Heftig klopft die Frau mit beiden Händen auf die Untersuchungsliege, sie will sich aufrichten, weg hier. Ihre Brust wird gerade mit dem Ultraschall untersucht, eine Kontrolle, weil sie vor Jahren Brustkrebs hatte. Die Frau ist 78 und hat Alzheimer. Unruhig zerreisst sie die Papierunterlage. «Das sind Angstsymptome, viele der Betroffenen haben sie», sagt die Frauenärztin nüchtern und macht einfach weiter. Die Tochter versucht beruhigend auf ihre Mutter einzureden, aber die wird immer unruhiger, die Tochter sieht Angst in ihren Augen.
«Was soll das?», fragt die Mutter. «Ich will das nicht.» «In dem Moment hätte ich die Ärztin bitten sollen, die Untersuchung abzubrechen», erinnert sich die Tochter. «Aber es heisst ja immer, Kontrolluntersuchungen nach Krebs seien wichtig und ich habe das gar nicht hinterfragt.» Der zweite Teil der Untersuchung wurde noch schlimmer. Es sei wichtig, dass sie «unten» den üblichen Früherkennungs-Abstrich nehme, sagte die Ärztin.
Negative Gefühle und Aufregung ersparen
Denn auch bei älteren Frauen könne sich Gebärmutterhalskrebs entwickeln. Auf dem Frauenarzt-Stuhl wand sich die ältere Dame, schimpfte immer wieder, wozu das gut sei, und schlug auf die Stuhllehnen. Noch am Abend wirkte die Frau verstört, in sich gekehrt und zuckte immer wieder zusammen, wenn die Tochter sie berührte. Die von der Ärztin dringend empfohlene Mammographie sagt sie ab. «Es tut mir im Nachhinein so Leid», sagt die Tochter. «Hätten wir uns vorher in der Familie überlegt, was für Konsequenzen die Untersuchung hat und ob wir sie eingehen wollen, hätten wir unserer Mutter all die negativen Gefühle ersparen können.»
«Durch die veränderte Wahrnehmung kann ein Arztbesuch für Menschen mit Demenz zu einem traumatischen Erlebnis werden», sagt Ansgar Felbecker, Präsident der Swiss Memory Clinics und Leitender Arzt Neurologie im Kantonsspital St. Gallen. «Ob das aber so ist, ist individuell unterschiedlich und hängt unter anderem von früheren Erlebnissen ab, der Art der Demenz, dem Schweregrad und was untersucht werden soll.» So hat die 78 Jahre alte Dame womöglich deshalb so ängstlich reagiert, weil sie sich an die schwere Zeit damals mit dem Brustkrebs erinnert fühlte. Auch empfinden Menschen mit Demenz das Messen des Blutdrucks vermutlich nicht so schlimm wie eine Blutabnahme oder gar eine Blasenspiegelung.
Um die Reaktion der Betroffenen zu verstehen, hilft es, sich klarzumachen, was eine Demenz mit den Betroffenen macht. Zum Beispiel erkennen sie Gegenstände manchmal nicht mehr und können sie ihrer Funktion nicht zuordnen. Mundschutz oder Handschuhe erleben sie dann etwa als Bedrohung und einen Urinbecher werfen sie auf den Boden, statt darin zu urinieren. Aufforderungen, zum Beispiel sich für eine Untersuchung auszuziehen und danach zur Liege zu gehen, verstehen sie nicht – das kann Frust und Wut auslösen.
Das gestörte Orientierungsempfinden einer Demenz kann zu Fehlinterpretationen führen. So glaubt zum Beispiel ein Patient im Wartezimmer, er sei bereits im Untersuchungszimmer und zieht sich aus. Zwar würden Mediziner heutzutage in der Ausbildung mehr lernen, auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einzugehen, sagt Tanja Krones, Leitende Ärztin Klinische Ethik im Unispital Zürich. «Was Menschen mit Demenz angeht, ist hier noch viel Luft nach oben.»
Nicht standardmässig vorgehen
Entscheidend sei das generelle Behandlungsziel, sagt sie. «Man sollte dem Patienten nicht standardmässig Untersuchungen oder Therapien vorschlagen, sondern sich erst einmal gemeinsam überlegen: Was ist ihm wichtig, was möchte er?» Ein Mensch mit Demenz kann sich dazu irgendwann nicht mehr äussern. «Es wäre gut, wenn sich Patient und Angehörige frühzeitig Gedanken machen würden und grundlegende Lebenseinstellungen mit dem Betroffenen besprechen, solange es noch geht», sagt Krones. Also zum Beispiel im Falle der 78-jährigen Frau, ob es ihr wichtig wäre, dass auf jeden Fall nach einem Brustkrebs-Rezidiv geschaut und das behandelt werde.
Ob sie darauf Wert lege, dass medizinisch alles gemacht wird, was im Sinne der Lebensverlängerung möglich ist, auch wenn dies mit Belastungen verbunden ist. Oder anders herum: Ob sie sich belastende Untersuchungen und Eingriffe ersparen möchte, auch wenn das Risiko besteht, dass der Krebs wächst. Natürlich lassen sich unmöglich alle Situationen in der Medizin vorher festlegen, aber als Angehöriger kann man mit dem Betroffenen ein paar Situationen durchsprechen. Das hilft später, wenn man im Falle eines Menschen mit Demenz dessen Therapieziele festlegen möchte.