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Der Befreiungsschlag kam mit der Post

Margrith Lutz wurde 1955 von den Behörden administrativ in der Wetziker Anstalt Pfrundweid versorgt. Bild PD/Wetzipedia

Margrith Lutz wurde 1955 in Wetzikon administrativ versorgt. An ihrem 100. Geburtstag erhielt sie 25'000 Franken aus dem Solidaritätsfonds des Bundes. Diesen Betrag wollte die Stadt Zürich nach ihrem Tod wieder einziehen. Lutz' Enkelin wehrte sich erfolgreich dagegen.

Von Fabia Bernet, züriost

Über die Geschichte eines vergessenen Lebens haben wir vor nicht allzu langer Zeit berichtet. Eine Geschichte über das Leben von Margrith Lutz, die 1955 von den Behörden administrativ in der Wetziker Anstalt Pfrundweid versorgt wurde. Eine Geschichte über ein Leben, das 65 Jahre später am selben Ort, der heutigen Sonnweid, endete.

Im Alter von 100 Jahren erhielt Lutz, zwei Jahre vor ihrem Tod, 25’000 Franken aus dem Fonds, der vom Bund für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen errichtet wurde. Kurz nach Margrith Lutz’ Tod, erhielt ihre Enkelin, Marlies Bächtold*, ein Schreiben des Amtes für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich.

Die Zuschüsse für die Pflegekosten würden sich auf 151’669 Franken belaufen. Diese Schulden sollten nun mit dem übriggebliebenen Erbe, in dem auch der Betrag aus dem Solidaritätsfonds inkludiert ist, beglichen werden.

Abgeschoben

Die Geschichte eines vergessenen Lebens

Margrith Lutz landete 1955 in der Wetziker Anstalt Pfrundweid – durch eine administrative Versorgung, von den Behörden angeordnet. 65 Jahre später verstarb sie dort. Sie teilte … weiterlesen

Bächtold wurde stutzig. Behörden versorgen ihre Grossmutter erst administrativ, dann bezahlen sie ihr deswegen als Wiedergutmachung 25’000 Franken, fordern aber genau dieses Geld kurz nach ihrem Tod wieder ein? Ob das überhaupt rechtens sei, fragte sie sich und gelangte an das Bundesamt für Justiz. Dort wurde ihr empfohlen, die Angelegenheit weiterzuziehen, was sie auch tat.

Akten seien hin und her geschoben worden, sagt Bächtold. «Ich habe mich immer wieder bemerkbar gemacht.» Im Oktober erhält sie ein Schreiben des Amtes für Zusatzleistungen. Darin steht, dass der Solidaritätsbeitrag im Nettonachlass neu berücksichtigt wird. Die 25’000 Franken bleiben erhalten, der Sohn, Bächtolds Vater, und dessen Schwester, erben das Geld.

Obwohl es ihr nicht um das Erbe per se gegangen sei, ist Bächtold erleichtert, dass die Geschichte ein solches Ende genommen hat. «Wirklich damit gerechnet habe ich aber nicht.»

Wie kam es zu dieser Kehrtwende?

Wenige Tage nachdem die erste Geschichte über Margrith Lutz im Zürcher Oberländer publiziert worden war, meldete sich das Amt für Zusatzleistungen bei der Redaktion. Es wurde nach dem Artikel gefragt und ob dieser per Mail nach Zürich geschickt werden könnte.

«Wir haben eine Anfrage von einer Privatperson erhalten, die um eine Stellungnahme bittet», lautete die Begründung. Auch für einige nicht involvierte Personen scheint also der Akt der Rückforderung des im Erbe inkludierten Solidaritätsbetrages nicht nachvollziehbar gewesen zu sein.

Zum konkreten Fall könne sie aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Stellung nehmen, sagt Nicole Mylonas, Direktorin des Amtes für Zusatzleistungen. Einblick darin, wie das Amt grundsätzlich in solchen Fällen agiert, gibt sie dennoch.

«Wir vom Amt für Zusatzleistungen sind eine ausführende Stelle. Wir müssen uns an die gesetzlichen Grundlagen halten.» Dies sei sehr einschränkend.

Auf persönliche Schicksale und Situationen könne man nicht individuell eingehen. Natürlich suche man immer nach einer sozial verträglichen Lösung.

«Diese muss aber immer im Rahmen des Gesetzes sein.» Besonders im Bereich der Rückforderungen, zum Beispiel wenn es darum gehe, Pflegekostenzuschüsse zurückzuzahlen, sei das kantonale Gesetz sehr eng ausgelegt und ein Verzicht auf eine Rückforderung eigentlich nicht möglich, so Mylonas.

Die Mitarbeitenden vom Amt für Zusatzleistung hätten keine Ahnung, ob im angegebenen Vermögen ein Beitrag aus dem Solidaritätsfonds inkludiert sei, wenn das der Rentner oder dann die Nachkommen der Verstorbenen nicht meldeten. «Grundsätzlich sehen wir einfach das Gesamtvermögen – und nicht, wie es zusammengesetzt ist.»

Bis vor kurzem hätte das aber keinen Unterschied gemacht, denn per Gesetz hätte auch der Solidaritätsbetrag zum Vermögen gezählt. «Bislang hiess es, dass dieser Betrag zum Vermögen dazugerechnet werden darf», sagt Mylonas.

«Wir fanden aber schon immer, dass der Bund das nicht so gemeint haben kann. Die Anrechnung des Solidaritätsbeitrages an das Vermögen könnte eine Kürzung der Ergänzungsleistungen im Einzelfall zur Folge haben, was ja tatsächlich nicht sein kann.»

Dieser Missstand ist auch dem Schweizer Parlament aufgefallen. Am 20. Dezember 2019 hat es einen Änderungsantrag angenommen, der am 1. Mai 2020 in Kraft trat. Die Änderung im Bundesgesetz besagt, dass ein Solidaritätsbetrag nicht mehr dem übrigen Vermögen angerechnet wird. Auch Anrechnungen in den Ergänzungsleistungen, die bereits erfolgt sind, werden rückwirkend korrigiert.

Schon bevor diese gesetzliche Änderung überhaupt in Kraft getreten ist, habe das Amt für Ergänzungsleistungen in Zürich nach diesem Muster agiert. «Wir haben den Beitrag schon vorher nicht an das Vermögen angerechnet, wenn wir davon wussten», sagt Mylonas.

«Das war zwar nicht gesetzeskonform, aber wir wussten und hofften, dass das bald gesetzlich angepasst wird, beziehungsweise sich Rentner und Rentnerinnen diesbezüglich auf gerichtlichem Weg die nun geltende Rechtsgrundlage erstritten hätten.»  

Doch egal, ob es nun gesetzlich oder nach eigenem Gutdünken geregelt ist, die Betroffenen müssen sich selbst beim zuständigen Amt melden.

«Wir arbeiten so genau wie möglich, aber wir können nicht jedes Vermögen genau unter die Lupe nehmen und selbst merken, ob jemand einen solchen Beitrag erhalten hat», sagt Mylonas.

Mylonas sagt, dass das Amt in Rückforderungsfällen im Rahmen der Pflegekostenzuschüsse das kantonale Gesetz grosszügig ausgelegt habe und dies auch künftig tun werde. «In der Regel wird der Betrag von 25’000 Franken dem Nachlass zugerechnet, da häufig auch Nachkommen direkt von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ihrer Vorfahren betroffen sind.»

Es war also richtig, hier beim Amt nachzuhaken und nicht einfach zu nicken und zu bezahlen. Dieser Schritt war wichtig für sie. Mit dem Erhalt des Geldes endet für Marlies Bächtold ein Kapitel. Für sie heisst das nun, dass ihr Amt als Erbvertreterin erledigt ist. «Jetzt kann ich einfach nur noch Enkelin sein. Nun habe ich Zeit, mich an die lustigen Momente mit meinem Grosi zu erinnern und mich auf mein Leben zu konzentrieren.» 


* Name von der Redaktion geändert

Fabia Bernet ist Redaktorin bei züriost. Herzlichen Dank für die Gelegenheit zur Zweitverwertung dieses Beitrags.