«Da ist keine Fassade mehr, die Menschen leben im Hier und Jetzt» - demenzjournal.com

Konfetti im Kopf

«Da ist keine Fassade mehr, die Menschen leben im Hier und Jetzt»

Michael Hagedorn sucht als Fotograf die Momente, in denen er «Licht in den Augen der Menschen» sieht. Michael Hagedorn

Seit 15 Jahren fotografiert Michael Hagedorn Menschen mit Demenz. Mit seiner Initiative «Konfetti im Kopf» will er durch öffentliche Aktionen Vorurteile abbauen

Ein Ehepaar, ganz unspektakulär. Sie gehen gemeinsam durch einen Park, sie hat sich bei ihm eingehakt. Ein anderes Mal lassen sie Herbstblätter durch die Luft fliegen. Oder sie sitzen gemeinsam am Tisch, sie hat eine Gitarre umgehängt, er schaut ihr aufmunternd zu. Momentaufnahmen, ungeschönt.

Karin Fischer ist an frontotemporaler Demenz erkrankt, ihr Mann Manfred kümmert sich jahrelang um sie. Es ist viel Nähe zwischen den beiden, das transportieren die Bilder von Michael Hagedorn, unaufgeregt und anrührend zugleich.

«Ich werde häufig gefragt, ob es nicht total schwierig ist, Menschen mit Demenz zu fotografieren. Ich finde das nicht», sagt Hagedorn im Skype-Interview. «Oft ist die Arbeit mit ihnen sogar leichter als mit anderen Menschen, weil sie authentisch sind, da ist keine Fassade mehr, sie leben im Hier und Jetzt.»

Der Hamburger Fotograf Michael HagedornPD

Nur manchmal wird es schwierig, wenn sie seine Kamera oder ihn anfassen wollen, ständig das Gespräch suchen. Aber er bleibt geduldig, er kennt solche Situationen.

Die Fotos von Karin und Manfred Fischer hat der Fotograf 2019 im Schloss Mirabell in Salzburg gezeigt. Das Motto der Ausstellung: Gefühle werden nicht dement.

Michael Hagedorn interessiert sich schon lange für alte Menschen, als Zivildienstleistender hatte er in der Altenpflege gearbeitet. «Es war absehbar, dass ich in meiner Arbeit irgendwann beim Thema Demenz landen würde», sagt er.

Seit 15 Jahren porträtiert der 55-Jährige, der in der Nähe von Hamburg lebt, Menschen mit Demenz, viele begleitet er über mehrere Jahre – er nennt das «die vertikale Komponente». Dadurch ist der Kontakt zu den Betroffenen und ihren Angehörigen oft eng geworden, nicht selten wurde er, gefühlt, Teil der Familie.

Regelmässig fotografiert Hagedorn in Senioreneinrichtungen, schaut sich Wohnprojekte und Betreuungsformen für Demenzkranke an. «Ich habe ein Projekt für Menschen mit Demenz begleitet, die einen psychiatrischen Hintergrund hatten oder aus der Psychiatrie kamen. Für sie wurden Gastfamilien gesucht, in denen sie bis zum Ende ihres Lebens geblieben sind. Das fand ich sehr beeindruckend.»

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Menschen mit Demenz sind für Hagedorn «Rebellen». Was heisst das? Der Fotograf wird jetzt sehr emotional und redet sich in Fahrt:

«In unserer Gesellschaft kommt es darauf an zu funktionieren, Konventionen zu wahren. Demenzpatienten gehen radikal darüber hinweg. Sie legen die Füsse auf den Tisch oder essen unzählige Stücke Sahnetorte. Ich habe Menschen erlebt, die früher reserviert waren, aber in der Demenz aufgeblüht sind und ihre Kinder umarmt haben, was sie früher nie taten. Das sind oft ganz irre Geschichten!». Genau das ist es, was Hagedorn fasziniert:

Menschen mit Demenz sind meist so, wie sie sein wollen, nicht, wie sie meinen, sein zu müssen.

Auch in seinen Fotos lässt Hagedorn sie sein, wie sie sind. So gesehen hat die Demenz aus seiner Sicht fast schon eine gesellschaftskritische Komponente: «Die Krankheit hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor und legt ihre Defizite offen.»

Natürlich gibt es auch die anderen Geschichten, Menschen, die sich durch die Krankheit selbst fremd werden, die unendlich leiden, wenn sie merken, wie es um sie steht. Deren Qual für die Angehörigen schwer zu ertragen ist. Hagedorn weiss das und beschönigt es auch nicht.

Aber er möchte dort nicht stehen bleiben, sondern sucht als Fotograf die Momente, in denen er «Licht in den Augen der Menschen» sieht. Wenn das Selbstbild von Menschen verschwimmt, möchte er Akzente setzen. Oft geht er nahe ran, aber indiskret wirkt das nie.

Fotos ausstellen, Kataloge bestücken – Hagedorn reicht das nicht aus. Er möchte mehr Öffentlichkeit, möglichst viele Menschen mit dem Thema Demenz erreichen. Und er plädiert für einen Paradigmenwechsel. 2007 entstand bei ihm die Idee für Konfetti im Kopf.

«Mir ging es vor allem um einen neuen Blick. Demenz ist normalerweise ein Angst-Thema, dem viele Menschen lieber aus dem Weg gehen.»

«Wir wollen positive Botschaften vermitteln und zeigen, dass Betroffene durchaus eine Menge Lebenslust und Humor empfinden können.»

Er möchte nicht von «Auflösung» der Persönlichkeit sprechen, sondern sucht nach dem, was den kranken Menschen bereichert. Und genau das tragen die Betroffenen oft schon selbst in sich.

Quelle Youtube

Mit seinem Team hat Hagedorn 2009 in Berlin und 2013 in Hamburg jeweils eine grosse Kampagne gemacht, mit Fotos auf Plakatwänden, begehbarer Open-Air-Ausstellung, Gottesdiensten und Workshops.

In der Hamburger Innenstadt wurden mehrmals Konfetti-Paraden organisiert, Umzüge durch die Stadt mit mehreren Hundert Teilnehmern. Wer nicht gut zu Fuss war, durfte im Oldtimer mitfahren.

Mit den «Konfetti-Cafés» wurden Begegnungsräume für Menschen mit und ohne Demenz geschaffen, zu denen auch Künstler und Musiker kommen. «Die Menschen können gemeinsam malen, singen oder zu Livemusik tanzen», sagt Hagedorn.

Im Moment müssen die Cafés wegen Corona allerdings pausieren. Dafür gibt es unter dem Motto «Rockdown» kleine Live-Konzerte in Pflegeheimen, aus sicherer Entfernung, aber laut genug zum Mitsingen.

Werner Leypoldt hat erst in seiner Demenz zur Kunst gefunden.Michael Hagedorn

«Konfetti im Kopf», von einem gemeinnützigen Verein getragen, finanziert sich aus Spenden, die meist projektgebunden sind. Woher kommt der Name? Hagedorn verdankt ihn einem schönem Zufall: Er war gemeinsam mit einem Bekannten aus Lörrach, der an Demenz erkrankt war, auf der Basler Fastnacht gewesen.

Hinterher waren die Männer mit Konfetti übersät. «Werner strich mir das Konfetti aus den Klamotten und meinte, er selbst habe Konfetti im Kopf. Ich wusste sofort, dass das ein guter Name für unseren Verein ist.»

Auch den Mann aus Lörrach hat Hagedorn länger begleitet, seine Geschichte geht ihm besonders nah. Werner Leypoldt, der in Basel einmal Waldorf-Schüler gewesen war, hat vier Jahre nach seiner Demenz-Diagnose angefangen zu malen, opulente, farbige Bilder.

«In eineinhalb Jahren hat er 160 Bilder fertig gestellt und einen ganz eigenen Stil entwickelt. Seine Kunst hat ihm eine neue Vitalität gegeben, er konnte seine Persönlichkeit zeigen, was ihm in Worten nicht mehr möglich war. Für seine Frau, die ihn zu Hause betreute, war das ein Segen.»

Hagedorn erzählt viele solcher Geschichten, die ihn beeindruckt haben. Oder auch die Geschichte des prominenten Fussballers Rudi Assauer, der mit 74 an den Folgen seiner Alzheimer-Erkrankung starb. Hagedorn lernte ihn sechs Jahre vor seinem Tod kennen.

«Früher hat er das Image des Machers und Machos hochgehalten. Als er krank wurde, trat er sehr bescheiden auf und konnte sich an vielen kleinen Dingen freuen – die Bratwurst, die Zigarre, lange ausschlafen. Enge Weggefährten haben ihn für sein Schicksal bedauert. Ich denke, er konnte in Frieden sterben, er wohnte bei seiner Tochter und fühlte sich dort geborgen.»

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Mit anderen Worten: Die Persönlichkeit bleibt immer ein Kaleidoskop, die Facetten ändern sich je nach Blickwinkel – das ist in der Demenz nicht anders. Der Blick von aussen ist immer eingeschränkt.

Was wissen wir schon darüber, wie sich ein Betroffener selbst wahrnimmt, welche Freiräume er erleben und wertschätzen kann?

In Hagedorns Familie ist bislang keine Demenz aufgetreten, aber ein enger Freund aus Norddeutschland erkrankte an Alzheimer. Zunächst lebte er zu Hause, nach dem Tod seiner Frau kam er in eine stationäre Einrichtung.

«Er hatte keine Kinder, ich war einer der wenigen Menschen, die ihn besuchten. Wenn ich dort war, war mir nicht klar, ob er weiss, wer ich bin. Das hat mich nachdenklich gemacht. Die Krankheit hat mir so etwas wie Demut gegenüber dem Leben gezeigt.»

Vielleicht liegt es an dieser Haltung, dass Hagedorn selbst keine Angst hat, an Demenz zu erkranken. «Ich habe inzwischen ein sehr gutes Netzwerk», meint er, «ich weiss, ich wäre gut aufgehoben.»


Weitere Infos unter www.konfetti-im-kopf.de