Selbst ist der Gesundheitscoach - demenzjournal.com

Patientenzentriert

Selbst ist der Gesundheitscoach

Ärzte verschiedener Fachrichtungen würden sich nicht abstimmen und den Patienten nicht als ganzen Menschen sehen, ergab eine Umfrage. Unsplash

Der Patient der Zukunft will eine Medizin auf Augenhöhe. Die kann nur funktionieren, wenn Ärzte und Pflegende den Mensch in den Mittelpunkt stellen – und wenn die Patienten kritisch und verantwortungsbewusst sind.

Was Menschen hierzulande in Bezug auf ihre Gesundheit erwarten, interessiert jetzt auch Schweizer Politiker. Am 1. April 2021 ist das revidierte Gesetz zur Qualität und Wirtschaftlichkeit in der medizinischen Versorgung in Kraft getreten.

Im Vorfeld hatte der Bundesrat die Schweizerische Patientenorganisation SPO beauftragt, Patienten nach ihren Erwartungen zu befragen. Leider fragte die SPO nur zwölf Personen. Das sind viel zu wenige, als dass man daraus verlässliche Informationen ziehen könnte.

Worüber die zehn Patienten mit chronischen, seltenen oder unklaren Krankheiten klagten: Die Mediziner hörten nicht zu, täten Beschwerden als psychosomatisch ab und hielten Schmerzen für eingebildet. Ärzte verschiedener Fachrichtungen würden sich nicht abstimmen und den Patienten nicht als ganzen Menschen sehen. Die Ergebnisse der SPO-Studie, so heisst es im Bundesamt für Gesundheit, flössen in die Entwicklung der neuen Qualitätsstrategie und in die 4-Jahresziele des Bundesrates ein.

Mit Erstaunen ist festzustellen, dass sich der Bundesrat hier auf eine derartig kleine Umfrage verlässt.

Und man fragt sich, warum das bisher so wenig untersucht wurde. Es finden sich nämlich keine aktuellen, systematischen, gut geplanten und ausreichend grossen Umfragen dazu, was Patienten sich hierzulande wünschen und was für sie für eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung dazugehört.

Die Patienten in der SPO-Umfrage möchten empathisch und als Individuum betrachtet und behandelt werden und nicht nur rein medizinisch, sie möchten transparent und verständlich informiert werden und Ärzte verschiedener Fachrichtungen sollten sich abstimmen – aber bitte nicht über den Kopf des Patienten hinweg.

Künftig sollen die Wünsche der Patienten mehr zum Tragen kommen.Unsplash

Das, was sich diese Patienten wünschen, fordern Experten schon seit Jahren: Eine patientenzentrierte Medizin. Die Psychoanalytikerin Enid Balint – die gemeinsam mit ihrem Mann das Konzept der Balint-Gruppen entwickelte – beschrieb das schon 1969. 20 Jahre später entwickelte der englische Psychologe Tom Kitwood die personzentrierte Demenzpflege und -betreuung.

Patientenzentriert bedeutet, jeden Patienten als einzigartiges menschliches Wesen wahrzunehmen statt sie auf die jeweilige Erkrankung zu reduzieren.

Eine patientenzentrierte Medizin ist respektvoll gegenüber dem Patienten, sie geht auf seine Vorlieben, Wünsche und Bedürfnisse ein und medizinische Entscheidungen sind von seinen Werten geleitet.

In diesem Zusammenhang wird oft auch das Konzept der evidenzbasierten Medizin (EBM) genannt, was auf den kanadischen Arzt David Sackett zurückgeht. EBM bedeutet vereinfacht gesagt, dass ein Arzt seinen Patienten anhand aktuell bester Beweise aus wissenschaftlichen Studien, seiner eigenen Erfahrung und unter Einbeziehung der Wünsche des Patienten individuell berät und betreut.

Wie Gesund ist die Schweiz?

Gemäss der letzten Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2017 unter 22’134 Personen schätzen zwar mehr als 80 Prozent der Befragten ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut ein. Aber jeder dritte gab an, er habe ein dauerhaftes Gesundheitsproblem. Das schlägt sich in den Arztbesuchen nieder. 7 von 10 Menschen ab 15 Jahren suchen mindestens einmal pro Jahr ihren Hausarzt auf.

Was die EBM-Ansätze zeigen: Es gibt keine «Schulmedizin» und keine «alternative» oder «komplementäre» Medizin. Es gibt nur eine Medizin, die wirkt oder nicht wirkt. Der Patient, seine Erwartungen, seine Wünsche und Vorstellungen stehen im Mittelpunkt. 

Wir haben dazu einige Personen befragt. «Der Patient der Zukunft wird anspruchsvoller werden und besser informiert sein», sagt Peter, bis vor kurzem Vize-CEO in einer grossen Firma. «Darauf muss das Gesundheitssystem eingehen und sich anpassen.» Leider stehen dem noch diverse Probleme im Wege. Zum einen sind es die Rahmenbedingungen, die den Ärzten oftmals nicht die Zeit lassen, um mit den Patienten ausführlich zu sprechen.

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«Wenn ich sehe, was für einen Durchlauf an Patienten manche Ärzte pro Tag haben, frage ich mich, wie es da überhaupt zu einfühlsamen Gesprächen kommen soll», sagt Franziska, Psychotherapeutin in Luzern. Abgesehen von der Zeit: Es gibt leider immer noch Mediziner, die die Kontrolle über die Behandlung behalten möchten, die nicht genügend trainiert sind, wie sie verständlich mit dem Patienten reden, denen das zu aufwändig ist oder der Patient zu lästig.

«Fragte ich meinem alten Hausarzt, warum er Medikament A empfehle und nicht Medikament B, hat er oft gesagt: Bin ich jetzt der Arzt oder Sie?», erzählt Peter. «Er hatte offenbar das Gefühl, ich würde an seiner Kompetenz zweifeln.» Gerade jungen Ärzten fehle zudem mitunter das Menschliche, kritisiert Franziska.

Womöglich läge das an der Ausbildung und an fehlender Lebenserfahrung. «Ich will Computer und Apps nicht kritisieren, aber ohne menschliche Zuwendung und Vertrauen führt die beste Technik nicht zur Heilung.»

Komplementär macht schule

Mehr als 4 von 10 Personen waren im Jahr der Befragung bei einem Spezialisten gewesen – das ist deutlich mehr als 2002. Das Bedürfnis nach einer guten medizinischen Versorgung ist also gross, und Menschen verlassen sich längst nicht mehr nur auf die so genannte Schulmedizin. 29 von 100 Befragten gaben an, sie liessen sich pro Jahr mindestens einmal komplementärmedizinisch behandeln, etwa mit Akupunktur, chinesischer Medizin, Homöopathie oder Osteopathie. Das sind fast doppelt so viele wie in der Befragung von 2002.

Es liegt aber auch an den Patienten selbst. Eine lässt lieber den Arzt entscheiden, ob ihr Krebs operiert oder lieber mit Chemotherapie behandelt werden soll. «Das ist natürlich ihr gutes Recht», sagt Regula Capaul, Allgemeininternistin in Zürich und Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin.

«Ich möchte aber, dass sie meinen Vorschlag nachvollziehen kann und hole mir ihr Einverständnis für die Therapie ab.» Ein anderer Patient sagt ebenfalls Ja und Amen zu allen Vorschlägen des Arztes – Abnehmen, mit dem Rauchen aufhören, mehr Sport treiben und brav die Medikamente nehmen – und lässt dann doch alles bleiben.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Der dritte versteht nicht, was der Arzt ihm erklärt und traut sich nicht zu fragen. Der vierte hat sich im Internet bestens informiert und weiss alles besser als der Arzt. Dabei kann er die Studien, die er gelesen hat, nicht einordnen und lässt sich nicht erklären, dass diese Behandlung für sein Problem gar nicht geeignet ist.

Oder er beharrt auf einer komplementärmedizinischen Behandlung, obwohl diese erwiesenermassen schaden könnte – zum Beispiel wenn ein Patient eine Chemotherapie bekommt und traditionelle chinesische Kräuter nehmen möchte.

«Ich erkläre dem Patienten, wo er über das Thema seriös und verständlich im Internet nachlesen kann und versuche zu verstehen, warum er auf der Behandlung beharrt», sagt Capaul. «Im Gespräch finden wir dann doch eine Lösung, die weniger Nebenwirkungen hat und trotzdem komplementär ist – zum Beispiel  Akupunktur.»

neuer Trend: Functional Medicine

Patienten erhoffen sich offenbar viel von «komplementären» Heilmethoden, und Therapeuten denken sich neue Konzepte aus, um die Wünsche nach «ganzheitlicher» Behandlung zu erfüllen. Ein Trend ist zum Beispiel die «Functional Medicine», ins Leben gerufen vom US-amerikanischen Biochemiker Jeffry Bland. Functional Medicine will sich auf die «Grundursachen» der Krankheiten fokussieren und diese mit einem «individualisierten, patientenzentrierten, wissenschaftsbasierten Ansatz» angehen. Es ist aber nirgendwo definiert, was «Functional Medicine» eigentlich ist. Im Grunde genommen kann man es als gut vermarktete «Neuauflage» komplementärer Behandlungen sehen, die übrigens Elemente der evidenzbasierten Medizin enthält.

Der Patient der Zukunft hinterfragt medizinische Angebote kritisch und informiert sich in seriösen Quellen. Das gilt für so genannte komplementäre Massnahmen genauso wie für die «klassische» Schulmedizin.

Der Patient der Zukunft respektiert, dass der Arzt andere Kompetenzen hat, aber er fragt hartnäckig und kritisch, wenn er etwas nicht versteht oder wenn er mit einer Behandlung nicht einverstanden ist. Helfen kann hier die Initiative «smarter medicine», lanciert im Jahre 2017 in Anlehnung an das amerikanische «choosing wisely».

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Veröffentlicht sind dort Listen mit Massnahmen, die in der Regel unnötig sind, weil sie potentiell mehr schaden als nützen. Der Patient der Zukunft soll und darf also seinen Arzt kritisch fragen, warum er Behandlung X oder Test Y trotzdem empfiehlt.

Der Patient der Zukunft weiss, dass es Situationen gibt, wo auch die Ärzte wegen mangelnder Daten nicht wissen, welche Therapie die richtige ist. Er lernt, mit der Unsicherheit zu leben und nicht die Schuld dem Arzt zuzuschieben. Er sieht den Arzt als Partner, der mit ihm gemeinsam überlegt, welche gezielten Vorbeugungs-Tests für ihn wichtig sind und welche gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen er schafft zu ändern.

Der eine nimmt zum Beispiel eher Gewicht ab, dem anderen gelingt der Rauchstopp leichter. «Manche Menschen sehen sich immer als Opfer, insbesondere was Krankheiten angeht», sagt Ex-Manager Peter. «Man muss aber aktiv werden, aus der Opferrolle raus, und bei sich selbst anfangen. Mein Gesundheitscoach bin ich nämlich selbst.» 

Mehr Menschlichkeit oder höhere Wirtschaftlichkeit: In welche Richtung entwickelt sich die Medizin?Unsplash