Rosmarie in der Oase mit Mango-Eis - demenzjournal.com

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Rosmarie in der Oase mit Mango-Eis

Rosmarie während eines Ausflugs in die Cafeteria der Sonnweid. Michael Schmieder

Rosmarie ist 85 und meine Schwiegermutter. Sie hat eine Lewy-Body-Demenz und lebt in der Pflegeoase des Demenzzentrums Sonnweid. Einblicke in einen besonderen Kosmos.

Pfih, phih, pfih, pfih … Der Generator tut sanft sein Werk, er unterstützt die Atmung. Eine kleine Sonde mit zwei Löchern bringt Sauerstoff in die Lunge. Rosmarie hat eine rosige Haut, glatte Wangen – und immer noch: originalbraune Haare! Sie könnte sich problemlos mit Gerhard Schröder messen, sie würde gewinnen.

Rosmarie ist 85 und die Mutter meiner Frau, sie ist seit 19 Jahren meine Schwiegermutter. Wir mögen uns. «Ich mag ihn halt», war ihr Standardsatz, wenn es um mich ging. Ich mag ihn halt: Das war ich in ihrer Skala, kurz und knapp, an Deutlichkeit nicht zu überbieten.

Rosmarie hat eine Lewy-Body-Demenz.

Sie war drei Jahre in einem «normalen» Alters- und Pflegeheim. Zum Ende der ersten Corona-Welle holten wir sie in die Sonnweid, weil wir sie in unserer Nähe haben wollten. Niemand glaubte daran, dass sie die 30-minütige Verlegung überleben würde. Das war im Mai 2020. Heute ist der 4. Mai 2021.

Das mit dem Sterben wurde nix, unerklärlicherweise verschob sie das. Obwohl (oder vielleicht weil) die ganze Verwandtschaft bereits im Zimmer war und auf ihren Tod wartete. Das passte zu ihr.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Meine Frau und ich wurden zu Besuchern der Sonnweid. Zu Besuchern des Ortes, der jahrzehntelang unsere berufliche Heimat war. Die Leitung hatten wir abgegeben, meine Aufgaben als Verwaltungsrat liess ich ruhen. Besucher zu sein, das war ein neues Gefühl.

Seit sechs Wochen lebt Rosmarie in der Oase. Dies gibt mir Einblick in ein Konzept, das ich entwickelt und gegen viele Widerstände eingeführt habe. Die Oase im Gebäude A4 ist ein grosser Raum mit verschiedenen Bereichen und Zonen, aber letztlich gehört alles zusammen.

Tag und Nacht sind die Bewohnenden im selben Raum, sie sind immer Teil des grossen Ganzen.

Die Pflegenden verrichten ihre Arbeit, sie sprechen mit den Menschen, sie geben Essen ein, sie pflegen, sie sind da. Und wenn sie bei Frau Meier sind, sind sie auch irgendwie bei Rosmarie. Sie hört, sie spürt, sie fühlt, dass sie nicht allein ist – direkt, unvermittelt.

Es ist immer jemand da, immer. Auch die anderen Bewohnenden sind da, diese Gemeinschaft der «Lost Brainers», diese Schicksalsgemeinschaft der Oase-Einwohner.

Rosmarie geniesst dieses nicht-allein-Sein.

Sie kann noch lächeln, wenig sprechen, vor allem die Stirn runzeln, was immer bedeutet hat: «Aha – ich weiss schon». Diese Regung ist trotz schwerer Demenz noch funktionstüchtig. Auf die Frage, wie es ihr geht, kommt ein gehauchtes «Gut». Man spürt Ehrlichkeit in diesem einen Wort.

Wir sitzen am Bett, und geniessen die Stimmung im Raum: das gedämpfte Licht, die Duftleuchte, die Geräusche. Wir geniessen auch, dass noch andere Menschen hier sind, wir spüren unaufgeregtes Leben und sind nicht allein.

Als sich Michael Schmieder selber ins Oasenbett legte

Selbstversuch

Ein Tag des Scheiterns

Michael Schmieder hatte sich vorgenommen, 24 Stunden lang auf der Oase in der Sonnweid zu liegen. Er wollte hautnah erfahren, wie es sich … weiterlesen

Eine Bewohnerin kommt vorbei, sie schaut, wie Rosmarie im Bett liegt, murmelt etwas und geht weiter. Am Tisch vorne wird gegessen, die Pflegenden sprechen liebevoll mit den Menschen. Es gibt keine Hektik, und wir fühlen uns in dieser geschützten Atmosphäre so wohl, wie es die derzeitige Situation ermöglicht. Wir sind Teil der Oase.

Mango-Eis ist unsere Wunderwaffe, sie weckt in Rosmarie neues altes Leben. 

Auf tiefem Niveau zwar, aber inzwischen ohne Sauerstoff und manchmal verwirrende Satzfragmente hauchend. Als ich vor vielen Jahren das Konzept der Oase entwickelte, hatte ich eine Ahnung – aber ich hatte es mir nicht so stimmig und wirksam ausgemalt, wie wir es jetzt als Angehörige antrafen.

Nachtrag: am 13. Mai ist Rosmarie in der Oase gestorben, begleitet, wie sie sich das immer gewünscht hat. Sie starb friedlich und entspannt, so wie sie die letzten Wochen und Tage verbracht hatte. Auf der Todesanzeige steht:

«Nun ist sie frei und unsere Tränen wünschen ihr Glück» (Goethe)