Der Tod um uns herum als Erfahrung - demenzjournal.com

Ethik

Der Tod um uns herum als Erfahrung

Die Mütter- und Kinder­sterblichkeit im Zeitalter der klassischen Infektionskrankheiten als Element der Epoche der klassischen sozialen Frage ist für viele eine vollkommen vergangene und abgeschlossene Vorgeschichte der Gegenwart. Bild shutterstock

Die Corona-Krise ist zu einem kulturdiagnostischen Brennglas unserer Gesellschaft geworden. Sie lässt uns über den Tod reflektieren.

Von Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Pro Alter

Was wir aus der universalen und auch kulturvergleichenden Forschung wissen, indiziert grosse Unterschiede und auch Wandlungen in der Thematisierung von Endlichkeit, Sterben und Tod in der Existenzbewältigung der Menschen. Leicht getan haben sich die Menschen damit wohl nie.

In unserer heutigen Gesellschaft hat das mögliche lange Alter die Situation verschoben und die Abwesenheit von unmittelbar erfahrbaren Kriegen (wie die im 20. Jahrhundert) verschiebt die Auseinandersetzung «nach hinten». Auch von grösseren Naturkatastrophen bleibt die westeuropäische Region weitgehend verschont (was der Klimawandel hier bewirken wird, können wir heute mit Evidenz durchaus imaginieren).

So fehlen uns seit Jahrzehnten die Erfahrungselemente von Krieg auf eigenem Boden sowie das Trauma der Flucht. Vielleicht können wir uns deshalb so schwer in die Lage der Menschen versetzen, die Asyl suchen. Unsere Empathie fokussierte sich in den letzten Jahrzehnten auf andere Daseinsthemen im wohlfahrtsstaatlich mehr oder weniger effektiv regulierten Kapitalismus.

Nur die ganz alten Menschen erinnern sich an die Flucht und Vertreibung während des 2. Weltkrieges, an die Wohnungsnot und den Hunger der Nachkriegszeit.

Und die grosse Pandemie der Spanischen Grippe liegt mit dem Ende des 1. Weltkrieges noch länger zurück. Die Mütter- und Kinder­sterblichkeit im Zeitalter der klassischen Infektionskrankheiten als Element der Epoche der klassischen sozialen Frage ist für viele eine vollkommen vergangene und abgeschlossene Vorgeschichte der Gegenwart.

Tiefe Verstrickung in komplexe Verkettungen

Corona hat die globalisierte Welt sich nunmehr als Dorf erfahren lassen. Der Mensch erfährt seine tiefe Verstrickung in komplexe Verkettungen zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen Mensch und Natur, erfährt sich selbst in seiner Biologie als Teil des grossen Naturzusammenhangs.

In seinem cartesianischen Wahn der prometheischen Hybris gefangen, wird er in seinem Mythos der Autonomie des souveränen Subjekts kastriert. Er erfährt seine Bedingtheit, er ahnt die radikale Kontingenz seiner Existenz, muss demütig sein.

Über den Autor

Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt hat die Professur für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (ISS) inne und ist geschäftsführender Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln. Ausserdem ist er Honorarprofessor für Sozialökonomie der Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Prof. Schulz-Nieswandt ist federführender Herausgeber von ProAlter. Kontakt: schulz-nieswandt@wiso.uni-koeln.de

Der Mensch realisiert das Eingestelltsein im Evolutionszusammenhang (zu dem immer schon auch das Virus gehört) und erlebt sich als abhängig in seinem Geworfensein in den grossen Daseinszusammenhang zwischen Kultur und Natur.

Natürlich hat er als homo faber kreative Freiheitsgrade der Reaktion auf alle Entwicklungsaufgaben: Forschung und Medizin in Verbindung mit kommunikativem Krisenmanagement und rechtlichen Regulierungsregimen etc.

Er erkennt die Kraft der Solidarordnung der Rücksichtnahme und bemüht sich in der liberalen Demokratie um die affektregulative Zivilisationsleistung der Verhältnismässigkeit temporärer Grundrechtseinschränkungen.

Dass sogar ein Teil der jungen Bildungselite in ihrer charakterneurotischen Party-Gier Probleme mit Triebaufschub hat, sagt viel über die Lücken in der Erziehung zur Tugend. Zugleich zeigt sich aus Sicht kritischer Theorie erneut die Bedeutung der psychoanalytischen Kulturdiagnostik:

Das neue Bündnis von Solidaritätsverweigerern, der extremistischen neuen Rechten und Verschwörungstheoretikern verweist auf eine Sozialpathologie des Denkens und Wahrnehmens.

Es lässt uns an Theodor W. Adorno erinnern, der fragte, wie in dieser unwahren Welt eine Gestaltwahrheit des Menschen, in dessen Entfremdung sich die grosse Lüge des glücksbringenden Kapitalismus (heute als digitaler Turbo eines ästhetischen Kapitalismus) tief in Geist, Seele und Körper wie ein religiöser Geist einschreibt, denn möglich sein soll.

Corona generiert eine kollektive Chance der Selbsterkenntnis 

Doch in der Mehrheit erleben wir nicht nur die daseinsthematische Kraft der Solidarität für den Mitmenschen. In der Corona-Krise spüren wir mit Blick auf den Zwischenraum sozialer Beziehungen, auf die Begegnung, die Berührung, der Anrufung durch den Mitmenschen, wie bedürftig wir selbst sind.

Erneut wird erfahrbar, dass das Leben ein Nehmen und Geben in der Balance zwischen Nähe und Distanz, Offenheit und Verschlossenheit ist.

Nur im Modus des Mitein­anders sind wir ein gelingendes Selbst. Corona generiert hier eine kollektive Chance der Selbsterkenntnis des Menschen. Und der Tod ist um uns herum ein dichtes Erlebnis.

Wir erfahren die Bedeutung von Familie (wenn sie denn menschlich, also gewaltfrei gelingt), von sozialen Netzen der Freundschaft und sorgender Nachbarschaft. Tabuiert oder gar verdrängt haben wir den Tod auch vor Corona nicht. Ich halte diese kulturkritische Selbstdiagnose für falsch.

Der Tod war jedoch nicht mehr entlang der ganzen Lebensspanne im lebensweltlichen Nahraum allgegenwärtig. Wir sehen den Tod in den Massenmedien als ein Geschehen in anderen Weltregionen. Bei uns wird er kontrolliert konsumiert in Kriminalstorys und Science-Fiction-Werken.

Achtsam reflektierte Kultur des Sterbens

Das sehr hohe Alter wirft dann allerdings zivilisationsgeschichtlich neuartige kulturelle (die Art und Weise der sozialen Gestaltung betreffende) Fragen nach dem Sterben, insbesondere nach dem letzten Jahr auf. Wenn Kinder sterben, ist alles nochmal ein völlig anderes Thema.

Dennoch stehen wir heute kollektiv vor einer Entwicklungsaufgabe: Drängend ist die Frage nach einer neuen, achtsam reflektierten Kultur des eben nicht im Anti-Aging-Wahn elimierbaren Faktums des Sterbens. Es zeigt sich aber auch, dass alles seine Zeit braucht. Kulturwandel ist kein technisches Change-Management (Lichtschalter an/aus).

Soziale Verantwortung ist gefragt: Einsames Sterben ist nicht selten. Caring Communities sind auch hier gefragt. Personale Selbstverantwortung ist eine Aufgabe: Sterben können (akzeptieren) lernen.

Wie das Leben, so ist auch der Tod eine Frage des authentischen souveränen Selbstseins im gelingenden sozialen Miteinander.

Die heute noch vorwiegenden Orte des Sterbens müssen wir problematisieren: Krankenhäuser müssen sich organisationsphilosophisch ändern und die «Kasernierung» der alten Menschen in Pflegeheimen müssen wir in Frage stellen und in der Nachbarschaft im Rahmen einer gelebten Gemeindeordnung müssen sorgende Gemeinschaften entfaltet werden.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Würde ist die Paraphrase der Personalität des Menschen und operationalisiert in den Dimensionen Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilhabe. Die Frage wird sein, wie sich dies in der letzten Statuspassage des Menschen – des Übergangs zum homerischen Aushauchen des Lebens in das Nichts hinein – für den betroffenen Menschen und seinen engsten Kreis der Mitmenschen authentisch gestalten lässt:

Frühzeitige Wahl des Ortes und seiner Rahmung, Patientenverfügung effektiv und justiziabel gestalten, eventuell sicher sein, dass noch eine gewisse Zeit eine Kultur der Erinnerung und des sozialen Gedächtnisses geleistet wird.

Die Mitmenschen müssen zudem eine lebenszugewandte Art des Trauerns entwickeln. Doch muss jeder selbst seinen Tod und das Sterben als Produktionsfunktion des Todes individuell für sich auslegen.

Der Tod als abschliessender Höhepunkt des Lebens

Max Scheler hat auf die Frage, ob es Unsterblichkeit gibt, geantwortet: Ja, es gibt Unsterblichkeit, aber nur für kurze Zeit. Scheler hat nur zum Teil Recht, denn die Unsterblichkeit ist ewig: Der Mensch hat gelebt und einen – wenngleich mathematisch kleinen – Beitrag in der Geschichte hinterlassen, so dass die Geschichte so und nicht anders verlaufen ist. Und dies bleibt ewig eine Tatsache, die trösten kann.

Vor dem Tod muss man keine Angst haben. Leiden kann der Mensch nur bis zum Tod.

Die Unsicherheit über die Art des Sterbens kann allerdings beunruhigend sein. Auch ein zu frühes Sterben beunruhigt: die Kinder sind noch nicht gross, ich habe noch unerfüllte Ziele etc. Ansonsten ist der Tod der abschliessende Höhepunkt des Lebens. Vollendung: Dann habe ich geschafft, was ich zu schaffen fähig war.

Zum Leben und sodann zur Endlichkeit – und dieses Wissen um die Endlichkeit macht den Menschen zum Menschen und unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen – gehört eine produktive, kreative Melancholie, die aber nicht in eine depressive Grundgestimmtheit umkippen darf.

Man wird nur gut den Abgang hinbekommen, wenn man angemessen differenziert eine rekonstruktive Bilanz gezogen hat. Eigentlich sollte man vielleicht den Tod der Mitmenschen sogar feiern wie den Geburtstag, denn so schliesst sich der Kreis.

Ursache, Zeitpunkt und Formen des Sterbens sind die grossen Herausforderungen

Was aber für kritisches Denken die grosse Herausforderung ist, ist die strukturelle Gewalt der sozialen Ungleichheit der Ursachen und des Zeitpunktes sowie der Formen des Sterbens: Armut und Hunger, Krieg, kollektiv selbstverschuldete Naturkatastrophen, auch schon der dem biologischen Tod vorausgehende soziale Tod der sozialen Ausgrenzung.

Zu welchem gottähnlichen Schöpfertum ist der Mensch in Liebe und Kunst mitunter fähig! Aber wie sehr bedrängt uns das maligne Syndrom der Menschenrechtsverletzungen (dignity is inherent lautet es im Völkerrecht) von Kapitalismus, Rassismus, Neo-Kolonialismus, Militarismus, Autoritarismus, Totalitarismus, Fundamentalismus religiöser Kollektivneurosen, des ewigen Faschismus, von dem Umberto Eco sprach. Wo ist die grosse Empörung, zu der Stéphane Hessel die Jugend aufrief?

Die Corona-Krise ist zu einem kulturdiagnostischen Brennglas unserer Gesellschaft geworden. Sie lässt uns über den Tod reflektieren. Vielleicht lässt sie uns auch den Frieden als ermöglichende (Kant würde sagen: transzendentale) Voraussetzung der Solidarität, als ermöglichende Voraussetzung der Chancengleichheit, als ermöglichende Voraussetzung der Freiheit des Menschen in der reziproken Rolle des Mitmenschen besser verstehen.


Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift Pro Alter 1/21. Vielen Dank dem Medhochzwei-Verlag für die Gelegenheit der Zweitverwertung.