«Pflegepersonen sind zunehmend desillusioniert» - demenzjournal.com

Gestern und heute

«Pflegepersonen sind zunehmend desillusioniert»

Krankenkassen diktieren mehr und mehr den Alltag in Spitälern und Heimen. Für die Pflegenden ist das frustrierend. Bild unsplash

Der Pflegefachmann und Historiker Michel Nadot beschäftigt sich mit Ursprung, Umfang und Wert des pflegerischen Denkens. Ein Gespräch über Traditionen, ökonomische Zwänge und Vernachlässigung.

Von Francois Taillens, SBK

Herr Nadot, erste fortgeschrittene Praktiken der Pflege habe es bereits am Ende des 18. Jahrhunderts gegeben. Erzählen Sie uns von dieser «Advanced Practice»!

Michel Nadot: Bereits bei der Entstehung von Hospitälern und der Anstellung von Ärzten Ende des 18. Jahrhunderts hatten Pflegende eine erweiterte Funktion. So wurden sie zum Beispiel im Spital Freiburg am 22. April 1778 dazu verpflichtet, an der ärztlichen Visite teilzunehmen. Und am 22. Dezember 1795 wurde die Krankenwärterin von Romont autorisiert, Medikamente zuzubereiten, zu verabreichen und ihre Wirkung zu überwachen.

Sie weisen darauf hin, dass der Kampf um die Sichtbarkeit der Pflege eng mit dem feministischen Kampf verbunden ist. Können Sie das erklären?

Die Fähigkeiten von Frauen bei der Bewirtschaftung des Lebensraumes einer Familie (Haus, Haushalt, Anwesen, Lebensraum, Gemeinschaft) werden wissenschaftlich und wirtschaftlich nicht anerkannt. Doch gerade wegen dieser Fähigkeiten wurden sie in der säkularen Wissenszeit vor 1859 im Spital eingestellt. Diese historischen Wurzeln tragen zu den Schwierigkeiten der Pflege bei, sich als Disziplin zu behaupten.

Wie sieht es mit der politischen Dimension der wissenschaftlichen Tätigkeit aus?

Vor allem die Bereiche der Ausbildung und der Wissenschaft sind davon betroffen. Das zeigt sich etwa bei der Schaffung von Fachhochschulen, der Vergabe von Forschungsmitteln durch den Nationalfonds oder durch parlamentarische Geschäfte.

Bezeichnend ist zum Beispiel das Gesundheitsberufegesetz GesBG: Darin werden spezifische wissenschaftliche Kompetenzen der Pflegefachpersonen mit keinem Wort erwähnt.

Wo ist Vorsicht geboten, wenn Medizin und Pflege Seite an Seite beim Patienten arbeiten?

Bereits bei «Seite an Seite» muss man aufpassen! Denn das Verhältnis ist nicht symmetrisch. Traditionellerweise arbeitet die Medizin am Patienten. Bei der Pflege ist es komplexer: Sie bezieht sich zwar auch auf den Patienten und sein Umfeld, aber nicht nur!

Pflegefachpersonen erbringen auch Dienstleistungen für die Institution und das Gesundheitssystem, indem sie deren Funktionieren sicherstellen, und zudem, in einer Doppelfunktion, für die Ärzteschaft. Das erklärt die Komplexität ihrer Aufgabe. Man kann sich absichern, wenn man im eigenen Denken bleibt.

Die pflegerische und die medizinische Disziplin sind nicht hierarchisch oder austauschbar, sondern komplementär. Die Medizin ist naturwissenschaftlich orientiert, die Pflege orientiert sich am Menschen und den Sozialwissenschaften. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles durcheinanderbringen und so unsere Energie verschwenden.

Wann taucht in der Schweiz eine pflegerische «Disziplin» auf?

Es gibt keinen Zeitpunkt T, an dem sie spontan erscheint. Nach einer langen Phase, während der sie unter der Oberfläche keimte», tauchen ab den 1980er Jahren erste Anzeichen in der Sprache auf.

Nach jahrelangem Streit mit dem Schweizerischen Roten Kreuz über die Anforderungen an die Ausbildungsniveaus gab es ab 1994 erste HF-Ausbildungen in der Westschweiz, die 2002 zu Fachhochschulen wurden. Wie andere Disziplinen fordern die Pflegewissenschaften eine Ausbildung auf Hochschulniveau.

Ende März hat das Parlament die pflegerische Autonomie anerkannt. Was denken Sie dazu?

Es ist ein Schritt nach vorne, wenn man dabei von der Autonomie des Denkens redet. Es war inakzeptabel, dass die Grundpflege, also die Grundlagen der Disziplin Pflege, nur dann von den Krankenkassen finanziert wird, wenn sie ärztlich verschrieben wird. Pflegerische Autonomie heisst, das eigene Wissen zu schaffen, auf der Basis von wissenschaftlicher Forschung, mit der Orientierung.

Das Gesundheitssystem ist vielen Turbulenzen und zunehmenden ökonomischen Zwängen ausgesetzt. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft des Pflegeberufs?

Es besteht die Gefahr, dass sich Pflegestudierende angesichts der ökonomischen Zwänge im Gesundheitswesen, die oft die Besonderheiten der Disziplin nicht berücksichtigen, von diesem grossartigen Beruf abwenden.

Die Pflegefachpersonen sind von der Realität im Alltag zunehmend desillusioniert. Er ist Zwängen unterworfen, die insbesondere von den Krankenkassen diktiert werden. Die Grundsätze der Disziplin Pflege werden dabei völlig ignoriert.


→ Hier geht's zu Michel Nadots Buch «Discipline of Nursing» (in Englisch und Französisch erschienen).

Dieser Beitrag erschien im Frühjahr 2021 in der SBK-Zeitschrift Krankenpflege. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.