Eine Worthülse, die wir füllen müssen - demenzjournal.com

Wertschätzen

Eine Worthülse, die wir füllen müssen

Die Mitarbeitenden wünschen sich, als Personen mehr wertgeschätzt zu werden. Aber was meinen wir damit? Welche Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen haben wir? Weshalb wird Wertschätzung so unterschiedlich erlebt? Bild Véronique Hoegger

Wer Menschen mit Demenz pflegt, soll bedingungslos annehmen und wertschätzen. Möglicherweise sind die Ansprüche von Pflegenden an ihre Arbeitgeber deswegen besonders hoch.

«Bin ich der Schlafsack meiner Seele?» Auf diese vom Schweizer Künstlerduo Peter Fischli/David Weiss gestellte Frage gibt es vermutlich ähnlich viele Antworten, wie wenn ich Sie frage: «Was bedeutet für Sie Wertschätzung?»

Vor Jahren entwickelten Peter Dolder und ich als Wohngruppenleiter eine Idee: Wir wollten über der Haustür zwei grosse, kuschelige, rosa Fellhandschuhe befestigen. Sie sollten jedem Mitarbeitenden bei Arbeitsbeginn und -ende den Kopf streicheln. Als Dank für sein Kommen und sein geleistetes Werk – im Sinne von Wertschätzung, denn davon können wir ja nie genug bekommen.

Natürlich war diese Idee mit einem Augenzwinkern verbunden, aber sie trifft den Kern. Jahre später versuchten wir, diesen unscharfen Begriff klarer zu definieren, und gelangten zu folgenden Schlüssen:

Wertschätzung, wertschätzende Haltung und wertschätzendes Handeln sind abstrakte Worthülsen, die wir füllen wollen. Auch die mit Wertschätzung verbundenen Begriffe wie Respekt, Wohlwollen, Achtung umschreiben eine innere allgemeine Haltung und bedürfen weiterer gemeinsamer Klärung.

Die Suche nach Definition, Klärung und einem gemeinsamen Verständnis kann auf vier Ebenen betrachtet werden:

  1. Grundannahmen zum Menschsein, persönliche Prägungen, anthropologische, erkenntnistheoretische und ethische Annahmen zur menschlichen Existenz
  2. Basistheorien, die unserem Tun zu Grunde liegen
  3. Prinzipien, die das professionelle Handeln leiten
  4. das TUN, das Handeln

Der Mensch als individuelles und soziales Wesen

Aus der ganzheitlichen Sicht auf den Menschen gehören zum Individuum alle Gefühlsregungen und deren Auswirkungen: Liebe und Hass, Demut und Hochmut, Grosszügigkeit und Missgunst, Vertrauen und Misstrauen, Freude und Ärger, Gestaltung und Zerstörung, Miteinbeziehen und Konkurrenzdenken, Solidarität und Machtgelüste, Humor und Zynismus usw.

Prägend sind biologisch-genetische Ausgestaltungen, das familiäre Umfeld und das soziale und kulturelle Umfeld.

Dies führt – gemeinsam mit der ganzheitlichen Sicht auf das Menschsein – zu mehr oder weniger Beengung.

Beengung und Freiraum wird immer subjektiv und individuell erlebt. In unserem Verständnis gehört zum Menschen genauso die Lust nach Nichtstun und Konsum – wie die Lust am Agieren und sich kreativ zu entfalten.

Der Mensch kann nicht immer von einer bedingungslosen Mutterbeziehung ausgehen, was nicht unweigerlich zu «pathologischem» Verhalten führt, da Beziehungsfähigkeit auch lebenslang weiterentwickelt wird.

Diskussionsidee


Einleitung zum persönlichen Menschenbild
Erfahrungen, Menschen, Bücher, Filme und Bilder haben uns geprägt und auf den Weg gebracht, den wir heute verfolgen. Es gibt allgemeine Annahmen, die umschreiben, «was der Mensch ist». Jede und jeder denkt zwar anders darüber — und doch finden wir in den Berufsgruppen oft ähnliche Vorstellungen zu dieser Frage.

Einzelaufgabe: Stelle dir eine Linie vor, die deinen Lebensweg darstellt, zeichne auf der Linie prägende Menschen, Situationen und Dinge ein, die dich zu der Berufsperson gemacht haben, die du heute bist.

Aufgabe in kleinen Gruppen: Bitte erläutert kurz eure Bilder und diskutiert dann eure Überlegungen zu den folgenden Fragen. Schreibt zu den Sätzen eine Stellungnahme auf Blätter.

Gruppe gelb

  • Wie frei und unabhängig ist der Mensch?
  • Wie rational oder emotional ist der Mensch?

Gruppe blau

  • Wie lernt, entwickelt sich der Mensch? Genetik, Soziales Umfeld, Erziehung…
  • Wie erfährt der Mensch Sinn im Leben?
  • Was gibt dem Menschen Sinn im Leben?

Gruppe grün

  • Was bedeutet Arbeit für den Menschen?
  • Wie wichtig ist das soziale Umfeld für den Menschen?


Im beruflichen und institutionellen Kontext bedarf es einer vertieften Begriffsklärung, eines Bildungsprozesses und einer Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Beteiligten — zum Beispiel den Leitbildprozess. Dabei können sich die Beteiligten auf einen grösstmöglichen gemeinsamen Nenner einigen und diesen definieren.

Die persönlichen Annahmen, Denkweisen, Einstellungen und Ansichten sind individuell handlungsleitend  durch die gemeinsame Definition, was wir als Organisation für Grundannahmen haben, erhalten sie eine Verbindlichkeit. 

Zum Beispiel: Der Mensch will sich und seine Mitwelt verstehen. Der Mensch braucht Respekt und Wertschätzung seiner Existenz. Da ist er wieder, der Begriff «Wertschätzung»!

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Theorien, Pflegemodelle und Prinzipien

Im Pflegealltag von Menschen mit Demenz basieren etliche Theorien, Konzepte und Pflegemodelle auf einem humanistischen Menschenbild. Unter anderem der personenzentrierte Ansatz nach Kitwood, Kommunikationskonzepte wie Validation nach Feil, Basale Stimulation, reaktivierende Pflege nach Böhm, Palliative Care.

All diese Konzepte haben eine ganzheitliche Sicht auf die Person und verstehen die bedingungslose Annahme und Wertschätzung des Menschen als Grundlage ihrer Arbeit.

Wertschätzendes Handeln

Die Diskussionen in verschiedenen Teams zeigen: Aus Sicht vieler Mitarbeitender herrscht ein Ungleichgewicht zwischen der Forderung nach einer wertschätzenden Haltung und dementsprechendem Handeln im Pflege- und Betreuungsalltag und dem, was wir durch unsere Vorgesetzten und Arbeitgeber erfahren.

Befragungen der Mitarbeitenden zeigen, dass die pünktliche Lohnzahlung, ein 13. Monatslohn, saubere Arbeitskleidung, ein sicherer und gut gestalteter Arbeitsplatz, attraktive Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, garantierte Freitage, fünf Wochen Ferien, variantenreiche Verpflegung, vergünstigte Wellnessangebote, Personalausflüge, Team-Essen, Pausen- und Ruheräume usw. selten als Form der Wertschätzung von Seiten des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmenden erlebt werden.

Gute Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz scheinen eher selbstverständlich zu sein.

Die Mitarbeitenden wünschen sich, als Personen mehr wertgeschätzt zu werden. Aber was meinen wir damit? Welche Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen haben wir? Weshalb wird Wertschätzung so unterschiedlich erlebt?

So geht Wertschätzung am Arbeitsplatz:

Definition

Zufriedenheit (im Beruf) ist kompliziert

Wer Anerkennung bekommt, bleibt seiner Stelle und seinem Beruf länger treu. Doch wie funktioniert Wertschätzung am Arbeitsplatz? Wie können wir die Treue von … weiterlesen

Ein möglicher Erklärungsansatz

In der Arbeit mit Menschen mit Demenz folgen wir dem Prinzip: Wir bringen dem Menschen bedingungslose positive Wertschätzung entgegen. Dies erfordert Verlässlichkeit, Empathie und Kongruenz und hat zum Ziel, die Person in ihrem Sein zu stärken, um daraus Zuversicht, Lebensfreude und Energie zu beziehen.

Wir tun dies mit Achtsamkeit, wenden uns dem Menschen ganz zu, begegnen ihm auf Augenhöhe, hören interessiert und aktiv zu, sind ganz präsent im Moment, arbeiten zusammen, geben Hilfestellung, falls nötig.

Wir verzichten auf Konfrontieren, Zurechtweisen, Belehren, Überfordern, Verkindlichen usw. Die häufig empfundene Diskrepanz bis hin zum Gefühl der Geringschätzung von den Mitarbeitenden in Verbindung mit dem oberen Kader könnte mit der Bedingungslosigkeit zu tun haben.

Ein Arbeitsverhältnis ist kein therapeutisches Setting und somit nicht bedingungslos.

Eine wertschätzende Arbeitsbeziehung gelingt, wenn beide Seiten ihre Rolle und Aufgaben bestmöglich erfüllen, ihr Tun reflektieren und die Rahmenbedingungen immer wieder neue kreative Möglichkeiten zulassen und fördern.

Offene und klärende Gespräche helfen, sich der persönlichen Annahmen und Überzeugungen bewusst zu werden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, manchmal ist auch eine klare Trennung zwischen privaten und beruflichen Überzeugungen nötig.

Zum Beispiel, wenn ich als Veganerin einem Bewohner Fleisch koche oder als tiefgläubige Christin einem verheirateten Bewohner Unterstützung gebe für den Besuch einer Berührerin.

Mit Händeklatschen und Dankesagen ist es aber auch nicht getan.

Die guten Rahmenbedingungen, der intensive Austausch und verbindliche Vereinbarungen helfen, dass Wertschätzung nicht nur eine Worthülse bleibt. Und vielleicht installieren wir trotz allem die kuscheligen rosa Fellhandschuhe.