Von Tilman Wörz, Mut – Magazin für Lösungen
In einem Jahrzehnt steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa um zweieinhalb Jahre. Oder anders gerechnet: in jedem Jahr um drei Monate. Was für ein Geschenk!
Wir ernähren uns besser, bewegen uns mehr, profitieren vom medizinischen Fortschritt. Wir haben so seit 1900 unsere Lebenserwartung von 42 Jahren auf 80 Jahre fast verdoppelt.
Bei Einführung des Rentensystems 1891 hatten unsere Vorfahren nicht mehr viele Jahre nach Renteneintritt übrig. Vor uns liegt heute dagegen noch ein Viertel unserer gesamten Lebenszeit! Das bereitet uns Kopfzerbrechen: Wie finanzieren wir den Lebensabend? Wie füllen wir ihn aus? Braucht uns dann noch jemand?
Auf diese Fragen gibt es eine gute Antwort – und sie hat mit der jüngeren Generation zwischen 30 und 45 Jahren zu tun. Ihr fehlt, was die Älteren im Überfluss haben: Zeit. Dagegen werden sie erdrückt von dem, was den Älteren fehlt: Verantwortung.
Menschen zwischen 30 und 45 Jahren müssen im Beruf bestehen, eine Familie gründen, Kinder erziehen, manche wollen ein Haus bauen oder kümmern sich um die eigenen pflegebedürftigen Eltern.
Noch nie zuvor waren so viele Anforderungen in ein so enges Zeitfenster gepresst.
Denn die Ausbildung dauert für immer mehr Menschen immer länger und schiebt Karrierebeginn und Familienplanung nach hinten – die biologische Uhr tickt bei Frauen aber seit Jahrtausenden gleich und setzt dem Kinderkriegen ein Limit.
«Rushhour des Lebens» nennen Soziologen diese vollgestopfte Lebensphase. Sie führt zu Burn-out, abgebrochenen Karrieren bei Frauen oder – anderes Extrem – dem kompletten Verzicht auf Familiengründung, um die Karriere nicht zu gefährden.
Die bedenklich geringe Geburtenrate in Deutschland ist eine Folge dieses Drucks und stellt langfristiges Wirtschaftswachstum und die Finanzierung der Rentenbeiträge in Frage.
Wieso also nicht den Mangel an der einen Stelle durch den Überfluss an der anderen ausgleichen und umgekehrt?
Wir entzerren die Rushhour des Lebens und arbeiten dafür länger in den «Lebensabend» hinein. Das erreichen wir vor allem über flexiblere Arbeitszeitmodelle: mit Teilzeitarbeit und Auszeiten, die über Lebensarbeitskonten abgerechnet werden.
«Statistisch gesehen könnte die Lebensarbeitszeit gleich bleiben», schreibt der US-amerikanische Demograf James Vaupel. Wir verteilen sie nur gleichmässiger über unser Leben und mindern so Auslastungsspitzen.
Klingt einfach und wird dennoch nur zögerlich umgesetzt in Form von Elternzeit, Sabbaticals und der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bis 2029, schrittweise für verschiedene Berufsgruppen. Die Reformen sollten aber mutiger ausfallen.