«Diese Reisen schweissen uns alle zusammen» - demenzjournal.com

Urlaub

«Diese Reisen schweissen uns alle zusammen»

Am Strand von Baabe auf Rügen. Bild PD

Was passiert, wenn Menschen mit Demenz und deren Angehörige in die Ferien fahren? Helga Kretschmer begleitet Gruppenreisen für Paare, bei denen ein Partner gesund, der andere an Demenz erkrankt ist. Ihre Erfahrung: Alle profitieren von dieser Auszeit. Auch wenn es immer wieder Zwischenfälle gibt.

alzheimer.ch: Menschen mit Demenz haben häufig Probleme, sich zu orientieren. Als Betreuerin fahren Sie regelmässig mit Gruppen in das Seebad Baabe auf der Insel Rügen. Für die Erkrankten ist das meist ein völlig neues Terrain. Kann das gut gehen?

Helga Kretschmer: Für einige ist es am Anfang in der Tat stressig, sich zurecht zu finden. Sie wollen gleich wieder nach Hause, weil sie ihre vertraute Sicherheit und Geborgenheit vermissen. Sie haben eine beginnende Demenz und wohnen mit ihren Partnern noch in ihrer häuslichen Umgebung. Nach einiger Zeit lassen sie sich normalerweise auf die neue Umgebung ein.

In Ihren Gruppen sind vor allem Paare, von denen einer der Partner an Demenz erkrankt ist. Wie sieht der Tagesablauf aus?

Morgens um neun ist Frühstück für die Menschen mit Demenz und ihre Betreuer, die pflegenden Angehörigen frühstücken für sich. Es ist uns sehr wichtig, dass die Angehörigen Zeit für sich haben. Danach haben wir eine Betreuungseinheit, in der wir Gedächtnistraining machen, Musik hören, singen, spazieren gehen, je nachdem, was die Teilnehmer wollen.

Um zwölf trifft sich die gesamte Gruppe zum Mittagessen. Nach einer Mittagspause gibt es nachmittags ein gemeinsames Kaffeetrinken mit allen, danach ist wieder Betreuungszeit. Nach dem gemeinsamen Abendessen kann jedes Paar den Abend frei gestalten.

Darf sich ein Paar tagsüber auch mal ausklinken?

Klar, es ist doch deren gemeinsamer Urlaub. Wenn sie zu zweit eine Radtour machen wollen, sollen sie es tun. Wir bieten ein Gerüst für den Urlaub an, aber jeder kann auch individuell Pläne machen.

Die Altentherapeutin Helga Kretschmer (62) arbeitet bei der Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V.Bild PD

Für die Angehörigen ist es ungewohnt, plötzlich so viel Zeit für sich zu haben. Wie gehen sie damit um?

Einige können das sehr geniessen, endlich ein paar Stunden für sich zu haben und nicht für zwei Menschen denken zu müssen.

Andere können am Anfang nichts mit ihrer freien Zeit anfangen, sie wissen überhaupt nicht mehr, was Entspannung ist.

Da helfen dann auch mal andere Angehörige und nehmen sie zu einem Spaziergang oder einem Kaffeetrinken mit. 

Man merkt schnell, wer Kommunikationsbedarf hat und wer nicht. Auch das Hotel macht Angebote, zum Beispiel Fussreflexzonenmassagen.

Wie weit schweisst die Reise Paare zusammen?

Für viele ist es eine sehr positive Erfahrung. Die meisten sind ja früher auch schon miteinander verreist. Sie geniessen es, einen Tapetenwechsel zu haben, gemeinsam etwas Schönes zu erleben. Sie haben neue Eindrücke, Abwechslung. 

Die pflegenden Angehörigen sind sehr froh über die gemeinsame Auszeit, weil sie sich oft nicht mehr trauen, allein mit ihrem erkrankten Partner unterwegs zu sein.

Jetzt haben sie die Möglichkeit, etwas mit ihm zu erleben, gleichzeitig ist da ein Netz von Menschen, das sie auffängt, wenn etwas passiert. Oder, ganz banal: Sie können in Ruhe auf die Toilette gehen, ohne Angst haben zu müssen, dass der Partner nicht mehr vor der Tür wartet, wenn sie die Toilette wieder verlassen.

Gibt es auch Paare, die wiederholt bei Ihnen buchen?

Ja. Vor Kurzem sagte mir ein Mann, der an Demenz erkrankt ist, dass er sich schon sehr auf die nächste Fahrt freut. Ob er genau weiss, wo Rügen liegt, spielt keine Rolle.

Bei diesen Fahrten geht es ja nicht um geografische Sachverhalte, sondern um die Gefühle. Selbst wenn sich später jemand nicht mehr an die Fahrt erinnert, hat sie ihm emotional gut getan.

Rügen ist eine wunderschöne Insel. Wie weit erkunden Sie die Umgebung?

Alle zwei Tage machen wir gemeinsam einen kleinen Ausflug, das ist bei allen sehr beliebt. Wir gehen in den nächsten Ort zur Seebrücke, fahren Schiff, besuchen ein Museum. Oder wir fahren mit dem Rasenden Roland, das ist eine Schmalspureisenbahn, die mit Dampfloks betrieben wird.

Man kann dabei alle Sinne spüren, den Dampf riechen, die harten Holzbänke fühlen. Manche erinnern sich dann an die eigene Kindheit, als sie mit einem Dampfzug zu den Grosseltern gefahren sind. Für die Menschen mit Demenz ist der Zug die Eintrittskarte in die Erinnerung.

Ähnlich ist es, wenn wir das Schulmuseum in Middelhagen besuchen: Bei vielen kommen Geschichten an die eigene Schulzeit hoch, zum Beispiel an den Rohrstock ihres damaligen Lehrers.

Wir reagieren andere Touristen, wenn Sie als Gruppe unterwegs sind?

Normalerweise sehr wohlwollend. Manchmal kommt ein kleiner Scherz, weil wir im Ort natürlich schon bekannt sind, aber das ist nie verletzend. Wenn es mal eine Verhaltensauffälligkeit gibt, erklären wir kurz, was los ist.

Ist auch mal jemand auf einer Fahrt verloren gegangen?

Bis jetzt ist es nur einmal passiert, dass eine Dame für kurze Zeit verschwunden ist. Sie ist dann später bei der Polizei gelandet. Wie sie dahin gekommen ist, wissen wir nicht. Sie war nur eine Viertelstunde weg, aber eine Viertelstunde kann eine Ewigkeit sein.

Bei den Spaziergängen müssen wir als Betreuer immer sehr genau schauen, dass wir alle unsere Schäfchen beisammen haben.

Oft meinen Menschen mit Demenz, dass sie nicht begleitet werden müssen, sondern allein gehen können – aber leider stimmt das ja nicht. Glücklicherweise gibt es heute technisch gute Möglichkeiten, man kann jemanden über sein Smartphone orten.

Manche Menschen mit Demenz haben die Tendenz, nachts ihr Zimmer zu verlassen. Wie gehen Sie damit um?

Es kann durchaus passieren, dass jemand plötzlich im Schlafanzug an der Rezeption steht. Manchmal werde ich dann angerufen und muss helfen. Für Menschen mit Demenz ist es heute schwieriger, sich zurecht zu finden, weil viele Hotels keine Schlüssel mit Zimmernummer mehr haben, sondern Karten.

Wenn wir wissen, dass jemand die Tendenz hat, nachts loszugehen, treffen wir ein paar Vorkehrungen: Wir hängen zum Beispiel innen im Hotelzimmer eine Glocke an die Tür oder stellen einen Stuhl davor, so dass der Angehörige wach wird, wenn sich der Partner an der Tür zu schaffen macht.

Gruppenreisen sind anders als individuell geplante Fahrten, man muss sich als Mitreisender auf viele fremde Menschen einstellen. Was passiert, wenn sich jemand nicht in die Gruppe einsortieren möchte?

Wir hatten mal einen Mann mit Demenz, der am Vormittag immer weg aus der Gruppe wollte. Seine Frau hat ihm dann einen Brief geschrieben. Der Brief enthielt eine Verabredung, nämlich dass er vormittags in der Gruppe bleibt, da sie eine Auszeit für sich brauchte, und dass sie den Nachmittag gemeinsam etwas unternehmen. Das hat funktioniert. Manchmal muss man unkonventionelle Lösungen finden.

Sind am Ende der Reise alle Beteiligten zufrieden, oder haben Sie das Gefühl, dass manche das Ende herbeisehnen?

Wir machen am Ende immer eine Feedbackrunde, und die Reaktionen sind durchweg positiv. Viele der pflegenden Angehörigen empfinden es als grosse Erleichterung, dass ihnen Organisation und Planung abgenommen werden, sie müssen nicht einkaufen und kochen.

Man darf ja nicht vergessen, dass auch die Angehörigen älter werden und nicht mehr so belastbar sind. Sowohl die pflegenden Angehörigen als auch die Partner erleben es als positiv, dass sie nicht allein gelassen werden mit ihren Problemen und sie sich untereinander austauschen können.

Immer wieder hören wir von Teilnehmern, sie hätten sich auf der Reise anders gespürt, lebendiger als zu Hause.

Sie freuen sich, dass sie viel gelacht haben, auf andere Gedanken gekommen sind, Situationen erleben konnten, die sie überrascht haben.

Zum Beispiel?

Beim Tanzen. Da stellt sich jemand, der an Demenz erkrankt ist, plötzlich in die Mitte des Raumes und fängt an, Rock ’n’ Roll zu tanzen. Keiner hätte ihm das zugetraut. Das ist ein schönes Erlebnis. Es herrscht eine sehr lockere Atmosphäre, wir duzen uns alle, auch das schafft Vertrautheit. Diese Reisen schweissen uns alle zusammen.

Fallen einige danach zu Hause in ein Loch?

Wir bieten von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg Tagestreffs an, da gibt es Angehörigengruppen und Gruppen für Menschen mit Demenz. Dort kann man sich über seine Sorgen und Nöte austauschen. Für manche ist die Gruppenreise der Einstieg, um in einen Tagestreff zu gehen.

In dem berühmten Demenz-Film «Honig im Kopf» von Til Schweiger geht es auch um Urlaub: Die Enkelin Tilda haut mit ihrem an Alzheimer erkrankten Grossvater Amandus von zu Hause ab. Auf abenteuerlichen Umwegen kommen sie schliesslich in Venedig an. Ist das Ihrer Meinung nach eine gute Werbung für Urlaub mit Demenzkranken?

Naja, das ist natürlich alles sehr überzogen dargestellt. Ich glaube nicht, dass pflegende Angehörige durch den Film wirklich motiviert werden, mit einem erkrankten Familienmitglied in den Urlaub zu fahren. Ich habe von einigen Angehörigen gehört, dass sie den Film lustig fanden.

Andere fühlten sich verletzt, weil die Realität mit Menschen mit Demenz deutlich weniger witzig ist als im Film. Positiv finde ich allerdings, dass Til Schweiger das Thema Demenz in die Mitte der Gesellschaft geholt hat. 


Was es zu beachten gilt


Wenn Angehörige mit ihren erkrankten Familienmitgliedern in den Urlaub fahren möchten, sollten sie sich vorher genau klar machen, was die oder der Erkrankte noch kann und wie belastbar sie selbst als Angehörige sind.

Bei einer beginnenden Demenz mit leichteren Orientierungs- und Gedächtnisstörungen kann eine individuell organisierte Reise funktionieren. Ist die Demenz weiter fortgeschritten, kann man Urlaub in einem Hotel buchen, das speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen zugeschnitten ist. Alternativ gibt es betreute Gruppenreisen, bei denen oft eine tolerante Atmosphäre herrscht, weil alle Mitreisenden eine ähnliche Problemlage haben und die kritischen Situationen kennen (siehe Interview).

Je nachdem, wie weit die Demenz fortgeschritten ist, sollte man darauf achten, dass die Anreise nicht zu lang und damit für alle Beteiligten anstrengend wird. Die Eingewöhnungszeit kann mehrere Tage dauern, da Menschen mit Demenz länger brauchen, um sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen.

Vorsicht vor Reiz- und Sinnesüberflutung: Es kann sinnvoll ist sein, an einem Ort zu bleiben (zum Beispiel in der Ferienwohnung, die man schon seit Jahren kennt), anstatt Rundreisen oder umfassende Sightseeing-Programme zu planen.

Landschaften, die zur Ruhe einladen, sind unter Umständen besser geeignet als Städtereisen mit vollem Programm – zumindest, wenn die Krankheit schon weiter fortgeschritten ist. Wenn es denn doch eine Städtereise sein soll, sollte man darauf achten, zwischen den Besichtigungen längere Pausen und Ruhephasen einzuplanen.