Arbeit und Freizeit besser verteilen - demenzjournal.com

Geschenkte Zeit

Arbeit und Freizeit besser verteilen

Familie und Beruf lassen sich mit den gängigen Arbeits- und Karrieremodellen kaum vereinbaren. Bild Adobe Stock

Eltern leiden unter der Doppelbelastung durch Beruf und Familie. Ihnen fehlt Zeit. Am Ende des Lebens dagegen haben wir immer mehr davon. Wir sollten Arbeit und Freizeit besser über unsere Lebenszeit verteilen.

Von Tilman Wörz, Mut – Magazin für Lösungen

In einem Jahrzehnt steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa um zweieinhalb Jahre. Oder anders gerechnet: in jedem Jahr um drei Monate. Was für ein Geschenk! 

Wir ernähren uns besser, bewegen uns mehr, profitieren vom medizinischen Fortschritt. Wir haben so seit 1900 unsere Lebenserwartung von 42 Jahren auf 80 Jahre fast verdoppelt.

Bei Einführung des Rentensystems 1891 hatten unsere Vorfahren nicht mehr viele Jahre nach Renteneintritt übrig. Vor uns liegt heute dagegen noch ein Viertel unserer gesamten Lebenszeit! Das bereitet uns Kopfzerbrechen: Wie finanzieren wir den Lebensabend? Wie füllen wir ihn aus? Braucht uns dann noch jemand?

Auf diese Fragen gibt es eine gute Antwort – und sie hat mit der jüngeren Generation zwischen 30 und 45 Jahren zu tun. Ihr fehlt, was die Älteren im Überfluss haben: Zeit. Dagegen werden sie erdrückt von dem, was den Älteren fehlt: Verantwortung.

Menschen zwischen 30 und 45 Jahren müssen im Beruf bestehen, eine Familie gründen, Kinder erziehen, manche wollen ein Haus bauen oder kümmern sich um die eigenen pflegebedürftigen Eltern.

Noch nie zuvor waren so viele Anforderungen in ein so enges Zeitfenster gepresst.

Denn die Ausbildung dauert für immer mehr Menschen immer länger und schiebt Karrierebeginn und Familienplanung nach hinten – die biologische Uhr tickt bei Frauen aber seit Jahrtausenden gleich und setzt dem Kinderkriegen ein Limit.

«Rushhour des Lebens» nennen Soziologen diese vollgestopfte Lebensphase. Sie führt zu Burn-out, abgebrochenen Karrieren bei Frauen oder – anderes Extrem – dem kompletten Verzicht auf Familiengründung, um die Karriere nicht zu gefährden.

Die bedenklich geringe Geburtenrate in Deutschland ist eine Folge dieses Drucks und stellt langfristiges Wirtschaftswachstum und die Finanzierung der Rentenbeiträge in Frage.

Wieso also nicht den Mangel an der einen Stelle durch den Überfluss an der anderen ausgleichen und umgekehrt?

Wir entzerren die Rushhour des Lebens und arbeiten dafür länger in den «Lebensabend» hinein. Das erreichen wir vor allem über flexiblere Arbeitszeitmodelle: mit Teilzeitarbeit und Auszeiten, die über Lebensarbeitskonten abgerechnet werden.

«Statistisch gesehen könnte die Lebensarbeitszeit gleich bleiben», schreibt der US-amerikanische Demograf James Vaupel. Wir verteilen sie nur gleichmässiger über unser Leben und mindern so Auslastungsspitzen.

Klingt einfach und wird dennoch nur zögerlich umgesetzt in Form von Elternzeit, Sabbaticals und der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bis 2029, schrittweise für verschiedene Berufsgruppen. Die Reformen sollten aber mutiger ausfallen.

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Viele ältere Menschen würden gerne ihr Arbeitsleben schleichend auslaufen lassen und nicht mit einem harten Schnitt beenden, wie zahlreiche Studien zeigen. Gleichzeitig wächst die Leistungsfähigkeit von älteren Menschen.

Dennoch wird an einem starren Renteneintrittsalter festgehalten, allen voran von den Gewerkschaften.

Sie verweisen auf körperlich verschleissende Berufe, die einen frühzeitigen Renteneintritt erfordern. In Dänemark gilt deshalb ein Mindesteintrittsalter für Rentner: Wer möchte, kann bereits ab 60 Jahren in den Ruhestand, auch Männer. Eine Obergrenze besteht dagegen nicht. Jeder kann so lange arbeiten, wie er oder sie möchte und gesundheitlich dazu in der Lage ist.

Lebenslanges Lernen und Fortbildungen auch in fortgeschrittenem Alter versetzen Arbeiternehmer in die Lage, auch nach Jahrzehnten noch einen Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Kein Zufall, dass in Ländern wie den Niederlanden mit der höchsten Teilzeitquote der Welt entsprechende Angebote gut ausgebaut sind. Auch in der Rushhour-Generation gibt es Widerstände.

Männer sehen oft, dass Teilzeit, die meist von weiblichen Kollegen in Anspruch genommen wird, Karrieren beendet.

Es herrscht nach wie vor die Überzeugung, dass mit steigender Verantwortung innerhalb der Firmenhierarchie Teilzeitmodelle unpraktikabel werden. So konservieren wir in Deutschland das klassische Rollenmodell, bei dem der Mann sich dem Beruf widmet und kaum Zeit für die Familie hat, während die Frau Kinder grosszieht und nur arbeitet, wenn es die Anforderungen der Familie zulassen.

Dass dem nicht so sein muss, zeigen die skandinavischen Länder. In Norwegen ist es akzeptiert, wenn auch eine Führungskraft um vier Uhr nach Hause geht, weil sie auf die Kinder aufpassen muss. Für mehr Chancengleichheit sorgen gesetzlich garantierte Kitaplätze bereits für Einjährige und ein Recht auf Teilzeit für beide Eltern.

Folge: Norwegen hat eine der höchsten Geburtenraten Europas. Und vermeldet keine wirtschaftlichen Einbussen, für die jemand diese fortschrittlichen Modelle verantwortlich gemacht hätte. Im Gegenteil: Die hohe Geburtenrate mindert die Härten des demografischen Wandels und sichert langfristig das Wirtschaftswachstum und die Renten.

Ein neuer Pakt der Generationen muss ähnlich flexible Modelle in der Arbeitswelt schaffen, wie sie bereits in einigen skandinavischen Ländern mit mehr Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern praktiziert werden. Er täte allen gut.


Dieser Artikel erschien im Herbst 2019 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Reaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.