wir sie weiterhin führen.

Da gebe ich dir recht. Sprache erzeugt Haltung, und Haltung erzeugt Sprache!

Ja! Demenz wird noch immer als Schimpfwort gebraucht. Ein Parlamentarier bezeichnete neulich den Finanzminister als «dement». Wenn einer etwas vergessen hat, wird gesagt: «Schau her, der Alzheimer schlägt zu.»

Im Volksmund ist Demenz noch immer die Krankheit derer, die lese- und lernfaul waren.

Meine Mutter sagte über die Demenz ihrer Schwägerin: «Mein Gott, die hat halt nie gelesen.» Es wird als Strafe empfunden. Vor ein paar Jahren kursierte auch die Theorie, Demenz sei die Strafe fürs Verdrängen.

Täglich gehen auf unserer Redaktion Informationen ein, was alles gegen Demenz helfen soll: Joggen, nicht rauchen, Sprachen lernen, Beeren essen, unter die Leute gehen usw. Zu Ende gedacht bedeutet das: Wer eine Demenz hat, ist selber schuld. Was löst dies bei den Betroffenen aus?

Es ist fürchterlich. Sie werden nicht ernst genommen. Im Freundeskreis oder im Wirtshaus werden sie nicht zu ihrer politischen Meinung befragt. Sie sind ja dement, also nicht politisch. Sie werden überhaupt nicht mehr nach ihrer Meinung gefragt.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Und sie sind auch noch selber schuld daran. Mein Schwiegervater erkrankte vor 25 Jahren an Alzheimer. Er war ein angesehener Ingenieur, trieb viel Sport, war engagiert in Vereinen und in der Kirchgemeinde, er hatte viele Freunde. Zu seinem sechzigsten Geburtstag kamen fast 100 Leute. Sieben Jahre später hatte er Alzheimer und praktisch keine Freunde mehr. Ich dachte, dass es heute viel besser ist. Offenbar habe ich mich getäuscht.

Früher wurden sie noch mehr aus der Öffentlichkeit hinausgedrängt. Sie sind im Raum der Unsichtbaren gelandet. Da spielt natürlich viel Angst mit. Die Gleichaltrigen wissen ja nicht, ob ihnen das auch blüht – grad wenn der Erkrankte vorher so erfolgreich und angesehen war. Wenn dein Vorbild kippt – uff! Auch mit diesem Gedanken müssen wir arbeiten.

Wir müssen die Botschaft vermitteln: «Keiner von uns weiss, ob er es nicht kriegt.»

Schon allein deswegen, sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass neurokognitive Veränderungen nicht mehr stigmatisiert werden. Vom Engagement Betroffener wie Beni Steinhauer oder unseren Promenz-Botschafter:innen können wir alle nur profitieren.

Sie zeigen uns, dass eine solche Diagnose nicht das Ende sein muss. Wir können von «Menschen mit Vergesslichkeit» sehr viel lernen: vor allem das Leben im Hier und Jetzt, das Loslassen und Anfängergeist, denn wer vergisst muss immer wieder neu anfangen.